Professoraler Unsinn

Zwei Skandale am Stück. Eine Falschaussage – und keiner schaut hin.

Martin Ackermann ist nicht irgendwer. Er ist Leiter der «National COVID-19 Science Task Force», Professor für Mikrobiologie.

In dieser Funktion ergriff er zu Bern an der offiziellen Corona-Medienorientierung, dem Vorläufer des heutigen Bundesratsentscheid zur zweiten Welle, das Wort. Was er sagte, ist so unglaublich, dass ich es anhand mehrerer Quellen verifizierte:

«Wir haben mehr Hospitalisierungen und Todesfälle als im März.»

Das sagt der höchstrangige Wissenschaftler der Schweiz, der Leiter einer Wissenschafts-Eingreiftruppe, die speziell geschaffen wurde, um den Bundesrat wissenschaftlich zu unterstützen. Also sicher einen nicht unwesentlichen Einfluss auf die Entscheidungen des fachfremden Gesundheitsministers Alain Berset hat.

Die Aussage ist falsch. Doppelt falsch

Aber: Diese Aussage ist nicht richtig. Sie ist falsch. Sie ist zweimal falsch. Es gibt zwar tatsächlich deutlich mehr positiv Getestete als im März. Aber ob das auch Infizierte sind, ob sie symptomlos bleiben oder erkranken, ob sie ansteckend werden oder nicht, das kann man bis heute noch nicht sagen.

Dabei wären das die wichtigen Angaben, statt die von der Anzahl Tests abhängige und absolut völlig aussageloser Zahl positiv Getesteter, die das Virus haben, bzw. hatten, denn auch auf Reste des vom Immunsystem besiegten Virus schlägt der Test an, der deswegen von seinem Erfinder ausdrücklich als nicht geeignet für Tests bezeichnet wurde.

Nach wie vor wird darauf verzichtet, die Anzahl der Genesenen aus den Fallzahlen herauszurechnen, ebenso, was den weiteren Verlauf der Infektion bei positiv Getesteten betrifft.

Grobe Irreführung der Öffentlichkeit

Aber das ist ein Nebenschauplatz im Vergleich zu dieser groben Irreführung der Öffentlichkeit. Kurz die aktuellen Statistiken:

Man sieht: Die Anzahl der Hospitalisierungen ist deutlich niedriger als im März dieses Jahres, die Zahl der Todesfälle ist sogar signifikant deutlich niedriger. Das ist keine Erfindung, das sind offizielle Statistiken, auch mehrfach verifiziert.

Wenn nun ebendiese Taskforce, im Chor mit anderen Wissenschaftlern, die sich auch kurz in der Wärme der öffentlichen Aufmerksamkeit sonnen wollen, drastische Massnahmen fordert und das auf solche Falschaussagen abstützt, dann wird’s wirklich bedenklich.

Zahlen für den nächsten Lockdown

Ackermann fuhr dann fort:

«Aber wir reagieren nicht gleich. Die Bewegungsdaten zeigen, dass wir unsere Mobilität nicht genug zurückfahren.»

Das ist nun professoral zurückhaltend formuliert, was andere Wissenschaftler viel direkter ansprechen: «Wir brauchen einen neuen Lockdown», schallt es aus Genf herüber. Brauchen wir den wirklich?

Ich bin kein Wissenschaftler, daher kann ich diese Frage nicht beantworten, diese Forderung auch nicht unterstützen. Aber ich kann Statistiken lesen. Wenn diese Forderung aufgrund solcher Behauptungen aufgestellt wird, ist das beunruhigend.

Es ist beunruhigend, dass damit der oberste Schweizer Wissenschaftler das Renommee, die Reputation, die Glaubwürdigkeit seiner Zunft, die sowieso schon nicht unbestritten ist, weiter beschädigt.

Was ist schlimmer als eine Falschaussage von höchster Warte?

Aber es ist noch schlimmer. Die geballte Fachkompetenz der Vierten Gewalt, der Qualitätsmedien, der Warner und Ratgeber aus den Leitmedien, aus dem Duopol Tamedia und CH Media, haben sicherlich die Alarmsirene erschallen lassen und auf diese grobe Falschaussage aufmerksam gemacht?

Nein, nichts, keine Reaktion, Sendepause. Ruhe im Land.

Während sich politisch eine Kakophonie abspielt, ist eine solche Falschaussage nicht zu überschätzen.

Denn: Aufgrund welcher Informationen, Statistiken, Prognosen treffen Kantons- und Bundesregierung ihre Entscheidungen? Welche Rolle spielen dabei wirtschaftliche Überlegungen, die jede Krankenkasse bei der Abwägung der Verhältnismässigkeit bei jeder Therapie machen muss, wozu selbstverständlich auch eine Kosten-Nutzen-Rechnung gehört?

Vorläufig noch kein Lockdown, aber …

Wenn aufgrund solcher Falschinformationen vom Bundesrat die ganze Wirtschaft und Gesellschaft betreffende, möglicherweise drakonische Massnahmen beschlossen werden, befinden wir uns dann nicht weiterhin im Blindflug, ohne Kompass, ohne verlässliche Kartographie?

Erschütternd ist, dass niemand, keiner, kein Einziger der unermüdlichen Kommentatoren, Ratgeber, selbsternannten Corona-Spezialisten, die sich sonst nicht scheuen, den in Regierungsverantwortung Stehenden grob an den Karren zu fahren, ihnen Zögerlichkeit, Fahrlässigkeit, ja Unfähigkeit vorwerfen, auf diesen Skandal nicht reagieren. Das legt die Vermutung nah: so sattelfest sind sie gar nicht in ihren Kenntnissen, deshalb haben sie diese Falschbehauptung klaglos geschluckt.

Immerhin hat der Bundesrat von einem neuerlichen künstlichen Koma von Gesellschaft und Wirtschaft abgesehen. Aber bei diesen Wissenschaftlern beschleicht einen das üble Gefühl: Das wird nicht gut enden.

«Die Schweiz braucht einen Lockdown»

Fordert eine mediengierige Virologin, macht der «Blick» zum Aufmacher.

Wenn man aus fernerer Zukunft auf die Pandemie und das Jahr 2020 zurückblickt, wird man unabhängig von allen Meinungen, Positionen, Analysen in einem Punkt übereinstimmen: Die Unfähigkeit der Massenmedien wurde nur durch die Unfähigkeit der Wissenschaftler übertroffen. Die Regierenden können sich irgendwo dazwischen einreihen.

Schreiten wir zur Beweisführung. Isabella Eckerle leitet seit 2018 die Abteilung Infektionskrankheiten an den Universitätskliniken in Genf. Sie habe zuvor mit dem «deutschen Virologen-Star» Christian Drosten zusammengearbeitet.

Dadurch über alle Massen qualifiziert, findet es Eckerle dem Ausmass ihrer Forderung angemessen, sie als Tweet abzusetzen. Das limitiert sie nun ein wenig in der Ausführlichkeit von Forderung und Begründung.

Schauen wir uns doch diese geballte, konzentrierte Fachkompetenz im Original an:

Falls nicht dringlich ein erneuter Lockdown ausgerufen wird, kämen wir nicht durch den Winter, ohne «eine enorme Anzahl von Todesopfern und ohne gewaltigen wirtschaftlichen Schaden».

Kleine Widersprüche in der Kakophonie

Das widerspricht ein kleines bisschen der Einschätzung des Schweizer Star-Virologen Marcel Salathé, der noch vor Monatsfrist die Lage als sehr, sehr gut bezeichnete. Diese Forderung, der Schweiz zumindest nochmals gewaltigen wirtschaftlichen Schaden zuzufügen, widerspricht auch ein wenig dem Chemie-Nobelpreisträger Michael Levitt, der die Wirkung von Lockdowns schon von Anfang an bezweifelte.

Ein zweiter Lockdown widerspricht auch ein wenig der fundamentalen Kritik am «gescheiterten» schwedischen Sonderweg, wo aktuell nichts für einen zweiten Lockdown spricht. Der auch eigentlich der erste wäre.

Öffentliche Erregungsbewirtschaftung von ansonsten Unbekannten

Damit sind auch interessante Fragen wie die, dass drakonische Massnahmen in Spanien genau nichts nützten, während vergleichbare Einschränkungen in Südkorea erfolgreich waren, weiterhin unbeantwortet. Aber wir wollen hier keinesfalls noch unser Urteil darüber abgeben. Wir halten nur fest: Sobald man zwei Virologen oder Epidemiologen für länger als 30 Minuten in einen Raum sperrt, kommen sie mit drei verschiedenen Meinungen wieder heraus.

Gut, dass es da die vierte Gewalt gibt, die als Filter zwischen dieser wissenschaftlichen Kakophonie dienen muss, zudem alle weiteren Informationen zur Verfügung stellen, damit sich der Leser eine eigene Meinung bilden kann. Soweit die Theorie. In der Praxis haben die beiden grossen Medienkonzerne Tamedia und CH Media, ergänzt durch den «Blick», bereits klar Position bezogen.

Die Warnungen der Wissenschaftler sind todernst zu nehmen, wer dem widerspricht, ist ein Corona-Leugner oder sonstwie krank, und die Regierung zu Bern soll endlich mal den Finger aus einem dafür nicht vorgesehenen Körperteil nehmen und handeln.

Solche Warnungen brauchen wir so dringend wie einen Tritt in den Unterleib

Diese ganze Haltung, daran kommt nicht vorbei, hat etwas zutiefst Masochistisches. Man möchte gequält werden und dafür sogar noch Geld ausgeben. Natürlich nicht sofort und aus dem eigenen Sack, sonst wäre die Zustimmung vielleicht nicht so gross. Aber wenn der erste Lockdown mit allen Folgewirkungen bislang so rund 100 Milliarden gekostet hat, wie viel wird dann ein zweiter kosten? Wenn man berücksichtigt, dass es viele KMU, viele Kurzarbeiter gibt, die sich bislang nur noch knapp über die Runden schleppen konnten, hat man eine ungefähre Ahnung, wie dringend die Schweiz einen neuen Lockdown braucht.

Ungefähr so dringend wie eine weitere Meinung in der Kakophonie der Expertensprüche. So dringend wie eine Wiederholung des Alarmismus, dass es unerträglich viele Todesopfer geben wird, sollte Wirtschaft und Gesellschaft nicht sofort wieder ins Wachkoma geschickt werden.

Lockdown per Tweet? Das würde sich nicht mal Trump trauen

Oder sagen wir so: Eine Wissenschaftlerin, die diese Bezeichnung verdient, stellt ganz sicher nicht per Twitter eine dermassen einschneidende Forderung auf. Es reicht schon, wenn selbsternannte Wissenschaftler in den Medien in Regierungsverantwortung Stehende mit ungebetenen Ratschlägen belästigen. In der wohligen Gewissheit, dass diese Journalisten noch nie auch nur den Hauch einer Verantwortung für ihre Werke übernehmen mussten.

Unerhört! – im falschen Film?

So geht Pluralismus in der Meinungsbildung.

Am Freitag war die Premiere des Dokumentarfilms «Unerhört!». Gedreht hat ihn Reto Brennwald, immer noch bekannt als «Arena»-Dompteur.

Es sei ihm um eine anwaltschaftliche Perspektive gegangen, stellt er klar. Eigentlich hat er jedoch eine viel bessere Begründung. Nachdem er selbst in der Beurteilung der getroffenen Massnahmen, im Widerstreit der Meinungen immer unsicherer geworden ist, machte er das, was er kann: einen Film.

Dass man das speziell hervorheben muss, ist schon ein Armutszeugnis für den Elends-Journalismus der heutigen Tage.

Allgemeine Verunsicherung kocht hoch

Selbstverständlich gibt es auch seriöse Quellen zur Thematik, selbstverständlich kann jeder in Eigenverantwortung entscheiden, was und in welchen Dosen er zum Thema Corona zu sich nehmen will, wie Comedian Stefan Büsser zum Missfallen von Teilen des Publikums bei der Podiumsdiskussion richtig festhielt.

In der Kakophonie der veröffentlichten Meinungen kocht eine allgemeine Unsicherheit, Angst, Zukunftsangst hoch, bis hin zu den üblichen Dummheiten über Weltverschwörung, dunkle Mächte im Hintergrund.

Voller Saal bei der Premiere des Dokumentarfilms

Wie gross das Bedürfnis nach anderen Blickwinkeln ist, zeigte sich daran, dass die Samsung-Halle in Dübendorf voll war – so voll, wie es unter den aktuellen Corona-Massnahmen möglich ist. Bei 950 Teilnehmern regelten die Veranstalter den Ticketverkauf ab. Es erscheint aber durchaus möglich, dass sogar die maximal 5000 Plätze hätten gefüllt werden können.

Veranstaltet wurde der Anlass von coronadialog.ch. Das ist eine Plattform, die vom Unternehmer Marcel Dobler (Digitech) ins Leben gerufen wurde. Das Publikum war, um es höflich auszudrücken, animiert und emotional. Es wurde geklatscht und bravo gerufen, wenn im Film von den Protagonisten heftige Kritik an der offiziellen Corona-Politik geübt wurde.

Es wurde gepfiffen und gebuht, wenn andere Meinungen vertreten wurden, so vom ehemaligen «Mister Corona» Daniel Koch. Der kam nicht nur im Film vor, sondern wagte sich anschliessend bei der Podiumsdiskussion in die Höhle der Bettvorleger-Löwen.

Brennwalds Erfahrung als Moderator

Hier konnte Reto Brennwald seine ganze Erfahrung als Moderator ausspielen, das war auch dringend nötig. Denn auf dem Podium war eine gut ausgewählte Gruppe versammelt: Daniel Koch, Hans-Ulrich Bigler, Chef des Gewerbeverbandes, Stefan Büsser, Comedian, der sich wie Marco Rima schon pointiert geäussert hatte, und Christoph Schmidli, Hausarzt.

Das Dokumentarfilmerglück wollte es, dass Brennwald den Film Ende September fertiggestellt hatte; er umfasst die Aktualität bis Ende August, als sich die Indikatoren der Pandemie auf einem sehr niedrigen Stand eingepegelt hatten. Er greift in die Debatte ein zu einem Zeitpunkt, als wieder die gleiche Stimmung herrscht wie vor dem ersten Lockdown.

Aus den Reaktionen des Publikums kann man schliessen, dass kaum Zuschauer anwesend waren, die sich ohne feste Meinung einfach mal über eine andere Sicht informieren wollten. Dadurch bekam der Abend etwas Selbstreferenzielles. Ein – im Übrigen auf hohem Niveau gedrehter und geschnittener – Film liefert Bestätigung in Bild und Ton, mit Protagonisten und Antagonisten, mit Fragen und Zahlen.

Weiterhin kindisches Niveau der Debatte

Dass wie zu erwarten war in vielen Medien seine Einseitigkeit am Tag danach kritisiert wurde, zeugt vom weiterhin in weiten Teilen kindischen Niveau der Debatte. Ebenso, dass trotz wiederholter Bitten der Veranstalter, sich an die Vorschriften zu halten, kleinere Teile des Publikums demonstrativ ihre Mundmasken auszogen. Was natürlich wie gewünscht entsprechendes Bildmaterial für Kritiker des Abends lieferte.

Auch während der Podiumsdiskussion zeigte sich, dass zumindest ein harter Kern der Anwesenden keinesfalls an einem Dialog interessiert ist. Reto Brennwald musste mehrfach seine ganze Erfahrung und Autorität einsetzen, um Daniel Koch zu ermöglichen, fertigzusprechen.

Da benahm sich ein Teil des Publikums wie Donald Trump bei der ersten TV-Debatte mit Joe Biden. Auch die abschliessende Fragerunde aus dem Publikum zeigte das ganze Spektrum von Besorgnis, Verunsicherung und aggressiver Kritik an den Massnahmen und natürlich an Daniel Koch. Für einmal wirkte hier sogar seine unerschütterlich ruhige Art nicht einschläfernd, sondern etwas beruhigend.

Zum Beispiel die frühere Stimme des Volkes, der «Blick»

Und nun? Nachdem wir das dumme Gewäffel des Tagi-Chefredaktors schon abgehandelt haben, nehmen wir heute den «Blick». Der Oberchefredaktor Christian Dorer hat eine klare Meinung: «Handeln! Sie! Jetzt!» Moderndeutsch mit drei Ausrufezeichen garniert. Denn: «Eine Katastrophe wäre es, wenn die Menschen auf den Gängen der Spitäler sterben würden.»

Mit solchen Szenarien wurde die Bevölkerung schon vor dem ersten Lockdown geschreckt. Und wie sieht die Berichterstattung über den Event in Dübendorf aus? «Ausgebuhter Mister-Corona Koch und nicht überall Masken bei Premiere von «Unerhört!»: Corona-Skeptiker haben ihren grossen Abend».

Schon an diesem Titel sieht man, dass die Debatte weiterhin aus dem Schützengraben heraus geführt wird. Da ich selbst anwesend war, frage ich mich, an welchem Anlass denn die «Blick»-Journalisten waren.

Brennwald und coronadialog sind schon einen Schritt weiter

Denn was man auch immer von diesem Dokumentarfilm und den Reaktionen des Publikums halten mag: Hier sind die Veranstalter von coronadialog.ch und Reto Brennwald eindeutig einen Schritt weiter: Sie bringen schlichtweg eine andere Sicht ein, und vor allem: sie wollen Dialog, Diskussion, Meinungsbildung im Austausch von Argumenten. Ein kleiner Teil des Publikums wollte das nicht. Die Duopolmedien in der Schweiz, CH Media und Tamedia, sowie der «Blick» wollen das auch nicht.

Übrigens, wer sich selber eine Meinung bilden will: Noch an diesem Abend hat sich Reno Brennwald entschieden, am Montag den Film auf YouTube zu stellen, wo ihn sich jeder gratis anschauen kann.

Lololo, Lockdown

Wie ein Begriff seinen zweiten Frühling im Herbst erlebt.

Im Kampf um die Lufthoheit in der öffentlichen Debatte sind Begrifflichkeiten entscheidend. «Coronaleugner» als Sammelbegriff für alle, die auch nur eine kritische Frage wagen: grossartig stigmatisierend, ein sicherer Blattschuss.

Ergänzen wir noch mit «Experten warnen», «Wissenschaftler fordern», «zweite Welle», «immer mehr Infizierte»; irgendwas oder irgendwer ist dann auch schon «am Anschlag». Was hilft?

Logisch, ein Lockdown. Beziehungsweise: «Wie reagiert die Baubranche auf die zweite Welle?» – oder Restaurants und Hotels? All diese Fragen beantwortet eine einzige Ausgabe des «Blick», und es bleibt erst noch genügend Platz übrig, um ein Thema anzuschneiden, das schon die alten Griechen beschäftigte: «Bin ich ungeeignet für Analsex?»

Lockdown ist lieblich für Massenquarantäne

Ein Lockdown ist nichts anderes als eine Massenquarantäne, aber hört sich viel lieblicher an. Erst recht, wenn es nur ein «Teil-Lockdown» ist, oder gar bloss ein «Mini-Lockdown». Die NZZ versucht’s mal wieder mit einem ordnungspolitischen Zwischenruf: «Zweite Corona-Welle: jetzt wird es für die Wirtschaft brenzlig – Augenmass ist gefragt».

Normalerweise riecht es brenzlig, aber wenn man Chefökonom der NZZ geworden ist, kann man auch mit schiefen Bildern den richtigen Riecher haben. Oder so.

«BAG prüft ein- bis zweiwöchige Lockdowns», weiss CH Media. Man fragt sich, wie diese Prüfung aussieht: «Äxgüsi, wir prüfen hier mal einen einwöchigen Lockdown, bleiben Sie gefälligst in Ihrer Wohnung.»

Bericht von der Spitalfront in Basel-Land

Aber Scherz beiseite, beide Basel gehören ja auch zum Einzugsgebiet der Wanner-Presse: «Im Kanton Basel-Landschaft befinden sich 12 Menschen im Spital, 2 müssen beatmet werden.» Das ist furchtbar und wird sicherlich nicht dadurch relativiert, dass es im Halbkanton 2019 ingesamt knapp 35’000 Spitalaufenthalte gab, plus 6300 im mit Basel betriebenen Uni-Kinderspital.

Das bedeutet, dass es jeden Tag im Schnitt 113 Spitalaufenthalte gibt. Und wenn man die Ticker-Meldung genauer liest, kann man aufatmend feststellen, dass am Stichtag lediglich 2 neue Patienten wegen Corona ins Spital mussten, was die Gesamtzahl auf 12 heraufsetzt.

Aufatmen kann man ebenfalls in der Ostschweiz: «Kanton St. Gallen lässt weiterhin Grossveranstaltungen zu», vermeldet das St. Galler «Tagblatt». In den letzten sieben Tagen hat sich der Begriff Lockdown wie ein Virus in den Medien vervielfältigt, die Datenbank SMD verzeichnet knapp 3600 Treffer dafür. Sozusagen auch dagegen; die «Handelszeitung» titelt tapfer: «Fünf Gründe gegen einen Lockdown».

Häppchenweise serviert, wird’s geschluckt

Der Unternehmer Marcel Dobler, unter anderem Besitzer des alteingesessenen Spielwarenhändlers Franz Carl Weber, in der Vorweihnachtszeit normalerweise der Sehnsuchtsort für Kinder, warnt: «Bei einem zweiten Lockdown geht auch Franz Carl Weber in Konkurs», so zitiert ihn «20 Minuten».

Es ist eine alte Erkenntnis aus der Propagandalehre, dass man einen ungeliebten Begriff zuerst häppchenweise wieder aus der Versenkung holen muss. Das kann ganz am Anfang durchaus auch verneinend sein, «ein zweiter Lockdown ist ausgeschlossen». Als Nächstes wird ein angetäuschter Ausfallschritt beliebt gemacht: «Mir müssen alles tun, um einen zweiten Lockdown zu vermeiden.»

Schon fast auf der Zielgeraden ist man dann mit Stufe 3: «Wir können einen Lockdown nicht mehr ganz ausschliessen.» Nun gibt es verschiedene Möglichkeiten, den Sieg in der Lufthoheit heimzutragen.

Leider kein Diminutiv

Der Begriff ist wieder platziert, nun kann  man entweder den Überraschungs- und Überrumpelungsangriff wagen: «Ab morgen 12 Uhr gilt der Lockdown.» Oder man tänzelt etwas um den Begriff herum, «Teil-Lockdown», «Mini-Lockdown», «Versuchs-Lockdown».

Indem man sich des hässlichen Begriffs Massenquarantäne entledigte, verbaute man sich allerdings die Möglichkeit des Diminutivs, der immer etwas Beruhigendes hat, automatisch einen Jö-Effekt auslöst. Aber ein «Lockdäunchen», das geht nun schlecht.

Die in den Medien breit geführte Debatte, ob, wann, wie, wo, flächendeckend oder teilweise, wie beim ersten Mal oder anders, deckt zudem eine weitere, unangenehme Wahrheit zu. Deshalb bekommt der FDP-Nationalrat und erfolgreiche Unternehmer (Digitech) Dobler, der einem neuen Lockdown kritisch gegenübersteht, viel Gegenwind.

Es gibt auch unangenehme Wahrheiten

Denn er weist darauf hin, dass zumindest Teile der Volkswirtschaft in der Schweiz einen zweiten Stillstand nicht überleben werden. Die zweite Welle damit in eine Pleitewelle übergehen würde, in der Arbeitslosenheere schwömmen. Und ihn kann man schlecht als verkappten Aluhut-Träger oder Rechtsradikalen beiseite räumen.

Eine Debatte über das Wie und Wann, befeuert durch zwar nicht signifikante, aber geeignete absolute Zahlen von positiv Getesteten, soll von einer Tatsache ablenken, die noch beunruhigender als das Virus ist: Bislang hat der erste Lockdown mit allen Folgewirkungen einen Schaden von rund 100 Milliarden Franken angerichtet.

Selbst die wohlhabende Schweiz kann sich das nicht nochmal leisten. Aber davon liest man eigentlich im Medienchor, der Lololo Lockdown singt, kaum etwas.

Ein Sektenspezialist als Sektierer

Hugo Stamm hatte mal einen Ruf zu verlieren. Hatte.

Es gibt eine verdienstvolle Seite von Stamm. Er war jahrezehntelang im Dienst des «Tages-Anzeigers» unterwegs, um Sekten, Scharlatane und alle Formen der Ausnützung von labilen Menschen zu bekämpfen.

Herausragend sein Beitrag zur Bekämpfung von Scientology oder den VPM, der vor allem in Zürich sein Unwesen trieb. Er veröffentlichte verschiedene Bücher, in denen er die Ergebnisse seiner Recherchen zusammentrug. Er war lange Jahre Anlaufstelle für Verzweifelte, die versuchten, aus den Fängen einer Sekte zu entkommen.

2014 wurde er dann in Teilpension verabschiedet, sein Sekten-Blog erscheint seit einigen Jahren bei «watson». Es ist schwierig zu analysieren, ob diese Tätigkeit schlussendlich ihren Tribut forderte, ob es in seiner Persönlichkeitsstruktur angelegt ist – oder ob er einfach im Gespräch bleiben wollte.

Stamm wollte vom Ruf Jegges profitieren

Auf jeden Fall bekam er über die Opferhilfe Zürich Kenntnis von einem Fall, bei dem ein ehemaliger Zögling von Jürg Jegge diesen Pädagogen beschuldigte, ihm gegenüber sexuell übergriffig geworden zu sein. Für jüngere Semester: Jegge wurde mit seinem Bestseller «Dummheit ist lernbar» berühmt, als es 1976 erschien, wurde er schnell zum Standardwerk der Reformpädagogik, die Zwänge in der Erziehung auch von Schwererziehbaren ablehnte.

Seine Erfahrungen hatte Jegge in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit als Sonderschullehrer gewonnen. Obwohl sein Ruf in den letzten Jahren verblasste, bleibt Jegge und vor allem der Titel seines Buchs doch präsent.

Keine Möglichkeit zur Stellungnahme vor dem Rufmord

Von dieser Berühmtheit wollte ein ehemaliger Zögling Jegges profitieren, der mit Hilfe von Stamm das Buch veröffentlichte «Jürg Jegges dunkle Seite». Darin beschuldigte er seinen ehemaligen Lehrer sexueller Übergriffe, die allerdings bei der Publikation 2017 schon über 40 Jahre zurücklagen.

Jegge wurde vor der Publikation keine Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt. Das und diverse andere Ungereimtheiten, vor allem auch die zeitlich übergrosse Distanz zu den Vorfällen riefen diverse Kritiker auf den Plan. Ich veröffentlichte damals eine Abrechnung mit diesem Vorgehen in der «Basler Zeitung».

Vor allem warf ich dem Journalisten Stamm vor, dass er absichtlich daurauf verzichtet hatte, Jegge die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben. «Der Journalist müsste wissen, dass man einen solchen Vorwurf ohne vorherige Konfrontation des Beschuldigten nicht veröffentlichen darf», schrieb ich damals.

Insbesondere, wenn sich der Journalist zum willfährigen Werkzeug eines Denunzianten macht, der den Ruf eines Pädagogen mit dem Vorwurf, ein Pädosexueller zu sein, rettungslos ruiniert. Jegge verzichtete auf jeglich Gegenwehr, räumte Übergriffe ein, die der damaligen Zeit geschuldet gewesen seien, und tauchte anschliessend ab.

Das Buch wurde zum Flop

Da alle Vorwürfe längst verjährt waren, was Stamm natürlich wusste, gab es auch keinerlei Strafuntersuchung. Das Buch, das mit grossem Trommewirbel als der Enthüllungsskandal des Jahres hochgetrommelt worden war, wurde dann auch zum Flop.

Wie es damals in der von Markus Somm geführten liberalen «Basler Zeitung» Brauch war, wurde Stamm zu einer Replik eingeladen. Zuvor hatte er sich per Mail an mich direkt gewandt, und da ich keiner Debatte aus dem Weg gehe, entwickelte sich daraus ein kurzer Mailverkehr. Als ich den Verdacht bekam, dass Stamm diesen privaten Meinungsaustausch allenfalls öffentlich verwenden will, machte ich ihn ausdrücklich auf mein Recht am eigenen Wort aufmerksam und untersagte ihm jede Verwendung.

Mangelnder Anstand und Charakterschwäche

Es passt aber leider zu seinem Charakterbild, dass er dann in seiner Replik ein paar aus dem Zusammenhang gerissene Mail-Fetzen von mir zitierte. Daraufhin brach ich jeglichen Kontakt mit ihm ab, mangelnder Anstand und Charakterschwäche sind Eigenschaften, die ich nicht tolerieren kann.

Der Fall schien soweit erledigt, bis sich ZACKBUM.ch-Redakor Lorenz Steinmann mit einigen interessanten und auch kritischen Fragen an den Sektenspezialisten Stamm wandte. Statt sie zu beantworten, wie es sich wohl gehörte, wenn es Stamm um die Sache ginge, mailte er zurück: «Rene Zeyer hat das Buch, das ich zusammen mit Markus Zangger über seine Missbrauchserfahrungen mit seinem ehemaligen Lehrer geschrieben habe, in der BaZ als Drecksbuch (im Titel!) bezeichnet. (…) Sie können sicher verstehen, dass ich unter diesen Umständen kein Interesse habe, Ihre Fragen zu beantworten.»

Hat Stamm die Schmach einer Kritik nicht verwunden?

Es bleibt wohl Stamms Geheimnis, wieso die bis heute nicht verwundene Schmach durch meine Kritik Anlass sein könnte, journalistische Fragen zu Sekten von einem anderen Journalisten nicht zu beantworten.

Kollege Lorenz hat ohne mein Wissen – aber natürlich mit meinem völligen Einverständnis – im Rahmen einer Recherche einige Fragen an den Sektenspezialisten Stamm gerichtet. Geantwortet hat die beleidigte Leberwurst Stamm, den die blosse Erwähnung meines Namens noch nach Jahren in Schnappatmung und Gehirnstarre versetzt.

Auf jeden Fall konnte ich Stamm nun Gleiches mit Gleichem vergelten und aus seiner Mail zitieren. Womit ich tatsächlich hoffe, dass ich von diesem Herrn in Zukunft in keiner Form mehr belästigt werde.

Wie tauglich jemand ist, über Sekten zu schreiben und aufzuklären, der selber einen dermassen verschobenen Blick auf die Wirklichkeit hat, sei dahingestellt.

Ein Ranking der Lebensexperten

Ratgeberexperte ist kein geschützter Titel. Das merkt man.

Expertenantworten zu Lebensfragen werden gierig gelesen wie die Lottozahlen. Es ist eine Mischung aus Voyeurismus und Mitgefühl. Und ja, bei manchen Antworten kann man dann doch etwas lernen. Und sei es nur für den nächsten Smalltalk oder gar die sich anbahnende Ehekrise. Emma Amour (natürlich ein Pseudonym) auf watson.ch nimmt die FragestellerInnen ernst und spricht offen über Tabuthemen. «12 Tipps, wie Du einen Mann oral befriedigst (dankt mir später)» ist ein anschauliches Beispiel.

Emmenegger und Fux

Caroline Fux vom Blick führt weiter, was die «Liebe Martha» Emmenegger ab 1980 erfunden hatte. Eine Enttabuisierung sexueller Themen in der Schweiz. Schon vorher, 1969, startete eine ähnliche Rubrik im «Bravo». Generationen von Jugendlichen lasen die Fragen und Antworten von «Dr. Sommer». Erster «Dr. Sommer» war der Düsseldorfer Psychotherapeut Martin Goldstein. 15 Jahre leitete er die Rubrik. Gegenüber rtl.de sagte Sozialpädagoge Klaus Mader kürzlich, noch heute bekomme das «Dr. Sommer»-Team immer noch 200 bis 250 Anfragen in der Woche.

Schneider, Fischer, Ihde

Beim Tages-Anzeiger beantwortet Psychoanalytiker Peter Schneider regelmässig Leseranfragen. Es geht selten um Sex, sondern mehr um Verhaltenstipps, um Zwischenmenschliches, um Kniggefragen. Hin und wieder mit einem Augenzwinkern, aber durchaus ernsthaft beantwortet.

Nach wie vor betreibt der Tagi auch eine monatliche Ratgeberseite über das Arbeits, Sozial- und Familienrecht. Verantwortlich ist hier die Juristin Andrea Fischer. Ganz oben in der Kaiserkategorie bei Rechtsproblemen steht aber der Beobachter. Seitenlang werden Fragen übers Erben, Bschiss bei Online-Bestellungen oder das Arbeitsrecht beantwortet. Zudem hat Facharzt Thomas Ihde (Psychiatrie und Psychologie) eine ganze Seite zur Verfügung, um einfühlsam und umfassend zu helfen. Aktuelles Thema: «Ich habe 70 Jahre als Mann gelebt und merke, dass ich eigentlich eine Frau bin. Was kann ich tun?»

Verspotten als Auftrag

Schon ein bisschen schwieriger wird’s bei der Rubrik «Fragen Sie Dr. M./ Der Experte für alle Lebenslagen» in der Weltwoche. Es sind eindeutig freihändige, subjektive Antworten, die oft eine politische Einfärbung haben. Aber egal. Nur schon die Illustration mit einem überzeichneten Psychologen zeigt die «Unernsthaftigkeit» der Antworten. In diese Kategorie fallen auch die nächsten Beispiele. Michèle Roten und Thomas Meyer. Beide sind als Lebensfragenbeantworter tätig. Thomas Meyer (Autor der beiden Wolkenbruch-Bücher) ist seit 2014 beim Sonntags-Blick. Er gibt Antworten auf «alle möglichen und unmöglichen Lebensfragen». Eine Frage lautet beispielsweise, was man einem Freund antwortet, der zum Verschwörungstheoretiker geworden ist. «Ein Affront, auf den nur mit dem totalen Bruch zu antworten ist», so das Zitat, das dem Leser am meisten bleibt. Die Antwort ist virtuos formuliert, geht aber am Kern der Frage vorbei. Sie ist ein wenig gar herzlos und lebensfremd. Es scheint, wie wenn für den Schriftsteller einfach ein Betätigungsfeld erfunden wurde.

Vollends Nonens ist die Rubrik «Helpdesk», mit der Michèle Roten beim Tages-Anzeiger reaktiviert wurde. Für das Magazin schrieb die mittlerweile 41-Jährige zwischen 2005 und 2014 die Kolumne Miss Universum. Damit sorgte sie schweizweit für Furore. Seit wenigen Wochen ist sie nun als Lebensberaterin beim Züri-Tipp tätig. Am Donnerstag ging sie auf die Frage eines Baslers ein, der sich fragt, warum er jeden Tag auf seinen Dialekt angesprochen werde.

Sie gibt zehn Kurzantworten zum Auswählen, natürlich eine origineller als die andere. Etwa die: «Weil wir hoffen, dass Sie gleich ein Piccolo aus dem Ärmel zaubern und uns was vorflöten.» Für die Leserschaft ein Gaudi, für aufrichtige Ratgeber-Experten etwas daneben.

Halbiertes Magazin

Nur sechs  Jahre liegen zwischen zwei so unterschiedlichen Magazin-Ausgaben.

Beim Aufräumen ist mir ein Magazin von Tamedia in die Hände geraten. Die Ausgabe vom 30. August 2014 mit immerhin 48 Seiten. Auf dem Titelbild ausgerechnet die beiden jüdischen Autoren Thomas Meyer und Beni Frenkel. Meyer verdient heute sein Geld unter anderem als Ratgeberonkel beim Sonntagsblick. Frenkel schreibt fleissig für ZACKBUM.ch.

Das Interview, geführt von beiden damaligen Magazin-Reportern Sacha Batthyany und Miklos Gimes, ist auch nach sechs Jahren noch höchst unterhaltsam und spannend. Der damalige Aufhänger für das Gespräch: die Affäre Geri Müller, in dessen Zusammenhang von «jüdischen Kreisen» die Rede war.

Im Magazin von 2014 schrieb noch der Philosoph Daniel Binswanger, heute bei der «Republik». Max Küng dozierte verspielt über einen Abend zu Hause («Man kontrolliert zum vierten Mal die Lottozahlen der Abendziehung – vielleicht hat es ja eine Korrektur gegeben»). Matthias Daum (heute «Die Zeit, Schweizteil») und Peer Teuwsen (heute NZZ am Sonntag) stellten die Frage, wer heute die Schweiz regiert. Und gaben die Antwort «Das Volk als Drohkulisse. Abstimmungskampagnen mit zweifelhaften Chancen. Reiche SVP-Kreise. Aber auch linke Kreise setzen Appelle an den Souverän geschickt ein». Und noch eine Fragestellerin: Autorin Anuschka Roshani liess sich darüber aus, warum heute jeder an seinem Körper arbeite. Hübsch: die folgende 10-seitige (!) Bildstrecke über Las Vegas und wer überhaupt noch dortbleibt. Dann eine Doppelseite von Schriftstellern Sibylle Berg über «die guten Freaks.» Ein Meisterstück. Der Longseller: Das Buchstabenrätsel von Trudy Müller-Bosshard. Den Abschluss machte «Fünfzehn Minuten im Leben», selbstverständlich mit Portrait eines Profifotografen.

Kurzum: ein reichhaltiges Heft mit viel Swissness und eigenen Texten. Eine Samstagsfreude.

Nun der Quervergleich zum Magazin Ausgabe 2020. Es ist das Magazin vom 3. Oktober. Nur noch 32 Seiten. Die Titelgeschichte stammt vom Stern-Reporter (Wikipedia-Eintrag) Jan Christoph Wiechmann. Er schreibt über die eben herausgekommene Autobiografie von Madeleine Albright und führt dafür mit der ehemaligen US-Aussenministerin ein Interview. Das ist ziemlich vorhersehbar. Zum Zug kommt mit einer Kurzkolumne Thomas Widmer, den man von seinen originellen Wanderbeschrieben im Tagi kennt. Welch Zufall: Autorin Anuschka Roshani schreibt wieder über Körper, diesmal «Das Rätsel Testosteron» und ob das Hormon den Männern in der Krise helfe. Einen Auftritt hat auch Arnold Schwarzenegger. Er ist – in jüngeren Jahre aufgenommen – Fotomodell für einen länglichen Text über die Geschichte des Bodybuildings. Die ganzseitigen Rubriken von Christian Seiler (Essen und trinken), ein Tag im Leben von (Zu Hause bei, Foto «privat») und Max Küng gibt’s immer noch. Sie funktionieren eigentlich nach wie vor.

Doch Max Küng scheint nach über 20 Jahren Kolumnistendasein ein bisschen ausgebrannt.

Aktuell heisst seine Rubrik «Ich war noch niemals in». Wem nichts in den Sinn kommt, macht Ausflüge und schreibt darüber. Aber das könnte auch für den Schreibenden gelten. Zieht er einfach ein altes Magazin aus der Schublade und macht einen Quervergleich zu heute. Und er wagt auch noch ein Fazit: Früher war das Magazin dicker – und besser. Immerhin: Chefredaktor ist nach wie vor Finn Canonica.

Erfolgreich in den Medien

Der Zoo Zürich gilt als Paradebeispiel erfolgreicher Medienarbeit.

Warum sah fast kein Journalist den Niedergang der Swissair voraus? Weil zu jenen Zeiten jeder in einer Mediengewerkschaft organisierte Journalist bis zu 50 Prozent Preisreduktion auf Flüge mit der nationalen Airline bekam. Das sorgte erwiesenermassen für Beisshemmungen.

Rabattschlachten für Journalisten sind in den letzten 20 Jahren aber massiv kleiner geworden. Das ist gut so, Stichwort Unabhängigkeit. Doch vielleicht wegen geringeneren Preisvorteilen hat die gewerkschaftliche Bindung von Journalisten an Bedeutung verloren. Das Branchenheft Edito der Gewerkschaft Medien und Kommunikation ist dünner und belangloser denn je.

Was früher die Knete war, ist heute die Lobbyarbeit.

Als erfolgreiches Beispiel gilt der Zoo Zürich. Denn eigentlich eignen sich wilde Tiere hinter Gittern nicht gerade für Positivnachrichten. Im Gegenteil, man könnte noch und noch Gruselstories bringen. Doch dem Zoo Zürich gelingt es erstaunlicherweise fast zu 100 Prozent, dass er stets positiv in den Medien erscheint. Das Geheimnis des Erfolgs ist der jeden Monat stattfindende Medienapéro für Journalisten. Perfekt aufbereitetes Bild- und Videomaterial gehören zum Gesamtpaket dazu. In Zeiten des Sparhammers auf jeder Redaktion ein fast unbezahlbarer Vorteil.

Kommunikation ist Chefsache

Als Ansprechpartner tritt immer der Zoodirektor auf. Das schafft Nähe und Authentizität. Die eigentliche Medienabteilung ist nur im Hintergrund tätig und vermittelt Bilder, Interviewpartner und agiert als «Kontrollstelle» bei offenen Fragen. Kein Wunder, erscheint der Zoo Zürich nie beim Jahres-Ranking des besten Mediensprechers.

Erfunden wurde der monatliche Medienapéro vom kürzlich pensionierten Zoodirektor Alex Rübel. Er konnte damit das leicht verstaubte Image des Zoos perfekt verbessern. Dass er gleichzeitig Zunftmeister der Zunft zur Saffran ist, erleichterte sicher die Pflege seines Beziehungsnetzes und die Akquise von Gross-Sponsoren. Sein Nachfolger Severin Dressen hat diesen Vorteil nicht. Aber er ist von Anfang an wie sein Vorgänger vor die Medien getreten, trotz unglücklichem Einstand mit dem tödlichen Tigerunfall. Eisern wird auch der monatliche Zooapéro weitergeführt. Dabei leistete sich der Zoo kurz vor der nationalen Abstimmung über das neue Jagdgesetz einen bemerkenswerten Ausflug in die Welt der Politik. Das Tier des Monats war im Monat September nämlich – der Wolf. Das ist aber eine Ausnahme. Normalerweise hält sich der Zoo aus der Politik raus. Dass der Zooapéro durchaus ein gewisses Renommee hat, beweist die «NZZ». Allermeistens und schon seit Jahren schreibt deren lokale «Edelfeder» Urs Bühler über den Zooapéro. Das beweist: Der Zoo Zürich gilt als Paradebeispiel erfolgreicher Medienarbeit.

«Wir müssen und wir werden Erfolg haben»

Sagt der VR-Präsident der NZZ über seine Strategie. Nur: welche hat er?

Es ist immer, nun ja, ein wenig heikel, wenn ein Oberchefredaktor seinen Oberboss interviewt. Auch wenn es nur sein halber ist, da Etienne Jornod und die NZZ zur Hälfte an CH Media beteiligt sind.

Also buchen wir die ersten Fragen unter Warmlaufen ab, oder allenfalls als Schleimspur, auf der Patrik Müller dann zu den wichtigen Fragen rutscht.

«Super-Entscheid», «die Entwicklung ist phänomenal», «ich geniesse hier jeden Tag, um unsere Strategie weiter mitzuschärfen und umzusetzen». Das ist alles wunderbar, und man kann nur hoffen, dass Jornod von Natur aus zu einem heiteren Gemüt neigt und dafür nicht irgendwelche Pillen einwerfen muss.

Die Strategie, einfach gesagt

Nach dieser Portion Optimismus wagen sich nun die Interviewer zur entscheidenden Frage vor: Wie sieht denn diese mitgeschärfte und umgesetzte Strategie aus, «in wenigen Worten»? Na, kein Problem für Jornod:

«Die NZZ muss so gut sein, dass man sie unbedingt braucht. Dass sie unverzichtbar ist.»

Das ist mal eine Strategie, von der wir alle uns eine geschärfte Scheibe abschneiden sollten. Wer hätte das vor Jornod gedacht, dass ein Produkt so gut sein sollte, dass man es unbedingt braucht. Hätte man das nur schon vorher gewusst, hätten sich viele Unternehmen Probleme oder gar den Bankrott ersparen können. Denn sie versuchten immer nur, Produkte herzustellen, die nicht so gut sein mussten, damit man sie unbedingt braucht.

Nachdem das mit der Strategie nun geklärt ist, was muss denn weiter umgesetzt werden? Auch dazu hat Jornod eine allgemein verständliche Antwort:

«Wir brauchen mehr Informationen darüber, was unsere Leser genau wollen.»

Sehr richtig, denn wenn man das nicht weiss, dann wird’s natürlich schwierig.

Wenn man das allerdings weiss, dann ist’s wie bei Frédy Girardet. Das ist nun ein so kühner Gedankengang von Jornod, dass wir etwas erklären müssen. Girardet war ein 3-Sterne-Koch in Crissier, der sein Lokal 1996 verkaufte. Zuvor verlangte er schon zu der «Uni-Zeit» von Jornot 200 oder 300 Franken für ein Menü. Das habe man damals als verrückt bezeichnet, erinnert sich Jornod an seine Studentenzeit. Vielleicht hätte er damals mal einen Abstecher zu Max Kehl machen sollen.

1800 Franken für ein Jahresabo? Kein Problem

Aber wie auch immer, was haben vergangene kulinarische Höchstleistungen mit der NZZ zu tun? Ganz einfach:

«Fünf Franken pro Tag liegen drin, um klüger zu sein.»

Nun müssen aber die Interviewer kurz den Taschenrechner gezückt haben und fragen deshalb, ob denn 1800 Franken für ein Jahresabo wirklich möglich sei. Da weicht Jornod gern ins Ungefähre aus und meint, dass eine Anpassung nach oben doch realistisch sei, bei «unserem Leistungspaket».

Spätestens hier hätte ich als Mitarbeiter der NZZ echt Schiss. Denn wenn mein für Strategie und Ausrichtung des Unternehmens verantwortlicher VR-Präsident einen solchen Stuss erzählt, wie soll es denn gut enden? Die NZZ hat tatsächlich mehr Abonnenten als zum Amtsantritt Jornods, wie der erfolgsverwöhnt vermeldet. Dass das allerdings im Wesentlichen auf Gewinne von Schnupper- oder Online-Abonnements zurückzuführen ist, während die NZZ schon heute Mühe hat, über 800 Franken für das Print-Abo zu bekommen, hier deshalb die Zahlen abnehmen, warum soll sich ein VR-Präsident von solchen Kleinigkeiten die gute Laune verderben lassen.

Es gibt nur einen alternativlosen Plan A

Richtig weiche Knie bekäme ich bei der Antwort auf die Frage, ob es auch einen Plan B gebe, wenn das mit den Abos nicht klappt:

«Es gibt keinen Plan B. Wir müssen und wir werden mit unserer Strategie Erfolg haben.»

Die letzten Male, als es keinen Plan B gab und der Plan «A wie alternativlos» Erfolg haben musste, klatschte die Swissair in den Boden, und die Credit Suisse überlebte den versuchten Umbau zur Allfinanzbank nur knapp.

Da Jornod das Präsidium der NZZ nicht ganz auslastet, hat er sich vor Kurzem noch ein Pharmaunternehmen namens OM Pharma gepostet, für 435 Millionen Franken. Wie würde der 67-Jährige also sein bisheriges Lebenswerk umschreiben?

«Angefangen als Drogist, haben wir aus einen Grosshändler eine Apothekenkette gross gemacht, danach eine Pharmafirma aufgebaut und schliesslich eine Zeitung weiterentwickelt. Jetzt folgt eine Biotechfirma.»

Weiterentwicklung ist ein interpretierbares Wort

Abgesehen davon, dass sich bei CH Media die Auflösung des Korrektorats schmerzlich bemerkbar macht: Der Fehlgriff mit dem ersten CEO Veit Dengler, der Flop in Österreich, die missglückte Inthronisierung von Markus Somm, der kühne Versuch, mit weniger Angebot höhere Preise zu verlangen, das kann man man nur begrenzt als «Weiterentwicklung» verkaufen.

Aber wie Philippe Bruggisser mit seiner gescheiterten «Hunter»-Strategie, wie Lukas Mühlemann mit seiner gescheiterten Allfinanzbank-Strategie – das Schlimmste, was Jornod passieren kann, ist ein nicht so ehrenhafter Abgang. Ob ihn allerdings die NZZ überleben wird, ist zu hoffen, aber nicht ganz sicher.

Die Morgengeschichte und das Testbild

SRF baut ausgerechnet bei regional gefärbten Gefässen ab. Dafür will es künftig Radiosendungen abfilmen.

Tröpfchenweise dringen die Sparmassnahmen von SRF an die Öffentlichkeit. Dabei ist erstaunlich, wie resolut Chefin Nathalie Wappler an der Sendesubstanz schrauben will. Von Sparmassnahmen bei der Verwaltung oder bei gemieteten Bauten, etwa im teuren Meret-Oppenheim-Hochhaus in Basel für die Kulturabteilung, ist nichts bekannt. Der Medienkritiker Kurt W. Zimmermann bringt das Thema Personal treffend auf den Punkt: «Jeder Journalist wird von genau 1,97 Mitarbeitern aus dem Backoffice betreut. Bei der SRG arbeiten, auf Vollstellen umgerechnet, 1850 Journalisten. In der Bürokratie und in der Technik hingegen arbeiten 3650 Köpfe.» Für Zimmermann ist in seinem Weltwoche-Artikel klar: «Das ist Bürokratie aus dem Bilderbuch.»

Fokussierung auf Hauptsendezeiten

Nathalie Wappler, seit März 2019 SRF-Direktorin und seit diesem Jahr auch noch stellvertretende Generaldirektorin SRG, will erstens die Fokussierung auf die Primetime, also die Sendezeit mit den meisten Zuschauern. Denn diese ist bezüglich Werbeerträge am attraktivsten. Und zweitens das Zusammenstreichen der Angebote bei Nischenthemen wie Religion, Literatur oder Philosophie. Diese seien zwar häufig ein Alleinstellungsmerkmal von SRF, erreichten aber nicht unbedingt ein breites Publikum.

Nicht nur Nischenprodukte fallen weg

Bei Thema Literatur trifft es nicht nur Nischensendungen wie «52 beste Bücher», sondern auch die «Morgengeschichte» beim Radio-Flaggschiff SRF 1. Die tägliche Kurzgeschichte von wenigen Minuten Dauer ist oft lustig, manchmal regt sie zum Nachdenken an, teilweise ist sie so schräg, dass man mit einem Lächeln im Gesicht in den Tag startet. Als Autoren, die die eigenen Geschichten auch vorlesen, treten Leute auf wie Linard Bardill, Guy Krneta, Julia Weber, Ferrucio Cainero oder Hugo Rendler. Charakteristisch sind die verschiedenen Dialekte, die einen in den Schwarzwald, ins Tessin oder nach Graubünden versetzen. Schade, wird dieses verbindende Sendegefäss mit jeweils bis zu 500’000 Hörerinnen und Hörern abgeschafft.

Die Schlappe an der Urne von 2015

Die frühere nationale «idée suisse» von SRG scheint vergessen. Auch das 2015 historisch knapp erzielte Ja zum Radio- und Fernsehgesetz (RTVG) scheint weit weg. Das Stimmvolk hatte das neue Gebührensystem mit lediglich 50,08 Prozent Ja-Stimmen-Anteil angenommen. «Die Forderung ist ja, dass wir das tun, was Private nicht tun können», gab sich der damalige SRG-Direktor Ruedi Matter einsichtig. Fünf Jahre später gilt das offensichtlich nicht mehr.

Regionaljournale mit weniger Präsenz

Interessanterweise zieht sich SRF auch aus der digitalen regionalen Berichterstattung zurück. Bisher konnten die einzelnen Regionaljournale ihre Meldungen, oft bemerkenswerte Recherchierprimeure, in schriftlicher Version im Netz verbreiten. Dies ist nun mehrheitlich vorbei. «Mit dem neuen Konzept verändern wir den Fokus von regionalen Geschichten im Web», lässt sich Stefan Eiholzer in einer Mitteilung zitieren Der Leiter der SRF-Regionalredaktionen: «Wir konzentrieren uns auf weniger, dafür exemplarische Themen.» Durch diese Reduktion sei es möglich, dass Userinnen und User mehr Analysen, Recherchen und Hintergrundberichte als bisher erhalten. «Damit wollen wir den Stellenwert von regionalen Geschichten erhöhen.»

Das Gegenteil wird der Fall sein. Die Regionaljournale werden geschwächt, was immerhin die Lokalzeitungen freuen wird. Denn für einmal baut SRF im Online-Nachrichtenteil nicht aus, sondern ab.

Radiosendungen abfilmen

Eine spezielle Idee verfolgt SRF laut der NZZ bei kostengünstigen Bespielen des linearen Fernsehprogramms in Randzeiten. Man will vermehrt auf das sogenannte «Visual Radio» setzen. Also Radiosendungen oder Podcasts, die gefilmt werden. Von der Radiosendung «Persönlich», einer seit 44 Jahren andauernden Erfolgsstory auf SRF 1, existiert laut Wappler schon eine entsprechende Pilotausgabe. In Frage kommen dazu zum Beispiel auch der Talk «Focus», jeden Montagabend auf SRF 3, oder «Musik für einen Gast» auf SRF 2. Überlegungen gibt’s laut der «NZZ» auch im Informationsbereich oder bei Quizformaten.

(Foto: blog.nationalmuseum.ch)

Im Fernsehen auf SRF zwei gibt’s die Sendung «3 auf zwei» schon heute – jeweils von Montag bis Freitag von 5.55 bis 8.50 Uhr und neu auch von 12.13 bis 14.59 Uhr. Doch wer nicht gerade ein ausgesprochener Fan von statischen Bildern ist mit einem Moderatoren mittendrin, findet das Format eher überflüssig.

Da sehnt man sich fast das gute alte Testbild zurück.

Dieses sendeten TV-Anstalten zu Zeiten, als das Programm noch ausschliesslich zur Primetime gesendet wurde.