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Vom Geist der Gesetze

Anschläge auf den Rechtsstaat durch Kampf um Aufmerksamkeit.

Ein Tweet mit wenigen Buchstaben, aber bedenklichem Inhalt: «Bundesverfassung Art. 183, Abs.4 löst das Problem. Kein Widerspruch zur Neutralität. Diese ist auch deshalb eine ‚bewaffnete‘ Neutralität, gerade weil die Schweiz sich verteidigen darf und soll. Gegenwärtig wird sie in der Ukraine (mit-)verteidigt.»

Das «Problem»: darf die Schweiz Waffen an die Ukraine liefern? Der Parteipräsident der «Mitte» zeigt hier bedenkliche Wissenslücken. Zunächst einmal verweist Gerhard Pfister auf einen nicht existierenden Absatz in der BV; wahrscheinlich meint er Art. 185. Ein wenig peinlich für einen Nationalrat und Parteichef.

Schlimmer ist allerdings seine absurde Logik. Die Neutralität der Schweiz werde in der Ukraine «(mit-)verteidigt». Das ist etwa so beknackt wie der berühmte Ausspruch des damaligen deutschen Verteidigungsministers: «Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.» Da Afghanistan inzwischen wieder fest in der Hand der Taliban ist, dürfte es also um die Sicherheit Deutschlands ganz schlecht bestellt sein.

Hindukusch: Deutschlands Sicherheitsgebirge.

Die Neutralität der Schweiz richtet sich nach dem Haager Abkommen 1907, Artikel 6:

«Die von einer neutralen Macht an eine kriegführende Macht aus irgendeinem Grunde unmittelbar oder mittelbar bewirkte Abgabe von Kriegsschiffen, Munition oder sonstigem Kriegsmaterial ist untersagt.»

Daran lässt sich selbst für Winkeladvokaten nichts herumzwirbeln. Zudem gibt es das Schweizer Waffenausfuhrgesetz, das in seiner Deutlichkeit auch nicht zu überbieten ist. Keine Waffenexporte in Kriegsgebiete oder an kriegführende Parteien.

Einen Schritt weiter in absurder Argumentation geht Markus Häflinger vom «Tages-Anzeiger»: «Waffenexporte nach Kiew sind falsch. Die Frage ist nur: Wie lange noch?» Vielleicht bis Donnerstagabend um 19 Uhr? Oder bis nächsten Sonntag? Aber wenn ein Redaktor schon in die falsche Richtung galoppiert, dann richtig:

«Der Ukraine-Krieg zwingt uns zum Positionsbezug: Ist Neutralität im 21. Jahrhundert moralisch und politisch überhaupt noch möglich – und wenn ja: wie? Kann die Schweiz neutral bleiben in einer Welt, die vor unseren Augen in zwei Blöcke verfällt

Welche zwei Welten stehen sich denn genau gegenüber?  «Eine Welt der Freiheit, des Rechts und der Demokratie. Und eine Welt der Unfreiheit, des Unrechts und der Gewaltherrschaft, die von China und Russland angeführt wird.»

Gute Welt, böse Welt – Märchenwelt

Lassen wir mal dahingestellt, wie viele lupenreinen Demokratien, wo Freiheit und Recht herrschen, es tatsächlich gibt. Für Häflinger ist es mit der Herrschaft des Rechts allerdings schon so eine Sache.

Zudem sieht der Positionsbezug der Schweiz so aus, dass sie mit einem Teil dieser bösen Welt fröhliche und lukrative Geschäftsbeziehungen unterhält. Unser drittwichtigstes Exportland ist China, Handelsvolumen 2020 über 30 Milliarden Franken. Wieso soll da keine Neutralität mehr möglich sein? Nur weil Kurzdenker wie Häflinger einen der vielen Kriege des 21. Jahrhunderts als angeblichen «Zwang zum Positionsbezug» verspürt? Wieso dann nicht der schmutzige Krieg von Saudi-Arabien im Jemen? Oder vom NATO-Mitglied Türkei in Syrien und im Irak? Die USA, der «grösste Schurkenstaat der Welt» (Noam Chomsky) führen gerade mal keinen offenen Krieg in der Welt, aber zwingen die nicht zu «Positionsbezug»?

Natürlich tobt unter den mehr als 200 Kommentaren zu Häflingers Kommentar Volkes Stimme: «Einfach unter dem Vorwand der Neutralität daneben stehen und unbeteiligt zuschauen, wie ein ungeheures Verbrechen am Völkerrecht im allgemeinen und an einem demokratischen Volk im speziellen begangen wird, für so ein Verhalten fehlen mir schlicht die Worte!»

Keiner zu klein im Geist, um nicht kühne Vergleiche zu wagen: «Wer zu einer Vergewaltigung kommt und nicht dem Opfer hilft, unterstützt damit den Vergewaltiger. Die Schweiz bezieht damit aktuell Stellung für Putin. Wer angesichts der Vergewaltigung einen Stuhlkreis bildetet um seine Einstellung zur Vergewaltigung zu diskutieren, legitimiert damit die Vergewaltigung erst mal weil er zuschaut wie sie geschieht.»

So wie bei besonders abscheulichen Verbrechen immer wieder die Einführung der Todesstrafe gefordert wird, tobt sich der Wutbürger bei besonders abscheulichen Kriegshandlungen aus. Das ist bedauerlich, aber halt Ausdruck mangelnder Kenntnisse.

Rechtsstaat – kommt darauf an

Richtig bedenklich wird es, wenn ein Parteipräsident und ein Redaktor einer der beiden Monopoltageszeitungskonzerne bedenkliche Lücken im Verständnis eines Rechtsstaats vorführt.

Dessen Grundprinzipien sind eigentlich für jeden verständlich: Es gelten die geltenden Gesetze. Nur in genau zu definierenden Katastrophensituationen können sie mit Notrecht übersteuert werden. Also die Schweiz wird angegriffen, ist Opfer einer ungeheuren Naturkatastrophe oder einer lebensbedrohlichen Pandemie.

 

Aber sonst nicht. Es gilt nicht: im Prinzip ja, aber. Es gilt nicht: normalerweise schon, aber hier doch nicht. Es gilt nicht: da kann man doch nicht zuschauen. Es gilt nicht: die Gesetze wurden doch auch schon früher übertreten. Wer geltende Gesetze durchlöchern will, sie der momentanen Stimmungslage anpassen, zerstört wissentlich die letzte Schutzmauer, die wir gegen die Herrschaft von Willkür, Barbarei und Faustrecht haben.

Gesetze können geändert werden. Aber sicher nicht gebrochen, weil es einem gerade so in den Kram passt. Wer in der Bevölkerung solche Stimmungen schürt, ist ein verantwortungsloser Zeusler. Er sollte als Politiker zurücktreten oder als Redaktor entlassen werden. Genau wie die vielen, die verantwortungslos Waffenlieferungen an die Ukraine aus nicht-neutralen Ländern unterstützen.

Waffen gegen Putin, das hört sich toll an. Die fortgesetzte Zerstörung der Ukraine ist allerdings weniger toll. Bevor gefragt wird, ob hier ein Putin-Versteher schreibe und ob man dem Kriminellen im Kreml denn seinen Willen lassen solle: nein. Dazu nochmals Chomsky: Ein Krieg wird nur auf zwei Arten beendet. Durch die völlige Zerstörung einer der beiden Parteien. Oder durch Verhandlungen. Tertium non datur, und diese Logik ist unbezweifelbar richtig.

 

 

 

 

 

Wumms: Irène Kälin

Was hat die Aargauer Grüne in der Ukraine verloren?

Sie machte ihren Master zum Thema «Religionskulturen». Sie studierte diverse Fächer an diversen Unis. Dann war sie mal Gewerkschaftssekretärin bei der Unia. Lange Jahre Grosser Rat des Kantons Aargau, 2015 kandidierte Kälin gleichzeitig als Nationalrätin und als Ständerätin. Für den NR reichte es. Im November 2021 wurde sie zur NR-Präsidentin gewählt. Sie setzt sich für «die Stärkung der Geschäftsprüfungskommission» ein, fordert eine Erhöhung des Strafmasses bei «sexuellen Handlungen mit Kindern».

Zwar unter Sexismusverdacht, aber: bad hair day?

Beste Voraussetzungen, um mal einen Ausflug nach Kiew zu machen, Krieg schauen. Was fällt der Dame mit merkwürdigen Frisuren als Begründung für das Reisli ein? Natürlich, der Klassiker: «Zeichen der Solidarität.» Was noch? «Bedingungsloses Eintreten fürs Völkerrecht.» Sonst noch was? «Was es mit einem als Menschen macht, wenn man in ein Kriegsgebiet kommt.» Wunderbar. Währenddessen darf der einsame Lebenspartner in Oberflachs den gemeinsamen Sohn hüten.

Den beiden gegenüber mangelt es ihr leider an Zeichen der Solidarität. Ist ihre Reise und damit Parteinahme mit ihrer Position und der Schweizer Neutralität vereinbar? «Es wäre nicht neutral, wenn man nicht gehen würde.» Ist das alles peinlich.

Hilfe, mein Papagei onaniert: Putin-Versteher

Die Sonntagspresse arbeitet sich weiter am Thema ab.

«Dirk Baier ist Professor und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.» Selten hat sich einProfessor so hemmungslos um Kopf und Kragen geredet wie Baier in einem Interview der SoZ.

Schon der Titel-Quote ist von seltener Dümmlichkeit: «Putin-Versteher können gefährlich sein.» Das mag ja sein, gilt aber verschärft auch für Nicht-Versteher. «Linksextremismus» und «Anti-Amerikanismus» seien «Anknüpfungspunkte» fürs Putin-Verstehen, weiss der Professor. Sollte man als Erwachsener die nun einfach in Ruhe lassen? «Niemals: Krieg, Mord und Totschlag – das geht überhaupt nicht!», also müsse man denen gut zureden. Noch schlimmer: «Es gibt auch Putin-Versteher mit einem Hang zu Verschwörungstheorien.» Die können dann durch Grossereignisse «enthemmt» werden, was sich in «Anschlagsplänen» auf den deutschen Gesundheitsminister und der «Entführung des Schweizer Impfchefs Christoph Berger» sowie allgemeiner Gewaltbereitschaft zeige.

Man muss leider mal wieder sagen, dass ein Professorentitel keinesfalls automatisch Logik und sinnvolle Aussagen ermöglicht. Die Schweizer Entführung hatte nach heutigem Wissensstand überhaupt nichts mit Verschwörungstheoretikern zu tun, dass die enthemmt würden, ist genauso unbelegte Behauptung wie die Verknüpfung mit Linksradikalismus. Das ist alles unwissenschaftliches Geschwurbel. Stattdessen fehlt eine griffige Definition, was denn nun für den Professor ein «Putin-Versteher» genau ist.

Bekäme der Herr so etwas als Seminararbeit oder Vortrag abgeliefert, er würde es seinem Studenten (hoffentlich) um die Ohren hauen. Aber um einen schönen Auftritt in der SoZ mit Riesenfoto zu kriegen, da bedient er alle Klischees, Vorurteile und Behauptungen, die man in der SoZ gerne hören möchte.

Für SoZ-Verhältnisse erstaunlich neutral wird das hier gemeldet:

Es wird immerhin berichtet, dass die Schweiz etwas in den heutigen Zeiten Ausserordentliches macht: sie hält sich an ihre Gesetze, in diesem Fall ihre Waffenexportgesetze.

Aber irgendwie war es der SoZ damit nicht so wohl, also gab sie dem alten GSoA-Aktivisten Jo Lang ausführlich Gelegenheit, zwischen Pazifismus, Waffenlieferungen ja oder nein und ähnliche Fragen herumzurudern. Unwidersprochen bleibt auch hier seine Aussage:

Auch hier fällt es keinem der Interviewer ein, zurückzufragen, ob sich die Schweiz dann nicht mehr an ihre eigenen Gesetze halten sollte. Das kommt halt davon, wenn Interviewten und Interviewer ein gewisser Konsens eint.

Wenn Reza Rafi im «SonntagsBlick» das Editorial schreiben darf, weiss man, dass der Schweizer Rechtsstaat nicht unbeschädigt bleibt. Diesmal regt er sich darüber auf, dass ein Sicherheitsexperte und ehemaliger Oberst der Schweizer Armee sowie Ex-Mitarbeiter des Nachrichtendiensts gern gesehener und gehörter Experte im Zusammenhang mit der Ukraine ist.

Dabei wagt aber Jacques Baud, nicht die gleiche Meinung wie Rafi zu vertreten. Oder in den Worten des strikten Verteidigers der Meinungsfreiheit Rafi: «Baud argumentiert streckenweise ziemlich genau auf der Linie des Massenmörders Wladimir Putin». Unerhört, was sagt denn «Viola Amherds Verteidigungsministerium»? Unerhörtes: «Es steht jedem Schweizer frei, seine eigene Meinung zu äussern und eine frühere Arbeitsbeziehung zu erwähnen.»

Da muss Rafi den Kopf schütteln: «Mit anderen Worten: dem Staat sind die Hände gebunden.» Offenkundig findet Rafi das ziemlich blöd, denn mit ungebundenen Händen könnte der Staat doch dafür sorgen, dass alle frei ihre Meinung sagen dürfen – solange sie mit der von Rafi übereinstimmt. Aber leider, leider: «Hierzulande darf jeder einstige Uniformträger gegen die Obrigkeit opponieren, indem er etwa die Sichtweise des Kreml verbreitet.»

Kleine Staatsbürgerkunde für den stv. Chefredaktor des SoBli: genau so ist es. Und das ist gut so. Schliesslich darf auch Rafi seinen Unsinn verzapfen, und dem Staats sind die Hände gebunden. Obwohl der Journalist offenbar meint, Meinungsfreiheit bedeute, frei seine Meinung zu äussern. Rafis seine, wohlgemerkt. Aber der ist nun, trotz anderer Selbstwahrnehmung, keinesfalls die «Obrigkeit».

Selbst wenn man Lust hat, nach diesem Schocker noch weiter im SoBli zu blättern, spätestens auf Seite 9 ist’s dann endgültig fertig:

Da zitiert Frank A. Meyer doch tatsächlich Ludwig Uhland, um seine ewig gleiche Leier von der Abhängigkeit der Schweiz von der EU und der NATO mal mit einem Dichterwort zu verbrämen.

Dagegen stellen wir doch ein Wort von Karl Kraus: «Keinen Gedanken haben und ihn ausdrücken können, das macht den Journalisten aus

Fehlt noch die NZZaS? Stimmt, allerdings: der Chefredaktor ist (hoffentlich) in den Ferien. Aline Wanner schreibt eine «Medienkritik», die eigentlich eine Kritik an der SVP ist. Rafaela Roth hat ein längeres Stück im «Hintergrund».  Und im Kultur-Teil wird die deutsche Grossintellektuelle Nena interviewt, mit der stolzgeschwellten Einleitung: «Seit Beginn der Pandemie gab sie keine Interviews mehr. Für uns machte sie am Zermatt Unplugged Festival eine Ausnahme.»

Der NZZaS-Leser dürfte darüber nicht wirklich begeistert sein, denn er darf Flachheiten lesen wie: «Ich bin trotzdem voller Zuversicht. Dass wir bald in Frieden leben werden. Und zwar diesmal richtig, auch wenn das jetzt naiv klingt und viele es anders sehen.» Noch nicht übel geworden? Dann noch das:

«Wir können uns jetzt für die Liebe entscheiden. Daran glaube ich.»

Die NZZaS auf den Spuren von «Bravo». Dass wir das noch erleben müssen …

Geeiertes aus Bern

Die zusammengelegte Berner Filiale von Tamedia dilettiert.

Es braucht Eier, mit einer solchen Position öffentlich aufzutreten: ««Es gibt keine Graubereiche mehr, es wird nur noch in Schwarz-Weiss berichtet.» Wer für eine differenzierte Sichtweise eintrete, werde in eine russlandfreundliche Ecke gedrängt. Diese Diskurskultur habe eindeutig «totalitäre Züge».

Das sagt die Berner Stadträtin der Grünalternativen Partei (GaP) Simone Machado. Und fügt hinzu: ««Man muss sich fragen, was der russische Präsident Wladimir Putin eigentlich will», sagt Machado. Und um dies herauszufinden, brauche es Verhandlungen.»» So zitiert sie die «Berner Zeitung».

Um ihr zu widersprechen und gleichzeitig Recht zu geben, titelte das Tamediablatt:

«Berner Linksgrüne können Putins Forderungen nachvollziehen»

Das war nun doch recht verwegen, inhaltlich falsch und überhaupt daneben. Aber gedruckt. Also benützte Bern die Möglichkeiten des Internets und verschlimmbesserte dort:

Man kann nun von der Position der Berner Politikerin halten, was man will. Man kann sie verurteilen, ihr unterstellen, sie sei von Moskau bezahlt, wie das schäumende Leserbriefschreiber tun. Früher wurde noch  der Ruf angestimmt: «Moskau einfach!»

Heutzutage wird man schnell vom Berner Linksgrünen zum «linksgrünen Aussenseiter». Während die Berner Insider der Lokalredaktion nicht mal im zweiten Anlauf einen anständigen Titel über den Artikel hinkriegen.

Dass der aalglatte Präsident der Grünen Schweiz sich lautstark davon distanziert, ist verständlich: «Frau Machados Verständnis des russischen Krieges gegen die Ukraine passt zur Haltung der Grünen wie die Faust aufs Auge», lässt sich Balthasar Glättli zitieren. Er, die Schweizer und die europäischen Grünen verurteilten die völkerrechtswidrige Invasion der Ukraine «in aller Schärfe». Dabei entgeht ihm allerdings, dass das Machado auch tut.

Während Glättli aber darauf hofft, dass Präsident Putin durch diese scharfe Verurteilung ein Einsehen hat, sich entschuldigt und verspricht, zuerst aufzuräumen und sich dann aus der Ukraine zurückzuziehen, sucht Machado nach Möglichkeiten, wie man beispielsweise mit Verhandlungen einem Ende des Krieges näherkommen könnte.

Aber solche Differenzierungen sind – wie Machado selbst beklagt – nicht mehr möglich. Die Reaktion der Grünen, der «Berner Zeitung» und der Kommentarschreiber beweist das.

 

Die Verteidiger der US-Vorherrschaft und die «Putin-Versteher»

Wie bei jedem Krieg stellt sich die Frage, wie es zum Krieg kommen konnte, und ob die russische Invasion der Ukraine nicht hätte verhindert werden können.

Von Urs. P. Gasche*

Der Artikel ist zuerst auf «Infosperber» erschienen.

Putin hat von der Nato verlangt, die Ukraine nicht als Mitglied aufzunehmen und dort keine Raketen an der Grenze zu Russland aufzustellen, wie es die Nato bereits in den baltischen Ländern, Polen und Rumänien tat.

Im Vordergrund stehen zwei Fragen:

  1. Haben «Putin-Versteher» den Krieg mitverschuldet, weil sie gegen eine stärkere Aufrüstung Westeuropas waren, und weil sie unterschätzten, wie gefährlich der russische Präsident ist?
  2. Hätte ein Nachgeben der Nato und eine Ukraine ohne schwere Waffen Russland vom Krieg abhalten können?

Der Angriffskrieg Russlands sei der Beweis dafür, dass all jene Russland-Kenner, Historiker und Politiker falsch lagen, die davor warnten, dass die Osterweiterung der Nato den Frieden gefährde. Der Krieg entlarve sie jetzt als «naive Putin-Versteher», sagen die Nato, viele Militärs, Politiker und Medien.

Stimmen, welche die Osterweiterung der Nato als mitverantwortlich für den Krieg halten, kommen in grossen Medien kaum mehr zu Wort. «Die Osterweiterung war kein Fehler», titelte der Tages-Anzeiger am 25. März über fünf Spalten.

Im Folgenden stellen wir zuerst die Sichtweise jener vor, welche in der Nato-Osterweiterung keine Bedrohung Russlands und keinen möglichen Grund des Krieges sehen. Anschliessend fassen wir die Sichtweise derer zusammen, die überzeugt sind, dass es ohne Osterweiterung zu diesem fürchterlichen Krieg höchstwahrscheinlich nicht gekommen wäre.

Der Autor dieses Artikels neigt zur zweiten Sichtweise.


1. «Es geht darum, wer gewinnen wird: die Demokratien oder die Autokratien»

Aus der ersten Sichtweise gab es für Russland keinen Grund, die Ukraine anzugreifen. Die Ukraine hat das Recht, Mitglied der Nato zu werden. Die Nato-Osterweiterung diente als Vorwand. Vielmehr träumt ein verrückt gewordener und unberechenbarer Diktator von der Restaurierung der Sowjetunion.

«Putin will das russische Reich wiederaufleben lassen.»

NZZ 5.3.2022

«Nationalistische Grössenphantasien»

NZZ 10.3.2022

«Putin ist ein lupenreiner Faschist.»

Untertitel eines Gastbeitrags in der NZZ vom 10. März

«Imperiale Macht» ist für Putin viel wichtiger als Freiheit.
Die «primitive Logik des Tyrannen» lautet «Freiheit gegen Unfreiheit, internationale Regeln gegen Aggression, Freund gegen Feind.»

Leitartikel von NZZ-Chefredaktor Eric Gujer am 5. März

«Die Osterweiterung der Nato hat die baltischen Staaten und wahrscheinlich ganz Osteuropa vor Russland gerettet»

Hillary Clinton am 28. März in der New York Times

«Die Osterweiterung war das Erfolgreichste der US-Aussenpolitik der letzten dreissig Jahre.»

Historikerin Anne Applebaum

Nach dem Überfall auf die Ukraine ist eine neue Sicherheitslage entstanden. Sie macht es nötig, dass die europäischen Nato-Länder aufrüsten. Die baltischen Staaten, Finnland, Polen, Rumänien und die Moldau fühlen sich zurecht bedroht. In der NZZ vom 25. März forderte der frühere Chef des Schweizer Nachrichtendienstes Peter Regli «eine stärkere Anbindung an die Nato». Die Schweiz muss die F-35-Kampfflieger in einem beschleunigten Verfahren beschaffen.

Man darf Putin auf keinen Fall mit einem Angebot entgegenkommen, damit dieser ohne grösseren Gesichtsverlust einem sofortigen Waffenstillstand zustimmen kann – selbst wenn das Angebot für die Ukraine und den Westen zumutbar wäre. Denn erstens ist es falsch, einem Despoten auch nur einen Schritt entgegenzukommen, und zweitens wird Putin sowieso nicht darauf einsteigen. Es macht keinen Sinn mehr, mit Russland politisch, wirtschaftlich und kulturell zusammenzuarbeiten.

«Nur eine Niederlage der russischen Truppen kann das Gemetzel stoppen.» 

Fünfspaltiger Titel in der NZZ vom 18. März

«Es geht darum, wer gewinnen wird: Die Demokratien oder die Autokratien.»

US-Präsident Joe Biden am 25. März in Polen

«In diesem epochalen Konflikt zwischen Demokratie und Autokratie geht es letztlich darum, ob Freiheit und Menschenrechte obsiegen oder Unterdrückung, Gewalt und Einsperrung.»

Peter Wanner, Verleger des AZ-Medienkonzerns, in der Schweiz am Wochenende vom 19.3.2022

«Klassentreffen der Demokraten»

Titel im «Tages-Anzeiger» vom 25. März über einem Bericht zum Nato-Sondergipfel in Brüssel

«Der Kremlchef wagt sich so weit wie kein anderer Despot. Sein Angriff auf die Ukraine trägt die Tyrannei ins Ausland, offen, unverblümt, hemmungslos.»

NZZ-Auslandredaktor Fabian Urech am 17. März

Putin hat den Krieg gegen die Ukraine bereits seit 2014 gezielt vorbereitet. Er träumte schon immer von der Wiederherstellung der zerbrochenen Sowjetunion und will die imperialistische Tradition der Zaren fortsetzen (Eric Gujer, NZZ vom 2.4.202). Diejenigen, welche die Osterweiterung der Nato kritisierten, haben sich getäuscht. Auch «Spitzenpolitiker und Wirtschaftsführer», welche die Nato-Osterweiterung in Frage stellten und den Bau der Nordstream-2 befürworteten, haben sich «als naive Verharmloser und nützliche Idioten gebärdet» (Lucien Scherrer, NZZ vom 28. März). Das Gleiche gilt für etliche Journalisten. «Alt-Bundeskanzlerin Angela Merkel agierte sehr lange zu nachsichtig gegenüber dem russischen Staatschef Wladimir Putin», schrieb die NZZ am 1. April auf der Frontseite.

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist nicht vergleichbar mit den Kriegen, welche die Nato gegen Afghanistan oder gegen Serbien lostrat. Und ebenso wenig mit dem Krieg der USA gegen den Irak oder mit dem von den USA unterstützten Krieg von Saudi-Arabien gegen Jemen. Denn die USA und die Nato verteidigen mit ihrem Hegemonieanspruch Freiheit und Demokratie rund um den Globus sowie die liberale Weltordnung (NZZ vom 29. März), während das imperialistische Russland Osteuropa und die früheren Länder der Sowjetunion und des Warschauer Paktes wieder unter seine totalitäre Kontrolle bringen möchte. Als Präzedenzfall dienen Tschetschenien, Abchasien und Südossetien.

Der Hegemonie-Anspruch der USA auf Mittel- und Südamerika (Monroe-Doktrin) ist nicht mit einem russischen Sicherheitsbedürfnis zu vergleichen. Denn den USA geht es nicht um Machtpolitik, sondern um den Schutz der freien Welt (NZZ vom 29. März), während Russland seine «Tyrannei ins Ausland tragen» will (NZZ vom 17. März).

2. Ohne Nato an den russischen Grenzen wäre es wahrscheinlich nicht zum Krieg gekommen

Wer den Westen mitverantwortlich macht für die ständige Verschlechterung der Beziehungen zu Russland seit Ende der 1990er Jahre, Beziehungen, die jetzt in diesen Krieg kulminierten, wird als «Putin-Versteher» (u.a. NZZ vom 30. März) zum Schweigen gebracht. Diese «Putin-Versteher» mit ihrer anderen Sichtweise kommen in den grossen westlichen Medien seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine kaum mehr zu Wort.

Diese Sichtweise sei hier ebenfalls vorgestellt.

Nachdem die Nato im Jahr 1999 die baltischen Staaten, Polen, Tschechien und Ungarn in ihr Bündnis aufgenommen hatte, erklärte es Moskau zur roten Linie, dass auch noch Georgien oder die Ukraine der Nato beitreten. Auf der Münchner Sicherheitskonferenz von 2007 machte Putin seine Sorge und seinen Ärger öffentlich. Er stellte klar: Die Nato-Osterweiterung ist eine Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands.

Seine Worte blieben ungehört.

Die Nato akzeptierte keine rote Linie Russlands und machte der Ukraine vielmehr ein Beitritts-Angebot. Die Ukraine schrieb das Ziel eines Nato-Beitritts sogar in die Verfassung. Darauf stufte Russland die Nato und die Ukraine in einer neuen Militärdoktrin als Gefahr für die russische Sicherheit ein. Man erinnerte sich in Russland an den Nato-Angriff auf Serbien im Jahr 1999 und an den seit Jahren geführten Krieg der Nato in Afghanistan.

Die «Europäische Sicherheitscharta» der OSZE verpflichtet die Staaten «gegenseitige Sicherheitsinteressen zu respektieren und die Sicherheit nicht zu Lasten anderer Staaten zu stärken».

Obwohl der Beitritt der Ukraine zur Nato erst eine beidseitig verkündete, aber noch nicht realisierte Absicht wer, liess die Ukraine nach dem Regierungswechsel 2014 und der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim ihr Militär von der Nato ausbilden, rüstete auf und nahm an Nato-Manövern teil. Nach Angaben der NZZ vom 14. Februar bildeten Nato-Offiziere 10’000 ukrainische Soldaten aus. Über drei Milliarden Dollar gaben die USA seit 2014 für Ausbildung und Ausrüstung der ukrainischen Streitkräfte aus. Russland musste befürchten, dass die Ukraine versucht, die Krim und die Separatistengebiete im Donbass militärisch zurückzuholen.

Die von der Nato unterstützte Ukraine drohte im Osten zu nahe zu kommen und im Schwarzen Meer die Russen zu vertreiben.

Für Russland war die rote Linie überschritten.

Russland wollte nicht warten, bis die Ukraine voll aufgerüstet ist. Und noch weniger wollte Russland warten, bis auf der ukrainischen Seite der 2000 Kilometer langen gemeinsamen Grenze atomar bestückbare Raketen und Raketenabwehrsysteme einsatzfähig sind.

Russland entschied sich schliesslich, mit grossen Militärmanövern an der Grenze zur Ukraine eine Drohkulisse aufzuziehen. Während Wochen verlangte Putin ultimativ, die Ukraine müsse auf einen Beitritt zur Nato verzichten. Auch müsse die Ukraine das Nazi-Bataillon, das mit dem Segen der Kiewer Regierung namentlich im Donbass wütete, oder auch die Neo-Nazi-Gruppe C14 kaltstellen. Auf beide Forderungen gingen Selensky und die Nato nicht ein, sondern wiederholten unablässig, jedes Land habe das Recht, der Nato beizutreten. Doch aus Sicht Russlands ist die Nato mit Raketenstellungen an seinen Grenzen eine existenzielle Bedrohung.

Auch die USA verteidigen ihre Hemisphäre

Eine Politik der Einkreisung mit modernsten Waffen eines Gegners unmittelbar an den Landesgrenzen akzeptiert keine Grossmacht. Seit zweihundert Jahren setzen die USA die Monroe-Doktrin bis heute durch: Nicht nur in Nachbarstaaten, sondern in ganz Mittel- und Lateinamerika wird keine feindliche Rakete geduldet.

Die USA würden nicht warten, wenn Kuba oder selbst das weit entfernte Venezuela Russland oder China erlauben würde, in ihrem Land Raketen zu stationieren.

Selbst ohne Bedrohung durch feindliche Raketen bestrafen die USA in ihrem Hegemoniebereich Länder, wenn sie sich sozialistisch gebärden und US-Konzernen keinen freien Zugang gewähren. Die Uno-Generalversammlung verurteilt die Blockade und die Sanktionen der USA gegen Kuba Jahr für Jahr, im Jahr 2021 mit 184 zu 2 Stimmen der USA und Israels. Nur Brasilien, Kolumbien und die Ukraine enthielten sich. Diese Abstimmungen sind den westlichen Leitmedien kaum eine Zeile wert. Die USA stürzten selbst demokratisch gewählte Regierungen wie diejenige in Chile oder Panama und ersetzten sie durch eine Militärdiktatur.

«Einflusssphären von Grossmächten sind rund um den Globus eine Realität», sagt Peter Beinart, Associate Professor für Journalismus und Politikwissenschaften an der City University of New York. Nur wenn die USA auch die Einflusssphäre Russlands respektieren, sei garantiert, «dass der russische Einfluss die Ukraine nicht zerstört und dass Europa nicht in einen Krieg hineingezogen wird» (siehe Infosperber vom 28.1.2022). Das ist jetzt passiert: Russland zerstört die Ukraine.

Herfried Münkler, lange Professor für Politikwissenschaften an der Berliner Humboldt Universität erklärte zur Ukraine:

«Man kann feststellen, dass die Russen so etwas wie Einkreisungsängste haben. Diese haben schon immer bei der Entstehung von Kriegen eine bedeutende Rolle gespielt. Ein Mittel dagegen sind Pufferzonen. Sie dienen einer gewissen Stabilität und schaffen Flexibilität bei Verhandlungen zwischen Grossmächten.»

George F. Kennan, US-Diplomat mit Stationen in Moskau, Riga, Tallinn und Berlin und in der Folge Geschichtsprofessor an der Princeton University, warnte bereits 1997 – also noch bevor Polen, Tschechien und Ungarn in die Nato aufgenommen wurden: «Eine Erweiterung der Nato wäre der verhängnisvollste Fehler der amerikanischen Politik in der gesamten Ära nach dem Kalten Krieg. Es ist zu erwarten, dass eine solche Entscheidung die nationalistischen, antiwestlichen und militaristischen Tendenzen in der russischen Meinung anheizt … Die Russen sind wenig beeindruckt von den amerikanischen Versicherungen, eine Erweiterung der Nato finde ohne feindselige Absichten statt. Sie würden ihr Prestige (das in der russischen Meinung immer an erster Stelle steht) und ihre Sicherheitsinteressen als beeinträchtigt ansehen.»

Henry Kissinger, langjähriger US-Aussenminister, warnte vor einer verhängnisvollen Politik des Westens. Um die Sicherheitsinteressen Russlands zu respektieren, schlug Kissinger am 5. März 2014, wenige Tage vor der völkerrechtswidrigen Sezession der Krim, in der Washington Post vor (wörtliche Übersetzung):

  1. Die Ukraine sollte das Recht haben, ihre wirtschaftlichen und politischen Verbindungen frei zu wählen, auch mit Europa.
  2. Die Ukraine sollte nicht der Nato beitreten, eine Position, die ich 2007 vertrat, als dieses Thema das letzte Mal zur Sprache kam.
  3. Es sollte der Ukraine freistehen, eine Regierung zu bilden, die mit dem ausdrücklichen Willen ihres Volkes vereinbar ist. Auf internationaler Ebene sollten sie eine Haltung einnehmen, die mit der Finnlands vergleichbar ist. Dieses Land lässt keinen Zweifel an seiner starken Unabhängigkeit aufkommen und arbeitet in den meisten Bereichen mit dem Westen zusammen, vermeidet aber sorgfältig eine institutionelle Feindschaft gegenüber Russland.

(Vollständige Ausführungen Kissingers auf Deutsch hier)

John Mearsheimer, Politik-Professor von der University of Chicago äusserste im Jahr 2015 ähnliche Befürchtungen wie Henry Kissinger und schlug «im Interesse der Ukraine, der USA und Russlands» eine neutrale Ukraine vor. «Man stelle sich die Empörung in Washington vor, wenn China ein mächtiges Militärbündnis schmieden und versuchen würde, Kanada und Mexiko dafür zu gewinnen.» («The Causes and Consequences of the Ukraine Crisis»).

Die frühere ARD-Moskaukorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz, die über Russland mehrere Bücher schrieb, räumte ein, dass sie mit einem Angriffskrieg auf die ganze Ukraine nicht gerechnet habe. Doch sie denkt «nach wie vor, dass die Nato-Osterweiterung und die Missachtung russischer Sicherheitsinteressen stark dazu beitrugen, dass wir uns heute einem Russland gegenübersehen, das uns als Feind betrachtet». Krone-Schmalz gibt zu bedenken, «dass wir diesen Putin mitgeschaffen haben».

Es ist nachvollziehbar, dass die baltischen und osteuropäische Staaten die Sicherheit der Nato anstrebten. Doch seit 1989 gab es keine Anzeichen dafür, dass Russland diese Staaten militärisch bedroht. Die Osterweiterung der Nato war von Beginn weg ein Fehler. Hätte der Westen die russischen Sicherheitsbedürfnisse respektiert, wäre die Geschichte anders verlaufen.

Deshalb ist der fürchterliche Krieg in der Ukraine schon gar kein Beweis dafür, dass die Angst vor Putin schon immer berechtigt war, und dass die politischen und militärischen Falken recht hatten.

Einige Profiteure des Krieges …

Auch in einem Krieg gibt es Profiteure:

  • Die USA als Weltmacht, weil es auf absehbarer Zeit keine Annäherung zwischen der EU und Russland gibt;
  • Alle Grosskonzerne der USA und anderswo, die an der Herstellung von Rüstungsgütern beteiligt sind;
  • Die Fracking-Industrie in den USA. Sie wird dank höheren Erdöl- und Erdgaspreisen und dank mehr Exporten nach Europa wieder äusserst profitabel.
  • Russland, das sich in der Ostukraine Bodenschätze sichert.

… und einige Verlierer

  • Kriegsopfer und ihre Angehörigen sowie 44 Millionen Menschen in der Ukraine, die ein zerstörtes Land wieder aufbauen müssen und wahrscheinlich den Zugang zu wertvollen Rohstoffen verlieren.
  • Klimakrise: Statt genügend Ressourcen für Klimamassnahmen zu bündeln, werden Abermilliarden für Krieg, Aufrüstung, Zerstörung und Wiederaufbau verwendet. Der Krieg selber erhöht die CO2-Belastung.
  • Hungerkrise: Stark steigende Weizen-, Mais- und Düngemittelpreise führen namentlich in Afrika zu mehr Hunger, politischen Unruhen und mehr Flüchtlingen.
  • Finanzkrise: Die Notenbanken FED und EZB können sich zu Zinserhöhungen gezwungen sehen. Das treibt einige Länder und einige Finanzinstitute in den Ruin – mit unabsehbaren politischen und sozialen Folgen.
  • Alle sozial und wirtschaftlich Schwachen weltweit und in Europa: Sie werden unter den Preissteigerungen von Benzin, Gas, Heizöl und Grundnahrungsmitteln am meisten leiden.

*Urs P. Gasche ist Leiter der Informationsplattform «Infosperber». ZACKBUM hat den Artikel mit freundlicher Genehmigung des Autors übernommen.

Putin, allein zu Haus

Krachend gescheitert und in eine Sackgasse manövriert. Muss man mal hinkriegen.

Immerhin gibt es noch einige Stimmen, sogar bei Tamedia, die erklären, «warum Zurückhaltung in einem Krieg von Haltung zeugt». Denn zu sehr hat sich die Öffentlichkeit daran gewöhnt, dass die Unschuldsvermutung, das Prinzip «über jeden vernünftigen Zweifel erhaben» Skandalisierungen geopfert wird.

Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist das, was im ukrainischen Butscha passierte, ein Kriegsverbrechen. Mit Sicherheit ist die Position des Schweizer Aussenministers richtig, dass eine internationale Untersuchungskommission zu einem Ergebnis kommen muss, bevor der das Wort Völkermord benützt.

Wer – was selbstverständlich sein müsste – von einem «mutmasslichen russischen Kriegsverbrechen» schreibt, versinkt in Shitstorms vom Gröbsten. Der Irrwitz daran ist, dass uns genau diese Begriffe von Willkür und Barbarei trennen, wie sie in autokratischen Staaten wie Russland oder China herrschen. Während wir uns nach Kräften bemühen, mit Russland keine Handelsbeziehungen mehr zu haben, floriert der Handel mit China.

Dort wird gerade kein offener Krieg geführt, aber was mit den Uiguren passiert, in Tibet, mit Dissidenten, in welchem Ausmass hier die Gedankenkontrolle praktiziert wird, wie sie sich nicht einmal Orwell vorstellen konnte: na und? Auch über solche Heuchelei könnte man nachdenken. Kein russisches Gas mehr, dafür aber aus Katar. Emirat, die mittelalterliche Scharia ist Grundlage der Gesetzgebung, die Halbinsel ist berüchtigt für ihre Unterstützung der Muslimbrüder und Terrororganisationen wie der Hamas. Hat aber Erdgas in Hülle und Fülle.

Ebenso wie die meisten Alternativquellen für fossile Brennstoffe, angeführt vom Mörderregime in Saudi-Arabien, das eine Oppositionellen in der Botschaft umbringt und in Einzelteilen abtransportiert. Eine Diktatur, die seit Jahren einen grauslichen Krieg im Jemen führt. Oder Libyen. Oder der Irak. Alles grauslich und zum Reflektieren, wenn man gegen russische Exporte fäustelt.

Putin hat sich ohne Not in die Kacke manövriert

Aber das alles ist nichts gegen die Position, in die sich der russische Präsident ohne Not hineinmanövriert hat. In welchem Ausmass er sich in die Kacke bewegte, illustriert ein Vergleich der Situation vor dem Überfall auf die Ukraine mit heute. Er empfing an seinem lächerlich langen Tisch einen westlichen Führer nach dem anderen und machte seine Position klar, dass er definitiv gegen einen Eintritt der Ukraine in die EU oder gar die NATO sei.

Kleiner Mann, grosses Telefon.

Zudem könne keine Rede davon sein, die Krim oder die sogenannten autonomen Provinzen im Osten der Ukraine wieder diesem Staat einzuverleiben. Im Gegenteil. Diese Position hätte er höchstwahrscheinlich durchgekriegt. Denn so wie die USA ihren Hinterhof haben, so wie sich China mit abhängigen Staaten umgibt, so will auch Russland kein feindliches Militärbündnis an seiner Flanke. Und einen Beitritt in eine Wirtschaftsgemeinschaft, die ihre Überlegenheit gegenüber dem russischen Modell vorführte, das wäre auch schlecht fürs Geschäft und die Herrschaft.

Wie nachhaltig das gewesen wäre? Präsident Putin wird dieses Jahr 70; bis an sein Lebensende hätte das wohl gehalten. Und schon Fidel Castro sagte ganz richtig auf die Frage, was denn mit Kuba passiere, wenn er mal tot sei, dass man ihn doch wenigstens im Grab mit solchen Fragen in Ruhe lassen solle.

Nun hat sich Putin aus dieser relativ komfortablen Lage in die Katastrophe manövriert. Sein gefürchteter Geheimdienst FSB hat versagt und ein rosarotes Bild gemalt, dass die Ukrainer die russischen Befreier mit Blumen bewerfen würden und jubilieren, dass sie endlich das faschistische Joch von drogenabhängigen Desperados an der Regierung loswürden.

Versagt auf ganzer Linie

Der von Putin nicht ernst genommene Komiker von Gnaden eines ukrainischen Oligarchen wuchs in der Krise über sich selbst hinaus und zeigte sich als charismatischer Führer und erster Sieger im Propagandakampf. Die TV-Auftritte von Selenskyj sind mit bescheidenen Mitteln inszeniert, durchschlagend gut und die Narrative beherrschend. Auch wenn er mit seinen Forderungen nach einem direkten militärischen Eingreifen der NATO glücklicherweise auf taube Ohren stösst.

Viele Telefone um ein Nichts.

Dagegen sitzt im Kreml oder anderswo ein kleiner Mann an einem viel zu grossen Schreibtisch mit viel zu vielen Telefonen und spricht verkniffen ab Blatt. Benützt Fäkalsprache, stösst wilde Drohungen bis hin zu atomaren aus und kann bis heute keinen einzigen vernünftigen Grund nennen, wieso er die Ukraine überfallen hat.

Blamabel ist der Krieg für die russische Armee. Veraltetes Gerät, demotivierte Soldaten, die nicht mal genau wissen, wo sie sind und wogegen sie kämpfen. Schmerzliche Verluste, schändliche Angriffe auf zivile Ziele. Auch nach sechs Wochen ist das wichtigste Ziel, die Eroberung der Hauptstadt Kiew, in weiter Ferne. Wo sich russische Truppen zurückziehen müssen, offenbaren sich schreckliche Verbrechen.

Damit nicht genug. Durch die provozierten Sanktionen ist die russische Wirtschaft – und die Bevölkerung – schwer getroffen. So wie es für den Westen nicht blitzartig möglich ist, sich von der Abhängigkeit von fossilen russischen Rohstoffen zu trennen, ist es für Russland nicht möglich, blitzartig neue Abnehmer zu finden.

Dennoch wird diese Abnabelung stattfinden, zum grossen Schaden für beide. Aber der Westen hat entschieden mehr ökonomische Reserven als Russland. Ein Staat, der seine Einnahmen wie ein Drittweltland aus dem Export von Rohstoffen generiert, ausser Trollfabriken im Hightech-Bereich nicht viel zu bieten hat. Dazu über eine Armee verfügt, die kläglich an einem viel schwächeren Feind scheitert. Aber es bleibt das Atomwaffenarsenal.

Das Verhältnis für Jahre vergiftet

Wie auch immer der Ukrainekrieg beendet wird, und das wird er: Putin ist der grosse Verlierer. Es wird eine Generation, wenn nicht länger dauern, bis sich die bilateralen Beziehungen mit dem Westen wieder normalisiert haben. Wer in der Ukraine noch Sympathien für Russland hatte, hasst es inzwischen. Wer im Westen an Wandel durch Annäherung glaubte, vertraut Russland nicht mehr.

Kein Anschluss unter dieser Nullnummer.

Alle Vorurteile, der russische Bär, die Barbaren aus dem Osten, unzivilisierte militärische Horden, die marodieren, brandschatzen, vergewaltigen, töten – sie werden nach Kräften bedient. Putin ist krachend gescheitert. Die Frage ist nur, ob es für ihn einen gesichtswahrenden Ausweg gibt oder nicht. Ob es genügend starke Kräfte in Russland gibt oder nicht, die ihn von der Macht entfernen, was diesmal sicherlich nicht wie im Fall Gorbatschows mit Hausarrest beginnen würde.

Historische Vergleiche sind immer gefährlich und von beschränkter Aussagekraft. Hitler in seinem Führerbunker war am Ende überzeugt, dass das deutsche Volk den Untergang verdient, es sich seiner nicht würdig erwiesen habe. Hätte er, vor seinem Selbstmord, auf den roten Knopf der atomaren Zerstörung gedrückt, falls der vorhanden gewesen wäre? Die Antwort ist beängstigend.

Fordernde Kulturschaffende

Wenn Sie nicht nach Subventionen gieren, wollen sie anderen Unsinn.

Filmemacher Samir, eher konfliktiv im Subventionsgrab «Kosmos» in Zürich unterwegs, hatte mal wieder eine Idee. Man sollte doch unbedingt eine Forderung an den Bundesrat auf den Weg bringen.

Worum geht’s? Blöde Frage, die Ukraine natürlich. Denn: «Mit jedem Tag, an dem wir nicht entschieden gegen das Regime vorgehen, sterben mehr Menschen». Wer will das schon, also her mit der Entschiedenheit. Was tun? «Die Finanzierungsnetzwerke des Putinregimes austrocknen».

Wer sollte das tun? Die «geschätzten Damen und Herren Bundesrätinnen und Bundesräte» – das hat man vom Genderwahnsinn. Was sollten die vermeiden? «Dass sich unser Land abermals zum Komplizen von Verbrechern macht». Wie geht das? Mit der Schaffung einer «Task Force».

Das fordert eine Liste von Kulturtätern «im Namen der Menschlichkeit und der Verteidigung der Demokratie». Kleiner hat man es in diesen Kreisen nie. Zum einen sollen «komplexe Vermögensstrukturen aufgedeckt» werden. Zum anderen soll der «russische Rohstoffhandel nicht weiter ungestört über/via die Schweiz fliessen». Und schliesslich soll das Land «so schnell wie möglich von russischen Öl- und Gasimporten unabhängig» werden.

Unterzeichnet ist der von Samir in Umlauf gebrachte «Aufruf» von den üblichen Verdächtigen. Charles Lewinsky, Jonas Lüscher, der ihn getextet haben soll, von Brachial-Komiker Mike Müller, Adolf Muschg, Roger de Weck, Patrick Frey und einigen Möchtegerns.

Wie es sich für verkopfte Künstler und Kulturschaffende gehört, wird nicht ganz klar, was sie eigentlich wollen. Welche Finanzierungsnetzwerke Putins sollte es denn in der Schweiz geben? Offenbar sind damit Vermögenswerte von reichen Russen gemeint, die man denen doch einfach mal präventiv wegnehmen sollte. Warum? Weil sie Russen sind, darum.

Und reiche Russen sind bekanntlich Verbrecher, weiss doch jedes Kind. Falls sie es nicht sind, sollen sie das halt gefälligst beweisen. Unschuldsvermutung war gestern, die Schuld muss über jeden vernünftigen Zweifel bewiesen werden, im Namen der Menschlichkeit: hinweg mit solchem Pipifax.

Dann soll der Handel mit russischen Rohstoffen nicht mehr in der Schweiz stattfinden. Wieso, ist das plötzlich illegal geworden? Will sowieso niemand mehr russische Rohstoffe? Doch, die ganze EU will sie weiterhin. Also soll der Handel woanders stattfinden? Super Idee.

Die Schweiz ist überhaupt nicht von russischem Öl, aber zu fast 50 Prozent von russischem Gas abhängig und stellt damit ca. 8 Prozent unserer Energie her. Das kann substituiert werden, und daran wird gearbeitet. Nur nützt da ein «so schnell wie möglich» ungefähr gleich viel wie der Wunsch, dass es morgen nicht regnen möge.

Auch mit ihren begleitenden Bemerkungen zeigen die Unterzeichner ein erschreckend flaches intellektuelles Niveau. So sagt Millionenerbe Patrick Frey:

«Wir wissen, was die Schweiz im Dritten Reich nicht getan hat. Und wir möchten, dass sich die Schweiz für einmal wirklich anständig verhält.»

Schriftsteller Lüscher schwant ganz Übles, käme Putin mit seinen Absichten davon: «Die Faschisten, auch im Westen, werden Frühlingsgefühle verspüren. Der Militarismus und der unsägliche Heroismus werden sich zurückmelden. Die Demokratie ist enorm bedroht.»

Sind das aber nicht die Gleichen, die den Heroismus und militärischen Widerstandswillen der Ukrainer loben? Und wieso sollte die Demokratie bedroht sein? Von Putin oder von diesen Rabauken, die keine Ehrfurcht und keinen Respekt vor dem Rechtsstaat zeigen?

Was lehrt uns also dieser Aufruf? Schweizer Kunstschaffende und Intellektuelle haben von Eigentumsgarantie, Gewerbefreiheit und anderen Grundwerten der Menschlichkeit und Demokratie keine Ahnung. Sie behaupten, wenn sich die Schweiz wie ein Rechtsstaat verhält, mache sie sich zum Komplizen von Verbrechern. Daher wollen sie nichts weniger als ihn beschädigen.

Im Namen der Menschlichkeit: Herr, lass Hirn vom Himmel regnen. Und verteile vorher an alle Unterzeichner dieses Aufrufs ganz grosse Löffel.

World gone mad

Wohin flüchtet die Vernunft, wenn es dunkel wird?

Ihr Schlaf gebiert Ungeheuer, das wusste schon Goya, der die Augen vor den Desastern des Kriegs nicht verschloss.

Wenn die Welt richtig verrückt wird, kann man ihr nur noch mit Schweigen, mit Stammeln, mit Gelächter, mit Dadaismus begegnen.

Wenn ein Seminar über Dostojewski abgesagt wird, eine Aufführung von Rachmaninow, wenn sich russische Künstler vor oder nach ihrem Auftritt von ihrem Präsidenten distanzieren müssen, sonst gibt es keinen mehr im Westen. Wenn in Moskau Schweizer Luxus-Uhren beschlagnahmt werden, als Vergeltung für das Einfrieren russischer Guthaben im Westen.

Wenn Mode-Fuzzis und Fashion-Marken Blau-Gelb zu den Farben der Saison erküren. Wenn jedes kleine Würstchen meint, mit einem handgemalten Schild «No War in Ukraine» habe es einen Beitrag zum Weltfrieden geleistet. Wenn endgültig keine Meinungen mehr ausgetauscht werden können, sondern nur noch Haltungen der Inquisition zugeführt werden.

Wenn noch radikaler, brutaler und rabiater als bei der Pandemie vom herrschenden Narrativ abweichende Diskurse denunziert, verurteilt, abgeurteilt, ins Lager der irrationalen Verschwörungstheorien gesperrt werden.

Wenn nur noch Zeichen gesetzt, Grenzen gezogen, rote Linien gemalt werden. Wenn zwei Züge auf dem gleichen Gleis mit zunehmend Dampf im Kessel aufeinander zurasen – wer zuerst bremst, verliert: dann ist es wieder einmal so weit: die Welt ist verrückt geworden. Aus den Fugen geraten.

Vor einem allfällig bewaffneten Showdown gibt’s nun noch einen wirtschaftlichen. Russland will die Zahlung seiner Rohstoffe in Rubel. Die EU, der Westen verweigert das. Wenn keiner auf die Bremse tritt: ab Freitag keine Bezahlung mehr, dafür kein Gas und Öl mehr.

Hoffentlich nicht zum letzten Mal …

Die Welt ist aus den Fugen. Nicht zum ersten Mal und hoffentlich nicht zum letzten Mal. Denn was im Kalten Krieg manchmal mirakulös vermieden wurde, ist weiterhin jederzeit möglich: die atomare Vernichtung des Planeten.

Düstere Propheten kriechen aus ihren Löchern und sammeln Anhänger. Keiner zu klein, Kriegsgurgel zu sein. Schreibtischstrategen, Sandkastengeneräle, Kritikaster aus der zweiten und dritten Reihe, umweht vom Mantel der Geschichte, Bedeutung saugend aus Begriffen wie Zeitenwende, Zivilisationsbruch, nie dagewesen, neue Weltlage.

Sie fordern und verurteilen, kritisieren und wissen besser, wollen Hähne zudrehen, Flugverbotzonen einrichten, den Sturz Putins, die Niederlage Russlands.

Dabei ist es das älteste Schauspiel der Welt, seit sich der Mensch zu organisieren begann. Ein Mächtiger überfällt einen Schwächeren. Weil er’s kann und weil er nicht weiss, dass solche Eroberungen immer nur zeitgebundene Phänomene sind. Nationen haben eine unglaubliche Resilienz. Polen gab es für viele Jahrzehnte überhaupt nicht, in der jüngeren Geschichte. Dennoch ist es nie vollständig untergegangen.

Imperien sind traditionell zum Untergang verurteilt

Im Gegensatz zu länderübergreifenden Imperien. Das römische Reich, das Reich der Habsburger, das Dritte Reich, die Reiche der Kolonialmächte: alles vergangen, verweht. Nicht zuletzt die Sowjetunion, die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken. Immer strahlen diese Imperien den Anspruch aus, gekommen zu sein, um zu bleiben. Dabei sind sie vergänglich wie der Schnee vom letzten Jahr.

Wenn wir die hoffnungsvolle Idee der Aufklärung aufgeben, dass die Geschichte selbst sozusagen als Subjekt danach strebt, sich weiterzuentwickeln, vom Minderen zum Besseren, vom Barbarischen zum Zivilisierten, dann bleibt eigentlich nur das Rad, wie es Shakespeare unermüdlich beschrieb.

Das ewige Auf und Ab, der Aufstieg, der unweigerlicher in der Klimax und dem anschliessenden zermalmendem Abstieg endet. Begleitet von unendlichem Geschrei. Einem Geschrei, dass man sich wenigstens Stille wünscht.

In diese Stille würde man, könnte man es, das Selbstgespräch vortragen, das Macbeth mit sich führt, als ihm vom Tod der Lady Macbeth berichtet wird:

She should have died hereafter;
There would have been a time for such a word.
— To-morrow, and to-morrow, and to-morrow,
Creeps in this petty pace from day to day,
To the last syllable of recorded time;
And all our yesterdays have lighted fools
The way to dusty death. Out, out, brief candle!
Life’s but a walking shadow, a poor player
That struts and frets his hour upon the stage
And then is heard no more. It is a tale
Told by an idiot, full of sound and fury
Signifying nothing.

 

Wer eine Übersetzung benötigt:

Sie hätte später sterben können;
es hätte die Zeit sich für ein solches Wort gefunden. –
Morgen, und morgen, und dann wieder morgen,
Kriecht so mit kleinem Schritt von Tag zu Tag,
Zur letzten Silb der aufgezeichneten Zeit;
Und alle unsre Gestern erleuchteten Narren
Den Pfad zum staubigen Tod. Aus, kleines Licht!
Leben ist nur ein wandelnd Schatten,
Ein armer Komödiant, der spreizt und knirscht
Sein Stündchen auf der Bühne und dann nicht mehr
Vernommen wird. Ein Märchen ists, erzählt
Von einem Idioten, voller Klang und Wut,
Das nichts bedeutet.

 

 

Panoptikum der Heuchler

Verächtlicher als Putin sind nur unsere schreibenden Kriegsgurgeln.

Lassen wir aus juristischen Gründen Namen weg. Es gibt Besitzer und Benützer grosser Medienplattformen, die hemmungslos andere Menschen in den Tod schicken wollen.

Diese Sandkastenkrieger wollen NATO-Truppen in die Ukraine abkommandieren, fordern, dass das westliche Verteidigungsbündnis bei einem Nicht-Mitglied eine No-Fly-Zone durchsetze. Sie krähen mutig, dass man sich von russischen Drohungen, dass gewisse Aktionen mit einem Atomschlag beantwortet werden könnten, doch nicht in die Knie zwingen lassen darf.

Vor etwas mehr als hundert Jahren endete der Erste Weltkrieg. Es war der erste Krieg, in dem Propaganda flächendeckend eingesetzt wurde. In dem erkannt wurde, dass Erfolge auf dem Schlachtfeld durchaus wesentlich für den Kriegsverlauf sind. Aber die Beeinflussung der eigenen Bevölkerung auch.

Der Feind wird dämonisiert und entmenschlicht. Er ist grausam, barbarisch, unzivilisiert. «Jeder Schuss ein Russ», «Gott strafe England», solche Reime und Slogans wurden geboren, der Deutsche war der «Hunne», eine Bedrohung für die ganze Menschheit. Die Massenmedien wurden zu hysterischen Propagandaschleudern. Meistenteils freiwillig.

Rassistische Archetypen wurden angerufen. Jeder Angehörige einer Nation wurde kollektiv schuldig gesprochen. Nicht nur der Soldat war der Feind, jeder Russe, Deutsche, Engländer, Österreicher. Der Künstler, der Buchhalter, der Musiker. Wehe, wer auf der Strasse als Angehöriger einer feindlichen Nation erkannt wurde. Der Lynchmob drohte.

Was vor Kurzem noch fern schien, kommt näher und näher

Was für ein mutiger Mann war da John Heartfield, der Erfinder der politischen Fotomontage (Kindersoldaten: googeln). Er hiess eigentlich Helmut Herzfeld und benannte sich 1916 in Heartfield um – als Protest gegen den englandfeindlichen Nationalismus in Deutschland.

«Krieg und Leichen – die letzte Hoffnung der Reichen.» John Heartfield.

All dieses Geschrei, dieser Nationalismus und Patriotismus, diese Hetzer am Schreibtisch, das erschien uns bis vor Kurzem fern und unverständlich. Der russische Überfall auf die Ukraine löst aus, dass sich die Geschichte wiederholt. Wie kommen ansonsten zurechnungsfähige Schweizer Publizisten auf die perverse Idee, Soldaten in den Tod schicken zu wollen? Reicht es ihnen nicht, dass das der russische Präsident tut, den sie deswegen als wahnsinnigen Verbrecher verurteilen?

Der Unterstand im Ersten Weltkrieg.

Sind sie wirklich bereit, einen weltverschlingenden Atomkrieg zu riskieren, den ein militärischer Einsatz der NATO in der Ukraine ohne Weiteres auslösen könnte? Wollen sie sich wirklich zu «Masters of War» aufschwingen, über die schon Bob Dylan sang, dass ihnen nicht einmal Jesus vergeben würde?

In der Blutmühle von Verdun.

Sind sie einfach verantwortungslos, weil sie wissen, dass ihr Wort nicht zählt? Ist ihnen bewusst, dass ihre markigen Forderungen nach Beschlagnahmung aller «Russengelder» in der Schweiz, nach sofortigem Stopp von Handelsgeschäften an den Grundfesten unseres Rechtsstaats rütteln? An der Eigentumsgarantie und der Gewerbefreiheit?

Dass niemand seine Unschuld beweisen muss und schuldig sei, bis er das widerlegen kann? Dass das Abfordern von Bekenntnissen für und gegen ein Rückgriff in die Zeiten der mittelalterlichen Inquisition ist?

Hat natürlich niemand gewollt. Niemals.

Ist diesen Heuchlern nicht bewusst, wie wohlfeil Kriegsgeschrei aus mit russischem Gas beheizten Redaktionsstuben ist? Die Heimfahrt im mit raffiniertem russischen Öl betriebenen Schlitten? Ist ihnen nicht bewusst, wie entlarvend es ist, wenn sie auf die Frage antworten, was sie denn persönlich – ausser andere in den Tod schicken wollen – so täten, um zu helfen, dass sie dann schon mal spenden werden, irgendwann in der Zukunft?

Ist diesen Heuchlern bewusst, dass die Konzentration auf die friedliche Forderung, sofort jegliche Handelsbeziehungen mit Russland einzustellen, die wirksamste Waffe gegen den Ukraine-Krieg ist? Das wäre aber mit eigenen, nicht mit fremden Opfern verbunden.

Der Präsident der Ukraine hat alles Recht der Welt, auf dem Klavier der Propaganda, der PR, der rhetorischen Kriegsführung zu spielen. Er hat den Propagandakrieg gegen Russland haushoch gewonnen. Die Schweizer Medien, und nicht nur die, haben ihn elend verloren. Was nach Covid noch an Reputation vorhanden war, geht gerade in den Orkus.

Die Visuals dieses Artikels sind nichts für schwache Nerven. Aber sie bebildern, was in letzter Konsequenz passiert, wenn jemand den feigen Kriegsrufen in unseren Medien Folge leisten würde. Dass sich diese heuchlerischen Kriegsgurgeln damit der völligen Lächerlichkeit aussetzen, ist ihnen, das ist wahrhaft Anlass für homerisches Gelächter, nicht einmal bewusst in ihrer bedeutungsschweren Aufgeblasenheit.

Dr. Strangelove lebt

Der richtige Moment, an einen genialen Film zu erinnern.

ZACKBUM versteht sich nicht zuletzt als bürgerliche Bildungsanstalt. Wir versuchen immer wieder, bedenkliche Lücken und Krater in der Allgemeinbildung der Leserschaft im Allgemeinen und von Medienschaffenden im Speziellen zu schliessen.

Mit gelegentlichen Hinweisen auf Egon Erwin Kisch, Lincoln Steffens, Kurt Tucholsky, Karl Kraus, Joseph Roth, Carl von Ossietzky und andere unerreichbare Vorbilder. Da ist bei den Journalisten meistens Hopfen und Malz verloren; selbst der geschenkte Kindle verstaubt in der Ecke, ein reales Buch, das hat meist mehr als sieben Siegel.

Also probieren wir es doch visuell, im Zeitalter von YouTube. Ein genialer Film des in einer Liga für sich spielenden Stanley Kubrick aus dem Jahre 1964 hat niemals seine Aktualität verloren. Aber seit der Invasion in der Ukraine bekommt er geradezu prophetische Gaben.

Wir sprechen natürlich von «Dr. Strangelove or: how I learned to stop worrying and love the bomb». Schon zu Zeiten des Kalten Kriegs konnte man der gegenseitigen Fähigkeit der beiden Supermächte USA und UdSSR, sich gegenseitig und dabei die ganze Welt zu vernichten, nur mit einer Satire beikommen. Denn wie sonst sollte man das Prinzip beschreiben, das der Welt das Überleben garantierte, dessen Abkürzung nicht umsonst MAD (für verrückt) lautete: mutual assured destruction. Gegenseitig versicherte Zerstörung, Gleichgewicht des Schreckens, oder einfach:

Wer zuerst auf den roten Knopf des Atomschlags drückt, stirbt als Zweiter.

Peter Sellers als US-Präsident.

In handlichen 93 Minuten wird diese Story erzählt: der geistesgestörte und impotente US-General Jack D. Ripper (Sterling Hayden in seiner wohl besten Rolle) erteilt den ihm unterstellten B-52-Bombern den Befehl, die Sowjetunion mit Atombomben anzugreifen. Im War Room wird daraufhin der US-Präsident davon unterrichtet (eine der insgesamt vier Rollen von Peter Sellers). Ein wilder General (grossartig George C. Scott) schlägt vor, gleich alles hinterherzuschicken, um die Chance zu ergreifen, die Roten ein für alle Mal fertigzumachen.

Sterling Hayden als Jack D. Ripper.

Unaufhaltsam dem Ende entgegen

Der Präsident informiert stattdessen die Sowjetunion über den Fehlangriff. Die teilt aber mit, dass sie eine Weltvernichtungsmaschine konstruiert habe, die auf einen solchen Angriff automatisch und nicht aufhaltbar mit dem totalen atomaren Gegenschlag reagieren würde. Daraufhin wird der Luftwaffenstützpunkt des verrückten Generals zurückerobert, und es gelingt, den Code für den Rückruf der Richtung UdSSR fliegenden Bomber zu behändigen.

Peter Sellers als Captain Kong.

Alle kehren daraufhin um, aber das Flugzeug des texanischen Captains «King» Kong wurde von einer Abwehrrakete getroffen, die seine Funkanlage zerstörte. Also fliegt die Maschine weiter. Kong löst höchstpersönlich den Abwurf der Atombombe aus, sitzt rittlings auf ihr und schwingt dabei seinen Cowboyhut.

Peter Sellers als Dr. Seltsam.

Währenddessen hat im War Room Dr. Seltsam seinen grossen Auftritt. Der ehemalige Nazi, nun im Dienst der USA, sitzt im Rollstuhl und erklärt, wie es möglich sein wird, in Bergwerken zu überleben und dort in den nächsten hundert Jahren die Zukunft der US-Gesellschaft zu sichern. Gelegentlich reckt er seine rechte Armprothese zum Hitlergruss, und am Schluss seines Vortrags stemmt er sich aus dem Rollstuhl und schreit: «Mein Führer, ich kann wieder gehen.»

George C. Scott als wilder General.

Der Film endet, untermalt vom Kriegsschlager «We’ll meet again», mit einer apokalyptischen Abfolge von Atombombenexplosionen.

Das war der Moment, wo die Satire ihre volle Wucht entfaltete. Denn gekitzelt von einer dichten Abfolge satirischer Szenen, die immer wieder Gelächter auslösen, bleibt dem Zuschauer hier das Lachen in der Kehle stecken.

Peter Sellers als englischer Verbindungsoffizier mit Ripper.

Denn alle Archetypen solcher Entscheidungen sind in diesem Film versammelt. Der impotente General, der willige Befehlsempfänger, der rücksichtslose Feldherr, der mit Skrupeln beladene oberste Entscheider, der verrückte Wissenschaftler. Vor allem aber die geradezu maschinell-präzise Verkettung sogenannter unglücklicher Umstände, die am Schluss zum unvermeidlichen Ende im atomaren Feuersturm führt.

Der Film ist, ein schwerer Schlag für die Gratis-Generation, im Internet nicht umsonst zu haben, kann aber mit wenigen Handgriffen gekauft und gestreamt werden. Diese anderthalb Stunden seien jedem (und jeder, auch Non-Binäre sind inkludiert) ganz warm ans Herz gelegt.

Peter Sellers als der verkörperte Wahnsinn.

Ähnlichkeiten mit realen Personen und Ereignissen sind nicht zufällig

Man sollte sich an den Film erinnern, wenn man den ukrainischen Präsidenten hört, der eine No-Fly-Zone über der Ukraine fordert, durchgesetzt von der NATO. Die das (bislang) zurückweist, weil es eine direkte Konfrontation mit Russland bedeuten würde. Man sollte sich daran erinnern, wenn der polnische Vizeregierungschef Kaczynski eine «NATO Friedensmission» fordert. Konkret ein bewaffnetes Eingreifen von NATO-Truppen auf dem Territorium der Ukraine.

Denn leider ist es so, dass alle die von Kubrick karikierten Typen von Entscheidungsträgern nicht nur schwarzweiss in diesem Film existieren. Sondern auch heute in Fleisch und Blut. Farbig in der Realität, aber genauso durchgeknallt wie Dr. Seltsam und Konsorten. Natürlich, dazu gehört auch der russische Präsident Wladimir Putin, zuvorderst sogar.

Denn er ist jetzt schon der grosse Verlierer, unabhängig davon, ob er den Krieg militärisch gewinnt oder nicht. Und Verlierer neigen zu irrationalen Reaktionen. Genau wie Kriegsgurgeln im Westen, während der ukrainische Präsident wenigstens mildernde Umstände bei seiner Forderung geltend machen kann. Deren Umsetzung aber die Welt ebenfalls einen kräftigen Schritt näher an die atomare Zerstörung bringen würde.

Denn was in diesem Film ganz harmlos beginnt, ist auch heute oberflächlich betrachtet harmlos. 2000 Kilometer von der Schweiz entfernt (24 Autostunden, ohne Schikanen) herrscht Krieg, wird um die Hauptstadt Kiew gekämpft. Lokal, ohne Einsatz von Atomwaffen. Gefährlicher war schon die Eroberung eines ukrainischen AKW, von denen es noch – neben Tschernobyl – drei weitere gibt. Deren mögliche Zerstörung würde eine atomare Katastrophe auslösen.

Oberhalb davon ist der Mechanismus der gegenseitigen Eskalation, die auch mal MAD ausser Kraft setzen kann. Denn MAD ist schon verrückt, aber richtig Verrückte könnten sich auch verleitet sehen, tatsächlich einen atomaren Schlagabtausch zu riskieren. Vielleicht sollte man daher den Film nicht am späten Abend schauen …