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Zum Beispiel Mansour

Oder wie man knapp einer öffentlichen Hinrichtung entgeht.

Das Geschäftsprinzip aller asozialen Plattformen und auch vieler Internetblogs ist die Haftungsfreiheit und Verantwortungslosigkeit. Normalerweise haften Medien nicht nur für ihre eigenen Aussagen, sondern auch für die von Kommentarschreibern oder freien Mitarbeitern.

Das ist bei Facebook, Twitter und Co. anders. Die haben sich durch geschicktes Lobbying eine Ausnahmeregelung im Rechtsstaat USA erkämpft, die sie als blosse Transporteure von der Haftung für Inhalte freistellt. Dafür verwendeten sie so absurde Argumente wie das, dass es gar nicht möglich sei, die Unzahl von täglichen Posts alle auf allfällig strafbare Aussagen zu überprüfen.

Ähnlich schwierig ist es, gegen Blogs vorzugehen, wenn die als Adresse eine ferne Jurisdiktion angeben. Wie zum Beispiel «Hyphen», ein englischsprachiges «News- und Kultur-Magazin, das Storys über Asien Amerika» erzähle, mit Sitz irgendwo in Kalifornien.

NZZ-Redaktor Oliver Maksan erzählt die Geschichte nach, wie beinahe ein Rufmord am deutsch-israelischen Autor und Wissenschaftler Ahmad Mansour gelang. Er hat sich mit seinen Postionen gegen islamischen Fundamentalismus, Islamismus und islamischen Antisemitismus viele Feinde gemacht.

Im vorher im deutschen Sprachraum weitgehend unbekannten Blog «Hyphen» erschien im Juni 2023 eine umfangreiche publizistische Hinrichtung Mansours durch den britischen Autor James Jackson, der in Deutschland lebt. Auf Twitter fasste Jackson seine Anklagen zusammen: «Ein Grossteil seiner Hintergrundgeschichte ist übertrieben oder erfunden. Er war nie ein Muslimbruder, der Imam war kein Imam, er hat nicht Psychologie an der Universität Tel Aviv studiert». Dafür habe Jackson monatelang recherchiert, mit Familie und Weggefährten gesprochen sowie Mansours Heimatort besucht, fasst Maksan zusammen.

Das wäre ein Reissack gewesen, der in China umfällt. Wenn nicht ein FAZ-Redakteur diesen Tweet aufgenommen hätte und Mansour inquisitorisch aufgefordert, dazu Stellung zu nehmen.

«Ein Sturm der Entrüstung entlud sich über Mansour. Mansour, der seit 2004 in Deutschland lebt, hat sich schliesslich viele Feinde gemacht. Universitäre Integrationsexperten rümpfen die Nase über den omnipräsenten Praktiker. Für Vertreter des politischen Islams und ihnen im Namen der Antidiskriminierung beispringende Unterstützer von links ist Mansour seit Jahren ohnehin ein rotes Tuch. Ein Araber, der gegen islamisch motivierten Antisemitismus und die Delegitimierung Israels kämpft, hat zudem die antizionistische BDS-Bewegung gegen sich», resümiert Maksen.

Mansour beginnt, sich zu verteidigen, räumt klitzekleine Ungenauigkeiten ein, verschickt schliesslich ein 21-seitiges Dossier an Medien und Kunden seiner Beratungsfirma, in dem er detailliert eine ganze Latte von Falschbehauptungen Jacksons richtigstellt. Das überzeugt dann die «Süddeutsche Zeitung». Nicht zuletzt, um der Konkurrenz FAZ eine reinzuwürgen, tischt sie die Vorwürfe Jacksons ab und stellt sie sich auf die Seite Mansours. Damit neigt sich Waage der öffentlichen Meinung nun auf dessen Position. Schwein gehabt, wenn man das in diesem Zusammenhang sagen darf.

Allerdings: «Hyphen» hat den entsprechenden Artikel immer noch nicht gelöscht oder richtiggestellt, trotz anwaltlicher Aufforderung. Denn da das Stück auch in Deutschland abrufbar ist, hat Mansour hier einen Rechtsstand. Aber: «Das Onlinemagazin hat das Entfernen des Artikels an eine Bedingung geknüpft: Mansour dürfte nicht mehr auf den Vorfall aufmerksam machen. Damit wären zwar die monierten Behauptungen aus der Welt. Mansour aber hätte einem Maulkorb in eigener Sache zugestimmt», schreibt die NZZ. Auf Anfrage sage «Hyphen» nur, man sei in Verhandlungen mit Vertretern Mansours.

Die NZZ schliesst:

«Epilog: Mansour selber ist bestürzt, wie bereitwillig den Behauptungen über ihn geglaubt worden ist. Er sitzt in einem italienischen Restaurant in Berlin-Charlottenburg und schaut auf die grösste Krise seines bisherigen Berufslebens zurück. «Das hätte auch böse enden können», sagt er dann.»

«Hyphen» ist übrigens der englische Ausdruck für Viertelgeviertstrich oder Kurzstrich, der als Binde- oder Trennstrich verwendet wird. Irgendwie zutreffend.

Ach, natürlich nimmt auch die Nonsens-Plattform «watson» das Thema auf. Im gewohnten Qualitätsniveau:

Das «vermeintliche Foto seines Diploms» – gemeint ist wohl «das Foto seines vermeintlichen Diploms», aber Deutsch und «watson», ein ständiger Auffahrunfall – ist von der Humboldt-Universität Berlin als echt bestätigt worden. Aber eben, recherchieren war gestern, behaupten ist heute.

Hat der Mann Mansour ein Glück, dass er nochmal knapp davonkam. Aber leider reiner Zufall, es hätte wirklich auch bös enden können.

Whataboutism

Gegenfrage und Themenwechsel. Die Königsdisziplin der Betroffenen.

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Der Vergleich lag so nahe, dass ihm Simon Widmer von Tamedia nicht widerstehen konnte: «Analyse zum Titanic-.Tauchboot: die toten Migranten haben mehr Anteilnahme verdient». Ist das so? Weil sie mehr sind?

Hält Widmer einer fühllosen Gesellschaft den Spiegel vor, blicken wir in eine teilnahmslose Fratze? Auch Adrian Kreye von der «Süddeutschen Zeitung» macht sich seine Gedanken: «Über die vermutlich 500 Flüchtenden, die vor Griechenland starben, weiß man nur wenig.» Dabei sei es «das Sinnbild des herzlosen Nordens , der nicht bereit ist, die Menschen zu retten, die aus dem Süden vor Krisen wie Krieg, Klima oder Armut fliehen mussten, an denen der Norden oft Mitschuld hat».

Ähnlich sieht das auch Widmer: «Das Schicksal der superreichen Titan-Passagiere treibt viele mehr um als der Tod von Hunderten Migranten.» Interessante Beobachtungen von zwei Mitmachern. Zwei Journalisten. Über die U-Boot-Tragödie erschienen in den letzten sieben Tagen 684 Artikel. Über die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer im letzten Monat ganze 31. Also beklagen die beiden etwas, woran sie selber mitbeteiligt sind.

Denn statt zu klagen, hätten sie ja den toten Flüchtlingen im Mittelmeer mehr Aufmerksamkeit verschaffen können. Stattdessen fällen sie moralische Werturteile über etwas, woran sie selber schuld sind.

Daraus entsteht dann dieser unsägliche Whataboutism, wofür es kein adäquates deutsches Wort gibt. Diese Leiter kann man beliebig hinaufsteigen. Wieso gibt es im vergangenen Monat über 15’000 Meldungen zur Ukraine, lediglich 522 zum Sudan? Findet denn dort kein Krieg statt, mit Massakern, Verwüstungen, Flüchtlingen, Elend, Misere?

Und whatabout die 10’000 Kinder, die jeden Tag an Hunger oder leicht heilbaren Krankheiten sterben? Ein Massenmord, wie Jean Ziegler nicht müde wird zu betonen.

Und whatabout die Millionen Menschen in Armut, im Elend, die Ausgebeuteten, Erniedrigten, Geknechteten, Versklavten, die Kinderarbeiter ohne Zukunft, die Sweat Shops, wo die T-Shirts all der besorgten Gutmenschen genäht werden, die in der Schweiz jährlich ein Trinkgeld für nachhaltig hergestellte Kleider ausgeben?

Während aber Kreye sich wenigstens allgemein Gedanken über das Missverhältnis in unserer Aufnahmefähigkeit von Tragödien macht, fordert Widmer ultimativ «mehr Teilnahme». Ohne das allerdings begründen zu können. Das Problem fällt ihm selber auf, also versucht er es mit untauglichen Hilfskonstruktionen: «Vom missglückten Tauchgang des Titanic-Tauchbootes lassen sich über den Fall hinaus nur wenige Lehren ziehen.» Das mag so sein. «Beim Schiffsunglück im Mittelmeer stellt sich hingegen eine ganze Liste an juristischen, politischen und moralischen Fragen.» Auch das mag so sein.

Was für Lehren will Widmer daraus ziehen? Am Schluss wird’s absurd: «Und selbstverständlich bleibt zu hoffen, dass alle Titan-Passagiere doch noch lebend geborgen werden können. Doch dieselbe Anteilnahme haben auch die Flüchtlinge verdient, die in der vergangenen Woche ertrunken sind

Welche Anteilnahme haben nun die Flüchtlinge verdient? Die Hoffnung, dass auch sie noch lebend geborgen werden könnten? Nein, sie sind tot, wie die Besatzung des U-Boots, wie man inzwischen weiss. Anteilnahme ist nicht das Gleiche wie Lehrenziehen. Abstrakte Anteilnahme ist wohlfeil, die Forderung danach ist geradezu schäbig, wenn sie ein Journalist äussert, der Bestandteil der Erregungsbewirtschaftung um das U-Boot ist. Statt sich an seine Redaktionskollegen zu wenden, erhebt er gegenüber der Öffentlichkeit den Mahnfinger. Dabei liest und diskutiert die doch nur, was ihr Widmer, Kreye und Kollegen servieren.

Widmer ist auch schon ganz woanders. Er erklärt den Lesern die abgeschriebenen Wirren um ein Kindermädchen in Kolumbien. Statt den Schicksalen der ertrunkenen Flüchtlinge nachzugehen.

Heinrich Pestalozzi soll gesagt haben: «Wohltätigkeit ist das Ersaufen der Gerechtigkeit im Güllenloch der Gnade.» Dazu passt:

Anteilnahme ist das Ersaufen der Abhilfe im Güllenloch der Gefühlsduselei.

Wolkig, sehr wolkig

Altes Wasser in neuen Schläuchen beim Tagi.

Man habe dies und das geändert, gibt die Redaktion stolz bekannt. Also schauen wir mal, ob jemand wirklich bereit ist, für dieses Produkt Fr. 4.60 auszugeben.

Denn im Gegensatz zur Meinung vieler Redaktoren ist die Welt und das Publikum nicht auf ihre Meinung angewiesen oder kann sich ein Leben ohne gar nicht vorstellen. Sondern die Frage ist ganz einfach: bekommt der Konsument genügend Gegenwert für sein Geld?

Beginnen wir mit einem Quervergleich. Wir drehen das Rad der Zeit 25 Jahre zurück. Wie sah denn die Ausgabe des «Tages-Anzeiger» am 22. Juni 1998 aus?

Damals bekam der Konsument satte 75 Seiten geliefert. Für Fr. 2.20 Kioskpreis. Und heute? Heute sind es noch 32 Seiten. Das war damals ein Seitenpreis von rund 3 Rappen. Heute sind wir bei 14,5 Rappen pro Seite. Also fast eine Verfünffachung. Dafür ist der Inhalt dann sicherlich auch fünfmal besser, dichter, kompakter, einfach mehr Qualität. Na ja:

Heute haben wir Anrisse, Anrisse und nochmal Anrisse auf der Front. Plus eine mässig lustige, dafür riesige Karikatur und ein mässig interessanter Artikel als Rehash über die Folgend es angekündigten Rücktritts von Alain Berset.

So geht’s dann auch auf den Seiten zwei und drei weiter. Ein mässig interessanter Kommentar der Chefredaktorin Raphaela BirrerDas ist für die SP ein gefährlicher Zeitpunkt»), ein überdimensioniertes Foto eines Berset, der in New York auf einem Randstein sitzt (x-mal verwendet, Gähnfaktor 10), plus ein mässig interessanter Text der beiden Koryphäen Philipp Loser und Markus Brotschi. Selbst wenn man mit der Corona-Politik Bersets nicht einverstanden war: das hat er nicht verdient.

Auch auf Seite 4 ist der Tagi monothematisch; die möglichen Nachfolger. Ein mässig interessanter Text mit Altbekanntem von Charlotte Walser (die schon die Front bestreiten durfte), Markus Häfliger und Iwan Städler.

Seite 6 ist dann die Lieblingsseite der Journalisten: «Meinungen». Allerdings: alles Leihmeinungen. Peter Burghardt von der «Süddeutschen Zeitung» wirft sich für den ungeratenen Sohn des US-Präsidenten Biden in die Bresche, als wäre er dessen Wahlkampfleiter: «Kein Vergleich mit den Taten Trumps». SZ-Autor Arne Perras wirft immerhin ein Schlaglicht auf den Krieg im Sudan («Die Gleichgültigkeit wird sich für Europa rächen»). Und schliesslich fordert Damian Müller (Luzerner FDP-Ständerat) «klare Signale in der Asylpolitik». Der Tagi selbst bleibt hier meinungslos.

Eine schlappe Seite Wirtschaft, eine Seite Börsenkurse, eine Seite Ausland, Doppelseite Ukraine-Krieg. Dann nochmal Ausland, Simon Widmer regt sich darüber auf, dass das verschollene Tauchboot mit 5 Insassen mehr Aufmerksamkeit erziele (unter anderem beim Tagi) als die Flüchtlingstragödie im Mittelmeer.

Der «Zürich»-Teil macht mit der abgehangenen Story «Zürichs Ländereien in Deutschland» auf; hoffentlich bleibt da noch etwas für später, wenn man alle Sommerloch-Artikel jetzt schon verballert. Seite 16 präsentiert die «Wochen-Hits» der Migros, immerhin hoher Nutzwert.

Sport ist halt Sport, dann kommt «Kultur & Gesellschaft», das Sammelgefäss für alles Übriggebliebene, neu auch Reisen und so weiter. Ein Interview mit einer englischen Bestsellerautorin von einer Münchner Autorin der SZ, schon wieder Eigenleistung null. Dann das Nachtreten von Andreas Tobler gegen den Ex-Chefredaktor der NZZaS, ein entsetzlich peinliches Stück.

Autoseite, Rätsel, Wetter und schliesslich noch «Wissen»: «So erkennen Sie, ob Hagel droht». Und tschüss. Das waren bereits die 32 Seiten.

Kann man nun sagen, dass sich der fünffache Seitenpreis im Vergleich zu 25 Jahre zurück lohnt? Kann man wohl nicht sagen. Kann man sagen, dass sich dieser Seitenpreis dafür lohnt, dass vieles, allzu vieles von der SZ in München übernommen wird, inklusive deutsche Meinungen? Kann man wohl nicht sagen.

Kann man sagen, dass die Strategie – weniger Inhalt, weniger Eigenleistung für deutlich mehr Geld – zukunftsträchtig ist? Kann man nicht sagen. Kann man sagen, dass weitere Millioneneinsparungen zu einer deutlichen Qualitätsverbesserung beitragen werden? Kann man sicher nicht sagen.

Kann man sagen, dass nach der Corona-Peinlichkeit, der Ukraine-Einseitigkeit, die kritiklose Akklamation der Klimapolitik die Glaubwürdigkeit des Tagi steigern wird? Kann man nicht sagen.

Kann man schliesslich sagen, dass die Mischung aus Häme gegen Konkurrenten und das Totschweigen eigener Skandale in eigenen Glashaus bei den Lesern gut ankommt? Kann man nicht sagen. Kann man sagen, dass das Aufdrängen der eigenen Meinung (wenn sie mal dürfen) so vieler Redaktoren, das Herumreiten auf einer angeblich gendergerechten Sprache, obwohl das der überwältigenden Mehrheit der Leser!Innen** schwer an einem gewissen Körperteil vorbeigeht, die Leser-Blatt-Bindung erhöht? Kann man nicht sagen.

Was kann man dann über den Tagi noch sagen? Bis zum Skelett abgemagert, will er Haut und Knochen exorbitant teuer verkaufen. Das kann nicht gutgehen. Nicht nur diejenigen, die der nächsten Sparrunde zum Opfer fallen werden, sollten sich schon jetzt nach einer neuen Stelle umschauen. Die Schlaueren tun das schon längst.

 

Die Abschreiber Reloaded

Tamedia im ungebremsten Sturzflug.

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Langsam gehen die Metaphern aus. Das hier ist das Original:

Und das hier die Kopie, die Tamedia zahlenden Lesern serviert:

Man beachte zunächst die feinen Unterschiede. Während in der «Süddeutschen Zeitung» der Titel eine allgemeine Abhandlung einleiten will, arbeitet Tamedia mit einem vermeintlichen Zitat und stellt im Lead eine steile Behauptung auf, es gebe die «vorherrschende Haltung: Die Frauen tragen selber Verantwortung dafür, was sie tun».

Das ist wieder saukomisch. Denn: tragen sie die nicht? Wenn nein, wer dann? Sind Frauen also doch männlich dominiert, bestimmt, willenlos? Das will wohl nicht einmal Tamedia, unter weiblicher Leitung, seinen Lesern sagen.

Worum geht es hier eigentlich? «Um den Verdacht auf mutmasslichen sexuellen Machtmissbrauch gegenüber Fans der Band Rammstein und deren Sänger Till Lindemann». Das schmecke man ab: «Verdacht auf mutmasslichen sexuellen Missbrauch». Also um luftige Verdachts- und Vermutungsberichtertstattung, die lediglich mit anonymen Aussagen unterfüttert ist. Eigentlich eine Schande für seriösen Journalismus.

Was macht nun der SZ-Autor Joachim Hentschel? Er erzählt eine «Geschichte zum Beispiel, die im Dezember 1970 in München spielt». Dann erzählt er eine Geschichte «um 1995, privater Rahmen, eine Mitbewohnerin erzählt». Dann faselt er von «Row One», der Fachmann für Groupie-Fragen weiss nicht mal, dass das «Row Zero» heisst …

Dann nudelt er Uschi Obermaier und andere berühmte Groupies aus der Geschichte durch. Um zur merkwürdigen Zwischenbilanz zu kommen: «Niemand würde diesen Frauen absprechen wollen, ihre Situationen weitgehend unter Kontrolle gehabt zu haben.» Ja was denn nun? Logik ist seine Sache nicht wirklich, denn nach all diesem Vergangenheitsschrott versteigt sich Hentschel zum Diktum: «Das grösste Problem, und hier liegt am Ende der toxische Kern der Sache: Auch viele Musiker scheinen 2023 noch in dieser rückschrittlichen, aus der Muffkiste des Rock’n’Roll gekrochenen Illusion zu leben.»

Dass die Gedankengänge etwas abgehackt bei Tamedia wirken, liegt wohl auch daran, dass der Originaltext von 10’679 A in der SZ auf 6075 A in der Printversion des Tagi zusammengehackt wurde. Damit die Seite dennoch voll ist, hat Tamedia noch ein zweites Stück drangeklebt: «Rammstein in der Schweiz: Der Veranstalter schweigt noch immer». Auch das liegt höchstens im Streubereich der Wahrheit, um es höflich zu formulieren.

Oder wie Martin Burkhalter und Ane Hebeisen schreiben, denn auch für diesen Pipifax müssen zwei Fachkräfte ran: «Die kruden Fakten zuerst: Die beiden Rammstein-Konzerte in Bern am Samstag, 17., und Sonntag, 18. Juni, werden – Stand heute – stattfinden.»  Was soll an zwei Konzertterminen roh, grob oder unverdaulich sein? Aber Sprachbeherrschung war früher mal.

Stimmt wenigstens die Aussage, dass der Veranstalter schweige? «Die Gadget abc Entertainment Group AG hat gegenüber dieser Redaktion auf eine erneute Anfrage wiederum damit geantwortet, dass man die Geschehnisse verfolge und zu den erhobenen Anschuldigungen keine Stellung beziehe.»

Wie geht das? «noch immer schweigen», aber «wiederum antworten»? Logik war gestern, mit dem Titel dem Lauftext eins in die Fresse hauen, das ist heute. Aber der Platz ist noch nicht voll auf der Seite, also muss weitergelabert werden. Es gäbe noch «vieles zu klären». Zum Beispiel? «Die Frage, ob es üblich ist, dass aus den Fanreihen Frauen für Backstage-Partys quasi ausgewählt werden

Nein, üblich ist, dass Lose an alle Konzertbesucher verteilt und die Gewinner jeweils vor der letzten Zugabe ausgerufen werden. Üblich ist, dass die «Row One» wie das Musikexperte Hentschel formulieren würde, mit kleinwüchsigen Menschen gefüllt wird, damit auch die ungehinderten Blick auf die Bühne haben.

Es ist auch verflixt, die beiden Autoren müssen noch mehr Zeilen schinden: «Aber auch auf ganz praktische Fragen gibt es bislang keine Antwort. Etwa auf jene, ob man sich sein Ticket zurückerstatten lassen kann, wenn man jetzt keine Lust mehr auf ein solches Konzert hat

ZACKBUM hätte die praktische Frage, ob man sein Geld zurückerstatten lassen kann, wenn man keine Lust mehr auf solche Texte hat. Allerdings ist die «ganz praktische Frage» ganz gaga. Seit wann soll «kä Luscht» ein ausreichender Grund sein, ein Ticket zurückgeben zu dürfen? Oder halt, es wurden ja schon Konzerte abgebrochen, weil sich Zuhörer plötzlich «unwohl» fühlten. Gab aber kein Geld zurück  …

Nun kommt auch hier die Climax, der Höhepunkt: «Es herrschen patriarchale, oft toxische Strukturen. Der Unterschied ist, dass im Musikbusiness immer noch weitgehend darüber geschwiegen wird, was alles hinter verschlossenen Türen passiert

Was die beiden Fachleute nicht alles wissen. Martin Burkhalter ist Redaktor bei der «Berner Zeitung», Co-Leiter Berner Literaturfest und Mitarbeiter Internationales Literaturfestival Leukerbad. Wenn die Angaben auf seiner lange nicht aktualisierten Webseite noch stimmen. Ane Hebeisen ist Musikredaktor beim «Bund» (gibt’s den eigentlich noch?). Zwei ausgewiesene Kenner des internationalen, toxischen Musikbusiness.

In heller Verzweiflung hangeln sich die beiden dann zum Schluss; bei den Münchner Konzerten seien «Row Zero» und After-Show-Party gestrichen. Aber: «In der hiesigen Politik gibt es noch keine dahingehenden Überlegungen. Hier ist also – zwei Wochen vor den Konzerten – noch alles beim Alten

Himmels willen, muss also befürchtet werden, dass – nur krude Fakten, bitte – in Bern Groupies vorne vor der Bühne kreischen dürfen und anschliessend an After-Partys, nein, wir wollen uns das gar nicht vorstellen.

Allerdings: obwohl ZACKBUM kein Fan der Bühnenkunst und des pathetisch-provokativen Gehabes der Band ist: lieber sich so ein Konzert anhören, als den Tagi lesen müssen.

 

 

 

 

Die Abschreiber

Früher gab es wenigstens noch Sensationsjournalismus.

Heutzutage ist das zum Denunziationsjournalismus degeneriert. Das Lieblingshassobjekt ist der Mann. Am besten der berühmte, wenigstens der bekannte Mann. Dem wird dann irgendwas vorgeworfen (nach der Affäre Rammstein kann man nicht mal mehr von eindeutigen Tatbeständen sprechen). Die Anschuldigungen erfolgen anonym, liegen auch gerne schon Jahre zurück und lassen sich in keiner Weise belegen oder schlüssig nachweisen.

Meistens beginnt es mit einer Anschuldigung in den sozialen Medien, mit einem «Jetzt rede ich»-Text. Der folgt immer dem gleichen Schema. Es werden unbelegte Anschuldigungen erhoben, die oft viele Jahre zurückliegen. Statt Straftatbeständen (die sowieso meistens verjährt wären), werden Befindlichkeiten («verletzt, gedemütigt, diskriminiert, herabgewürdigt, ungerecht behandelt, sexistisch missbraucht») angeführt.

Daraufhin melden sich unvermeidbar Trittbrettfahrerinnen. Dabei ist keine Story zu alt oder abgefahren, um nicht mit ihr an die Öffentlichkeit zu gehen. Liegt sie schon viele Jahre zurück, konnte die Betroffene eben nicht vorher darüber reden, nun kann sie «nicht länger schweigen», wie Patrizia Laeri begründete, dass sie mehr als 20 Jahre danach mit einer versuchten Kussattacke Aufmerksamkeit auf sich lenken wollte. Als die Untersuchung nichts, beziehungsweise Widersprüchlichkeiten in ihren Behauptungen ergab, kündigte sie verschnupft eine «juristische Prüfung» an, da sei sicherlich nicht alles mit rechten Dingen zugegangen. Seither ist Schweigen.

Während bislang der «Spiegel» für sich eine Vorreiterrolle in Anspruch nehmen konnte – er denunzierte bereits einen deutschen Comedian, einen Schweizer Ex-Chefredaktor, einen deutschen Schauspieler und einen Drei-Sterne-Koch, dazu berichtete er über anonyme Anschuldigungen gegen den Sänger der linksradikalen Band «Feine Sahne Fischfilet» –, hat nun auch die «Süddeutsche Zeitung» zugeschlagen.

Obwohl sie ganze sechs Kräfte auf die Story warf, sind die Ergebnisse allerdings erschütternd mager. Andeutungen, Behauptungen, angebliches aggressives Verhalten, eine Zustimmung, die dann doch nicht so gemeint war, Groupies, die wohl annahmen, bei der After-Show-Party würde Bingo gespielt, berichten unter dem Schutz der Anonymität. Dabei gibt es auch solche Berichte:

«Beim Tanzen habe er seine Hand auf ihre Taille gelegt. Da habe sie ihm gesagt, sie wolle nicht, dass er ihr nah kommt, das habe er wohl falsch verstanden. Und er habe das akzeptiert, sich sogar entschuldigt. Am Ende des Abends sei Lindemann ohne weibliche Begleitung nach Hause gegangen, obwohl es nach ihrem Eindruck «genug Frauen gab, die mit ihm schlafen wollten»».

Da musste die SZ tief Luft holen, um das zu einem Skandal aufzupumpen:

«Ob es sich dabei um einvernehmlichen Sex gehandelt hat, ist kaum zu eruieren. Jedenfalls gab es kaum ein klares Ja. Die Beziehung zwischen Groupies und Stars mag immer asymmetrisch sein. Im Falle des 60-jährigen Lindemann und der jungen Frauen – viele offenbar im Teenageralter – war das Verhältnis aber von äusserster Ungleichheit. Die Groupies scheinen nach den von ihnen öffentlich gemachten sexuellen Handlungen denn auch nicht recht gewusst zu haben, ob sie nun von einem Halbgott, einem Rocker-Zeus, beehrt oder aber von einem alten Lüstling missbraucht worden waren

Früher, als die Zeiten besser waren und Journalismus noch Regeln folgte, hätte spätestens hier eine Kontrollinstanz gesagt: damit habt ihr aber eure sowieso schon dünne Story gekillt, Papierkorb.

Heute aber wird sie ins Blatt gehievt. Und wie es Trittbrettfahrerinnen bei den Anschuldigungen gibt, steigen auch die übrigen ausgehungerten Medien auf diesen Zug und krähen tapfer mit. Die sonst seriöse NZZ versteigt sich sogar zum Titel: «Aus dem Künstler ist ein Täter geworden». Um ihn dann, als der Verstand wieder einsetzte, zu «Was ist Tat, was ist Fiktion?» abzuschwächen. Notabene ohne das transparent zu machen.

Noch schlimmer als solche Trittbrettfahrten ist eigentlich nur noch eines: das copy/paste-Abschreiben, wie es das Haus der Qualitätsmedien «Tages-Anzeiger» pflegt. Hier übernimmt man tel quel den Artikel aus München, ohne die Gelegenheit zu nützen, wenigstens ein wenig Eigenrecherche zu betreiben. Dafür melkt die gesundgeschrumpfte Redaktion insgesamt 5 Storys aus dem Thema, dass eine deutsche Rockband mit deutschen Provokationen zu deutschen Problemen berühmt geworden ist.

Natürlich interessiert das auch den Schweizer Fan von «Rammstein», der überwiegenden Mehrheit der Tagi-Leser geht da aber genauso am Hintern vorbei wie die ewige Quengelei wegen Gendern, Gendersternchen und der Ausmerzung angeblich diskriminierender Begriffe.

Abgeschriebener Denunziationsjournalismus, eisernes Schweigen gegenüber des Skandals, der sich im eigenen Haus im «Magazin» abspielt, Gedankenleere, dafür Kampagnenjournalismus vom Übelsten, was die Themen Neutralität oder Waffenlieferungen an die Ukraine betrifft, immer wieder Artikel und Leitartikel zum Gendern, obwohl das Dreiviertel der Leser null interessiert. Wer da behauptet, die Umstände, das Umfeld, die Inseratelage, die Zahlbereitschaft, das Internet seien die Probleme der modernen Medien, bekommt hier deutlich vorgeführt: mag alles eine Rolle spielen.

Aber die abgründige Unfähigkeit und Dummheit der Zeitungsmacher ist die Hauptursache für den Niedergang.

Forever old

Ein Beitrag zur Qualitätsoffensive bei Tamedia.

Wem es bislang entgangen sein sollte: Es gibt ein neues «Gefäss» bei Tamedia. Das heisst «Forever Young». Da ist nun nomen nicht wirklich omen:

Das sind die vier «neusten» hier angepriesenen Artikel. Erscheinungsdatum von links nach rechts: 17.5., 20.5., 23. 5., 17. 5. Wir schreiben heute den 30. Mai

Aber das kann man (bzw. frau, denn die Chefredaktion ist bekanntlich weiblich) noch steigern:

Dieses «Interview in der Serie «Forever Young»» mag dem einen oder anderen «Magazin»-Leser nicht ganz unbekannt vorkommen. Denn wer noch so jung ist, dass ihn noch nicht Alzheimer im fortgeschrittenen Stadium ereilt hat, erinnert sich noch, dass dieser Artikel, neu auf der Webseite von Tamedia unter dem schnuckeligen Titel «News Pause», aber angepriesen als «Beitrag der Serie «Forever Young»», am 7. 10. 2022 zum ersten Mal das Licht der Welt erblickte.

Wahrscheinlich ist das ein Beitrag dazu, was das Mitglied der Chefredaktion Kerstin Hasse als «digital Storytelling» versteht. Vielleicht ist das ein weiblicher Ansatz, der sich dem männlichen Verständnis entzieht. Das ist die eine Variante.

Die andere: in dieser «neuen» Rubrik bleiben alte Artikel tagelang auf der Webseite stehen, weil es keine neuen gibt. Das mag ja noch knapp angehen, obwohl es alle Regeln des digitalen Erzählers widerspricht. Aber vielleicht war Hasse damit ausgelastet, ein lustiges Video über die Käfigtierhaltung im neuen Newsroom von Tamedia, Pardon, «Tages-Anzeiger», zu drehen.

Aber dass man (oder vielmehr frau) nun die Stirn hat, einen fast 8 Monate alten Artikel zu rezyklieren, der schon damals schnarchlangweilig war, das zeugt nun von einer Leserverachtung, um ein stärkeres Wort zu vermeiden, die schon bemerkenswert ist.

Die Fragen sind nach wie vor brandaktuell: «Liebe Oma – du hast im Februar deinen fünfundachtzigsten Geburtstag gefeiert. Wie fühlt sich das an?» Wohl so, wie sich dieses Jahr das Feiern der 86. angefühlt hat. Unvergesslich auch diese Passage:

«Warst du auch mal überfordert vom Grundkonzept des Existierens? – Vom was? – Also, dass man ungefragt auf diese Erde geworfen wird … – … und in den meisten Fällen auch ungefragt wieder gehen muss. – Genau.»

Solche investigativen Fragen und luziden Antworten kann man gar nicht oft genug lesen. Dass man dafür allerdings zuerst ein Abo abschliessen müsste, das ist schon ein starkes Stück. Der zukünftige Abonnent, den Chefredaktorin Raphaela Birrer bekanntlich «an die Paywall heranführen» will, soll also Geld abdrücken dafür, dass er einen Uralt-Artikel, der als neu serviert wird, lesen darf.

Dass er in eine Serie «Forever Young» eintauchen darf, die so was von alt ist.

Dass er Beiträge der «Süddeutschen Zeitung» aus München lesen darf, die schon dort kaum jemanden interessieren, und dort leben Deutsche. In der Türkei leben Türken, und die haben gewählt. Und sich wieder für Recep Erdogan entschieden. Da wäre es sicherlich interessant zu erfahren, was der grösste Schweizer Medienkonzern mit seinen unzähligen Kopfblättern in der Zentralredaktion in Zürich dazu zu kommentieren hat.

Aber leider behält er das für sich, wahrscheinlich wollte sich Auslandchef Christof Münger davon nicht seine Pfingstferien verderben lassen. Also kommentiert «Raphael Geiger aus Istanbul». Der Korrespondent der «Süddeutschen». Der ist herausragend qualifiziert, denn er übt diesen Job seit 2023 aus. «Zuletzt war Geiger USA-Korrespondent in New York.»

Auch das ist ein spezielles Verständnis von Qualität. Statt die eigene, theoretisch noch vorhandene Auslandredaktion zu bemühen, lässt der Qualitätskonzern Tamedia einen seit 2023 im Amt befindlichen SZ-Korrespondenten in die Tasten greifen, der zuvor in den USA stationiert war. Und für diesen Schrott, «Erdogan ist gerade noch einmal davongekommen», will Tamedia auch noch Geld, bevor man das lesen darf.

Eigentlich ist’s so. Wer Tamedia zuschaut, begleitet einen Fallschirmspringer auf dem Weg nach unten. Und blickt ihm in die Augen, als er merkt, dass sich der Fallschirm nicht öffnet. Brrr.

 

 

Gegendarstellungsfrei

Die Schweiz schweigt. München berichtet.

«Um den Fall Roshani/Canonica werden sich demnächst die Gerichte kümmern. … Am Mittwoch wurde mehr aus dem angeblich 100 Seiten langen Untersuchungsbericht bekannt, den Tamedia-Verleger Pietro Supino bei einer Anwaltkanzlei Ende 2021 in Auftrag gegeben hatte.»

So berichtet die «Süddeutsche Zeitung» am Freitag über Innerschweizer Angelegenheiten. In den Schweizer Tageszeitungen wurde breit vermeldet, dass die ehemalige «Magazin»-Redaktorin Anuschka Roshani im «Spiegel» eine Breitseite gegen den ehemaligen Chefredaktor Finn Canonica und ihren ehemaligen Arbeitgeber Tamedia abgefeuert hatte.

Sexismus, Mobbing, toxische Atmosphäre, frauenfeindliche Sprüche. Das Narrativ entspricht dem Zeitgeist, bis hinunter zur «Republik» wurde wiedergekäut, gewäffelt und verurteilt. Dass Canonica die Vorwürfe als grösstenteils erlogen scharf zurückwies, dass Tamedia eine Zusammenfassung eines Untersuchungsberichts veröffentlichte, der die Sache in einem ganz anderen Licht erscheinen liess: kurze Randbemerkung.

Am Mittwoch veröffentlichte Roger Schawinski auf seinem Radio 1 neue, brisante Auszüge aus diesem Bericht. Danach verdichtet sich der Verdacht, dass Roshani, teilweise in Abstimmung mit dem ehemaligen «Magazin»-Redaktor Mathias Ninck oder Michèle Roten, aufgebauscht und erfunden habe.

Zudem veröffentlichte der «Schweizer Journalist» eine akkurate Recherche zur Frage, ob es wirklich so war, wie Roshani darstellt. Resultat: laut Aussagen von 8 aktuellen und ehemaligen «Magazin»-Mitarbeitern: nein.

Über diese neuen Enthüllungen, die nicht so in den Zeitgeist passen, berichtete ansatzweise persönlich.com und ausführlich ZACKBUM.

Und sonst niemand.

Schweigen im Blätterwald. All die Gazetten in der Schweiz – und sogar die deutsche «Zeit» – die aufgrund anonymer Heckenschützen sich darin überschlugen, dass es alles noch viel schlimmer gewesen sei, schweigen verkniffen. Die NZZ, der «Blick», CH Media, die sogar schon eine Entschuldigung in Richtung Tamedia-Boss Pietro Supino rausquetschen mussten – alle halten die Füsse still.

Vielleicht wäre mal eine Entschuldigung Richtung Canonica fällig. Aber das werden wir nicht erleben, dass das freiwillig geschieht.

Welch ein Elendsjournalismus, aufgrund ausschliesslich anonymer Frustrierter loszugaloppieren. Die «Zeit» verwendete sogar den Indikativ, als sei es erwiesen, dass die Behauptungen von Roshani zuträfen.

Nach der wilden Hatz aufgrund trüber Quellen muss man nun in der SZ lesen, was eigentlich in der Schweiz überall erscheinen müsste:

«Der Bericht ergebe ein «ein überraschendes Bild, das radikal von dem abweicht«, das Roshani im Spiegel gezeichnet hatte. Er entlaste Canonica in vielen Punkten. Auch das Branchenmagazin Schweizer Journalist:in hat sich gerade mit dem Fall befasst und in der Redaktion von Das Magazin recherchiert. Die Story zeichnet kein gutes Bild von Finn Canonica als Führungspersönlichkeit. Sie findet aber auch keine Zeugen für ein toxisches Klima in der Redaktion.»

Nur die amtierenden Mitarbeiter – oder der langjährige Kolumnist Daniel Binswanger, inzwischen Chefredaktor a.i. des Gutmenschenblatts «Republik» – haben ein Schweigegelübde abgelegt.

Normalerweise übernimmt ja Tamedia – bis hin zu Katzengeschichten eines ehemaligen Münchner Bürgermeisters – fast alles, was aus der bayerischen Hauptstadt kommt, ausser vielleicht das Kinoprogramm. Wetten, dass dieser Artikel nicht dazugehören wird?

PS: Der Gerechtigkeit halber sei angemerkt, dass immerhin «20 Minuten» die neuen Enthüllungen aufnimmt. Immerhin, weil das Gratisblatt auch zu Tamedia gehört.

Geeiertes zum Migrationshintergrund

Was schreibt man, wenn Ausländer Feuerwehr und Polizei attackieren?

Der «Blick» brauchte drei Anläufe, um von «Jung, männlich, Migranten» zur politischen Korrektheit zurückzufinden: «Böller auf Polizisten geschossen, Rettungskräfte mit Feuerlöscher angegriffen. Silvester-Mob sorgte für Randale in Deutschland».

Aus den Ereignissen der Silvesternacht auf der Kölner Domplatte haben die Medien offensichtlich nichts gelernt. Als damals ein Mob von Ausländern durchrastete, ignorierten die Massenmedien den Vorfall zunächst, danach wurde er kleingeschrieben, schliesslich wurden Übergriffe eingestanden, aber sogleich mit gewundenen Erklärungen versehen.

Offensichtlich in dieser Tradition sieht sich der Tagi heute noch. Zunächst titelt das Blatt: «Was habe ich euch getan? Ich weiss nicht, woher dieser Hass kommt». Es habe da «Gewalt gegen Rettungskräfte» gegeben. In diesem Artikel wird ausführlich über brutale Angriffe auf Beamte und Rettungskräfte geschrieben. Ohne mit einem Wort die Herkunft der Krawallanten zu erwähnen.

Zwischen diesem Artikel um 6.56 Uhr und einem zweiten um 18.11 Uhr liegen nicht nur rund 11 Stunden. Inzwischen musste der Berlin-Korrespondent der «Süddeutschen Zeitung», den aus Sparsamkeit auch Tamedia benutzt, offensichtlich widerwillig zur Kenntnis nehmen, dass sich die Indizien, Anzeichen, Belege verdichteten, dass es sich nicht einfach um eine buntgemischte Truppe von Idioten gehandelt hatte. Sondern fast ausschliesslich um, seien wir korrekt, Menschen mit Migrationshintergrund. Genauer: Männer aus fremden Weltgegenden.

Man spürt förmlich die langen Finger, mit denen sich der um Gutmenschentum bemühte Journalist diese Unterzeile abringt:

«Nach Ausschreitungen in der Neujahrsnacht wird über die Herkunft der Täter diskutiert. Denn nach Aussagen vieler Einsatzkräfte wurden sie vor allem von jungen Männern mit Migrationshintergrund attackiert

Es wird darüber diskutiert? Nein, ausserhalb der SZ (und von Tamedia) ist man in Deutschland konsterniert und entsetzt, in welchem Ausmass diesmal die Lage ausser Kontrolle geraten ist – und welches Gewaltpotenzial in Idioten stecken muss, die ausgerechnet auf Retter und Helfer losgehen. Gerne auf Sanitäter und Feuerwehrleute, weil die unbewaffnet sind.

Wie kommt’s? Nun, da gibt es natürlich Oppositionspolitiker der CDU, für die das Wasser auf die Mühlen sei: «Und sofort wieder kam die Frage auf, ob diese brutalen Attacken auf Vertreter des Staats ihren Ursprung nicht auch in einer gescheiterten Integrationspolitik der Stadt hätten.»

Kam die Frage auf? Nein, wurde konstatiert. Oder vielmehr polemisiert, denn Heidtmann will weiterhin das Offenkundige leugnen: «Das deutsche Innenministerium jedoch verwies darauf, dass es noch keine Übersicht zu den Verdächtigen gebe

Allerdings muss auch er einräumen: «Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter, die in der vergangenen Silvesternacht Einsätze hatten, berichten, vor allem von arabischstämmigen jungen Männern angegriffen worden zu sein.»

Aber vielleicht sind das ja alles Rassisten, zumindest scheinen sie nicht in der Lage zu sein, die Gesamtumstände, sozusagen mildernde Umstände, zu berücksichtigen. Auch der Bezirksbürgermeister des besonders gewalttätigen Quartiers um die Sonnenallee in Berlin räumt ein, dass auch er «beobachtet» habe, dass die Täter zum allergrössten Teil einen Migrationshintergrund hätten. «Doch ein Grossteil der Menschen in der Gegend, die ebenfalls familiäre Bindungen in andere Länder hätten, seien über den Gewaltausbruch zum Jahreswechsel genauso entsetzt wie alle anderen. «Man hat sich da gewissermassen selbst angegriffen. Das sind einige Idioten, die alle in Sippenhaft nehmen.» Viel wichtiger sei daher der Aspekt, «dass es sich um soziale Brennpunkte handelt», meint Hikel. Da sei es wichtig hinzuschauen.»

In Berlin ist mal wieder Wahlkampf, weil es die Behörden nicht geschafft haben, die letzte Wahl ordentlich durchzuführen. Schon das ist peinlich genug. Das wird aber von Aussagen wie dieser noch übertroffen: «Die nächste Generation, die in Berlin aufwächst, hat zu einem grossen Teil Migrationshintergrund, das sind unsere Jugendlichen. Ich werde die nicht aus der Gesellschaft herausdrängen.» Das Problem sei vielmehr eine zunehmende Verrohung insgesamt, zitiert Heidtmann die Spitzenkandidatin der Grünen für das Amt des Berliner Bürgermeisters.

Wer also einen Zusammenhang herstellt zwischen brutaler Gewalt, nicht integrierbaren ausländischen Jugendlichen und Rettungskräften, die sich von der Politik im Stich gelassen und verarscht fühlen, steht für Heidtmann schon mal unter latentem Verdacht, ein Ausländerhasser zu sein. Die gesamtgesellschaftlichen Zusammenhänge nicht zu sehen. Zu eindimensional einen Zusammenhang zwischen Herkunft und Gewaltbereitschaft sehen zu wollen. Ohne die psychosoziale Komponente genügend zu würdigen.

Dass solches Geschwurbel in Deutschland zunehmend auf Unverständnis auslöst, der Protestpartei AfD in Massen Wähler zutreibt, ist die eine Sache. Dass sich damit deutsche Medien immer mehr disqualifizieren und unglaubwürdig machen, die andere. Dass ein angebliches Qualitätsmedienhaus wie Tamedia diesen Unsinn ungefiltert und umkommentiert übernimmt, ist ein weiteres Armutszeugnis.

Vielleicht sollte sich Tamedia wirklich auf eine «News-Pause», Fitness-Tipps und die Kritik an Zitronenlikör konzentrieren. Da kann man den überlebenden Journalisten eine gewisse Kompetenz nicht absprechen. Aber sonst …

Und nein, das kann man sich weder politisch, noch journalistisch, noch sonstwie schönsaufen. Solche Berichterstattung ist einfach ein weiterer Sargnagel auf dem Weg der Medien in die Bedeutungslosigkeit und Irrelevanz, für die niemand mehr etwas bezahlen will.

 

Treffen zweier Taucher

Nora Zukker und Lukas Bärfuss. Gibt es eine Steigerung des literarischen Grauens?

Schwurbel Time. Der Literaten-Imitator Lukas Bärfuss, nur echt mit grimmigem Blick, hat ein Büchlein geschrieben. 96 Seiten für satte 27 Franken. Schon das ist eine Frechheit.

Der Inhalt dreht sich unter anderem um Müll und ist Müll. Ungeordnetes Flachdenken mit Attitüde. Aber für das Feuilleton ist der Büchner-Preisträger immer wieder neu Anlass für Wallungen. So wallt die «Süddeutsche Zeitung»:

«Über solche Widersprüche hinweg spannt Bärfuss seinen essayistischen Bogen von der Genesis bis zur Gegenwart, um dann aus seinen Befunden konkrete Handlungsvorschläge abzuleiten, die der Verantwortung für das Erbe künftiger Generationen Rechnung tragen.»

Nix verstanden? Macht nix, das ist ein gutes Zeichen geistiger Gesundheit. Kann man das Geschwiemel und Geschwurbel noch steigern? Schwierig, aber nicht unmöglich. Tamedia wirft dazu seine Literaturchefin in die Schlacht. Nora Zukker gelingt es mühelos, die SZ im Tieftauchen in flachem Geplätscher zu unterbieten.

Wir betrachten nun zwei Leserverarscher beim vergeblichen Ausloten der Tiefen und Untiefen des Flachsinns.

«Wir vererben vor allem Abfall», lässt sich der literarische Zwergriese im Titel vernehmen. Eine schöne Selbsterkenntnis, aber natürlich versteht Bärfuss das als Gesellschaftskritik. Denn dafür erklärt er sich ungefragt zuständig. Er ist der Mahner und Warner mit den kritisch zusammengekniffenen Augen.

Er verkörpert das, was bei Salonlinken sonst auf dem gepützelten Glastisch vor dem Sofa liegt. Bibliophile Bände mit voluminösem Nichts drin, Gedankenabfall, Ornamente als Verbrechen, aber wer Alfred Loos war, das weiss hier keiner.

Zurück zum Interview, wo es auf dumme Fragen dümmliche Antworten setzt. Zum Beispiel:

«Ihr neues Buch heisst zwar «Vaters Kiste», er spielt aber nur am Rande eine Rolle. Warum? – Weil ich nichts über ihn weiss.»

Immerhin, man kann diese Einleitung auch so verstehen: lieber Leser, sei gewarnt. Wenn dich das nicht abschreckt und du weiterliest, dann lass jede Hoffnung fahren. Aber das wäre ja Dante, also zurück in die flachen Gewässer.

Wobei, Bärfuss beschäftigt sich schon mit fundamentalen Fragen, spannt eben einen Bogen, wie die SZ weiss und ihm Zukker entlockt: «Die Familie ist wahlweise eine soziale, biologische Gruppe, deren Rollen unterschiedlich definiert werden.» Der Schriftsteller ist wahlweise ein überflüssiger, durchaus biologischer Teilnehmer an einer Gruppe, dessen Rollen unterschiedlich definiert werden. Nix verstehen? Macht nix.

Aber Zukker hätte da noch eine Frage: «Ihre radikale Forderung lautet, dass wir das ererbte Privatvermögen in Gemeingut überführen. Warum? – Ist es nicht seltsam, dass wir zwar das Privateigentum kennen, aber nicht den Privatmüll

Ist es nicht seltsam, dass wir nicht nur den Privatmüll kennen, sondern ihn auch kostenpflichtig entsorgen müssen? Allerdings kann das nicht jeder in Form eines gebogenen Essays oder geschwurbelten Interviews tun.

Bärfuss ist mit dem Stochern in Müll noch nicht am Ende seiner Weisheit angelangt: «Abfall ist ein klassischer Fall von herrenlosem Gut und stellt das Gesetz immer wieder vor Schwierigkeiten

Bevor hier das Gesetz kapituliert, eilt ihm der Dichter zu Hilfe: «Die Lösung, den Müll einfach an die Strasse zu stellen oder als CO2 in der Atmosphäre zu entsorgen, müssen wir hinterfragen.»

Hinterfragen ist immer gut, wenn man nicht weiss, was vorne und hinten ist und nach unten noch etwas Luft. Aber eigentlich noch schlimmer als der Abfall ist etwas anderes: «Der sogenannte Markt ist ein Problem, ein anderes sind die Waren, die gehandelt werden

Also der Markt, der sogenannte, dient doch eigentlich dem Handeln von Waren, womit aber laut dem Flachdenker zwei Probleme aufeinanderprallen. Besonders problematisch ist für Bärfuss die Handelsware Öl, auf dem sogenannten Markt, da wagt er einen weiten Blick in die Zukunft: «Das Öl ist Segen und Fluch unserer Zeit. Wir leben in der Ölzeit. Sie wird nur kurz dauern.»

Nach diesem Ausflug in die Öl- und Essigzeit geht’s im wilden Ritt wieder zurück zur Familie, zum Erben. Auch da weiss Bärfuss mehr als andere: «Es gibt kein geistiges Erbe, das wir übernehmen müssen. Wir entscheiden selbst, in welche Tradition wir uns stellen

Sagen wir so: nur weil Bärfuss keine Ahnung von literarischem Erbe hat, nicht einmal die deutsche Sprache rumpelfrei beherrscht, muss das nicht den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben.

Nun kommt aber ein Bogen, bei dem es Ikarus nicht nur das Wachs, sondern sämtliche Federn verbrennen würde: «Befreiung ist zuerst Befreiung von der Herkunft. Befreiung bedeutet, über die eigene Zugehörigkeit zu entscheiden. Das Geburtsrecht anzunehmen oder auszuschlagen, seine Geburtspflicht zu verweigern. Nichts anderes bedeutet Mündigkeit. Ab 18 Jahren liegt es an ihnen, über ihre Herkunft zu entscheiden. Wenn Herkunft als unabänderlich gilt, wird es gefährlich.» Nichts verstehen? Macht nichts, dunkel und raunend muss das Dichterwort sein, damit das moderne Feuilleton ins Schwärmen gerät und die einzig sinnvolle Frage zu stellen vergisst: was soll dieses hohle Geschwätz?

Stattdessen fragt Zukker, wahrscheinlich, während sie die nächste Flasche Prosecco öffnet: «Inwiefern gefährlich?  – Weil es Menschen reduziert, die Möglichkeiten beschränkt, die Freiheit beschneidet und verhindert, dass Menschen für ihr Handeln Verantwortung übernehmen.» Nichts verstehen? Macht nichts, oder sagten wir das schon.

Zum Schluss muss noch Max Frisch dran glauben, der sich nicht mehr wehren kann und das wirklich nicht verdient hat: «Was ist eigentlich Ihre Mission? Sie werden gern als Nachfolger von Max Frisch verstanden. Lukas Bärfuss, der die Schweiz aufklärt.»

Da wird der grosse Mahner und Warner, der Beschimpfer der Schweiz, der Kritiker eines chemischen Industriellen, der schon während Corona die Gesellschaft aus Profitgier auseinanderfliegen sah, während sich die Toten auf den Strassen stapelten, ganz bescheiden: «Ich bin Schriftsteller, ich habe keine Mission. Frisch habe ich spät gelesen. In meiner literarischen Herkunft spielt er eine kleine Rolle

Eben, es gebe ja kein geistiges Erbe, das wir übernehmen müssten, behauptet Bärfuss. Dass dann aber Wüste im Oberstübchen staubt, das führt er zusammen mit Zukker exemplarisch beim gemeinsamen Sändele vor.

Was lange währt …

Wie lange braucht Tamedia, um ß durch ss zu ersetzen?

Eine oft gestellte Frage findet ihre Antwort. Wir wissen allerdings nicht, wie viele Redaktoren Tamedia braucht, um diese journalistische Grossleistung zu vollbringen. Aber gedruckt ist gedruckt.

So erschien am 22. Oktober (immerhin 2022) in der «Süddeutschen Zeitung» diese Bombenstory:

Kann man machen, muss man nicht machen.

Nun brütete Tamedia mehr als eine Woche darüber, ob sie ihre zahlenden Leser mit einem verspäteten Aufwasch dieser Nullstory beglücken soll, damit die mal wieder wissen, wieso sie einen Haufen Geld für qualitativ hochstehenden, originalen und originären Journalismus ausgeben.

Man muss auch bedenken, dass Tamedia journalistische Höchstleistungen erbringt, obwohl auf den Redaktionen unerträgliche, sexistische, demotivierende und Frauen diskriminierende Zustände herrschen. Aber mit übermenschlichen Anstrengungen, ohne Rücksicht auf Gesundheit, hustende Mitarbeiter (Brupbacher, übernehmen Sie!), im unerschütterlichen Bemühen, dem Leser sinnfällig vor Augen zu führen, wieso «20 Minuten» gratis ist, die x Kopfblätter bei Tamedia aber etwas kosten, kam dieses brandneue, aktuelle, bahnbrechende Stück zustande:

Man beachte auch die entscheidende Veränderung des Titels, er wurde mit dem unbestimmten Artikel ergänzt. Der Lead wurde ebenfalls leicht angepasst, solche Eingriffe sind dem hohen Qualitätsstandard bei Tamedia geschuldet.

ZACKBUM hätte nur eine kleine Korrektur anzubringen. Statt «Hintergrund» sollte das Gefäss doch besser «Abgrund» heissen. Oder vielleicht «Werkhof für Rezykliertes».