Whataboutism

Gegenfrage und Themenwechsel. Die Königsdisziplin der Betroffenen.

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Der Vergleich lag so nahe, dass ihm Simon Widmer von Tamedia nicht widerstehen konnte: «Analyse zum Titanic-.Tauchboot: die toten Migranten haben mehr Anteilnahme verdient». Ist das so? Weil sie mehr sind?

Hält Widmer einer fühllosen Gesellschaft den Spiegel vor, blicken wir in eine teilnahmslose Fratze? Auch Adrian Kreye von der «Süddeutschen Zeitung» macht sich seine Gedanken: «Über die vermutlich 500 Flüchtenden, die vor Griechenland starben, weiß man nur wenig.» Dabei sei es «das Sinnbild des herzlosen Nordens , der nicht bereit ist, die Menschen zu retten, die aus dem Süden vor Krisen wie Krieg, Klima oder Armut fliehen mussten, an denen der Norden oft Mitschuld hat».

Ähnlich sieht das auch Widmer: «Das Schicksal der superreichen Titan-Passagiere treibt viele mehr um als der Tod von Hunderten Migranten.» Interessante Beobachtungen von zwei Mitmachern. Zwei Journalisten. Über die U-Boot-Tragödie erschienen in den letzten sieben Tagen 684 Artikel. Über die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer im letzten Monat ganze 31. Also beklagen die beiden etwas, woran sie selber mitbeteiligt sind.

Denn statt zu klagen, hätten sie ja den toten Flüchtlingen im Mittelmeer mehr Aufmerksamkeit verschaffen können. Stattdessen fällen sie moralische Werturteile über etwas, woran sie selber schuld sind.

Daraus entsteht dann dieser unsägliche Whataboutism, wofür es kein adäquates deutsches Wort gibt. Diese Leiter kann man beliebig hinaufsteigen. Wieso gibt es im vergangenen Monat über 15’000 Meldungen zur Ukraine, lediglich 522 zum Sudan? Findet denn dort kein Krieg statt, mit Massakern, Verwüstungen, Flüchtlingen, Elend, Misere?

Und whatabout die 10’000 Kinder, die jeden Tag an Hunger oder leicht heilbaren Krankheiten sterben? Ein Massenmord, wie Jean Ziegler nicht müde wird zu betonen.

Und whatabout die Millionen Menschen in Armut, im Elend, die Ausgebeuteten, Erniedrigten, Geknechteten, Versklavten, die Kinderarbeiter ohne Zukunft, die Sweat Shops, wo die T-Shirts all der besorgten Gutmenschen genäht werden, die in der Schweiz jährlich ein Trinkgeld für nachhaltig hergestellte Kleider ausgeben?

Während aber Kreye sich wenigstens allgemein Gedanken über das Missverhältnis in unserer Aufnahmefähigkeit von Tragödien macht, fordert Widmer ultimativ «mehr Teilnahme». Ohne das allerdings begründen zu können. Das Problem fällt ihm selber auf, also versucht er es mit untauglichen Hilfskonstruktionen: «Vom missglückten Tauchgang des Titanic-Tauchbootes lassen sich über den Fall hinaus nur wenige Lehren ziehen.» Das mag so sein. «Beim Schiffsunglück im Mittelmeer stellt sich hingegen eine ganze Liste an juristischen, politischen und moralischen Fragen.» Auch das mag so sein.

Was für Lehren will Widmer daraus ziehen? Am Schluss wird’s absurd: «Und selbstverständlich bleibt zu hoffen, dass alle Titan-Passagiere doch noch lebend geborgen werden können. Doch dieselbe Anteilnahme haben auch die Flüchtlinge verdient, die in der vergangenen Woche ertrunken sind

Welche Anteilnahme haben nun die Flüchtlinge verdient? Die Hoffnung, dass auch sie noch lebend geborgen werden könnten? Nein, sie sind tot, wie die Besatzung des U-Boots, wie man inzwischen weiss. Anteilnahme ist nicht das Gleiche wie Lehrenziehen. Abstrakte Anteilnahme ist wohlfeil, die Forderung danach ist geradezu schäbig, wenn sie ein Journalist äussert, der Bestandteil der Erregungsbewirtschaftung um das U-Boot ist. Statt sich an seine Redaktionskollegen zu wenden, erhebt er gegenüber der Öffentlichkeit den Mahnfinger. Dabei liest und diskutiert die doch nur, was ihr Widmer, Kreye und Kollegen servieren.

Widmer ist auch schon ganz woanders. Er erklärt den Lesern die abgeschriebenen Wirren um ein Kindermädchen in Kolumbien. Statt den Schicksalen der ertrunkenen Flüchtlinge nachzugehen.

Heinrich Pestalozzi soll gesagt haben: «Wohltätigkeit ist das Ersaufen der Gerechtigkeit im Güllenloch der Gnade.» Dazu passt:

Anteilnahme ist das Ersaufen der Abhilfe im Güllenloch der Gefühlsduselei.

1 Antwort
  1. René Küng
    René Küng sagte:

    bei Leo schlagen sie vor: hypocrisy, dissimulation (!) und cant – insincere talk.
    Für Heuchelei.
    Nach einem Lebensalter von Wachstum, Überfluss, party-time sind wir alle gefangen in bigotter Heuchelei, Schweiz ganz vorne weg. Denn wer wirft das Angenehme schon freiwillig weit von sich weg?

    Dass die Multiplikatoren sich schwer tun, dieses Durcheinander auszuhalten, geschweige zu analysieren, wäre ja noch verständlich. Zumindest ein Rettungsversuch für die Fassade von ‹Menschlichkeit›, aber Zeyer zeyert den zu Recht auseinander.

    Was weh tut, ist das Leuchten von den grössten Leuchten in diesem gekauften Medienspektakel, die dem Pöbel jetzt mit Inbrunst (und böser Bissigkeit gegen ‹Quer- und Nachdenkern›) noch verkaufen müssen, dass die goldene Milliarde abgeschafft werden muss, wird.
    Nicht mal mitbekommen, dass sie selber zuvorderst dazu gehören beim sich selber abschaffen.
    Zusammen mit ein paar Milliarden ganz unten, die zuviel sind und immer schon wie Dreck behandelt wurden.

    Von der seiden-kleinen Minderheit obendrüber und ihren Profiteuren/Trittbrettfahrern im Karrieretunnel, die das noch offiziell als ‹great reset› oder Agenda 2030 propakandidieren. Ohne ein Wort, wieviel Blut, Leiden, sterben damit über uns hinweg schwappen wird.
    Stimmt zwar nicht ganz, der Schwab sagt und schreibt es sogar, dass das nur Vorgeplänkel war.
    Aber wer will das schon hören, jetzt im Zwischenhalt zum nächstgrösseren Terror.

    ‹Leider konnten wir zu Ihrem Suchbegriff ­­ keine Übersetzung finden› whataboutism ist wohl darum als Medikament für die Leere entstanden.
    Nebenwirkung für die gewaltigen Überdosen von Heuchelei im Güllenloch der Gefühlsökonomie.

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