Chapeau, Frau Roth

NZZaS, die Erste: so sollten Artikel am Sonntag sein.

Es ist ein Luxus, auf drei Zeitungsseiten eine Story ausbreiten zu können. Aber es ist auch anspruchsvoll, 25’000 A zu verbrauchen, ohne dass es dem Leser so langweilig wird wie bei der «Republik».

ZACKBUM musste Rafaela Roth schon tadeln. Zum Beispiel für einen völlig verunglückten Jubelartikel über eine umtriebige Anwältin, die sehr gut in der Selbstvermarktung ist, weniger gut in der Vertretung ihrer Mandanten. So hat sie für ein Berufsopfer – mit einer einzigen Ausnahme – nur krachende Niederlagen eingehandelt, bis zur Peinlichkeitsschwelle, am Bundesgericht gegen das Bundesgericht zu rekurrieren – und natürlich abgeklatscht zu werden. Zudem erzählt sie gerne Märchen; so dieses, dass fast täglich bei ihr Mandanten anklopften, um gegen diesen Medienblog vorgehen zu wollen.

Aber Schwamm über die Peinlichkeit, diese Selbstdarstellerin als «eine der geschicktesten Medienanwältinnen des Landes» zu bezeichnen, Roth hat sich wunderprächtig rehabilitiert. «Tod eines Glückskindes» ist ein rundum gelungenes Stück. Man könnte an ein paar Details mäkeln, aber die werden von der Wucht überspielt, mit der hier der Tod eines 18-jährigen Autisten dargestellt wird.

Er endete in den Händen des Psychiatrischen Dienstes des Kantons Aargau, geriet in die Klapsmühle im wahrsten Sinne des Wortes, bekam viele Medikamente und wenig Therapie. Schliesslich schauten die Pfleger zu, wie er manisch seinen Kopf auf den Boden schlug – bis er ohnmächtig wurde und nur noch sein Hirntod festgestellt werden konnte.

Daraus könnte man ein Melodram machen, eine emotionale Anklage, das Leid der Eltern exhibitionistisch vorführen, die Unmenschlichkeit der Schweizer Psychiatrie anprangern. Aber Roth ist eher ein Wurf wie «Einer flog übers Kuckucksnest» gelungen.

Sie verknüpft wohldosiert die verschiedenen Ebenen dieses Falles, lässt alle Beteiligten – soweit die sich äussern wollen – zu Wort kommen. Szenischer Einstieg, Leitmotiv Spaziergang, hineingeflochten die verschiedenen Erzählstränge, die Schilderung des jungen Lebens, das langsam aus der Bahn geriet, die Selbstvorwürfe der Eltern und des Bruders, dass man aus Überforderung und nur zum Besten der Einlieferung des Sohnes in die Psychiatrische Klinik  Königsfelden zustimmte.

Wie dann dort alles zunehmend ausser Kontrolle geriet, aber man der Autorität der Fachpersonen vertraute. Bis zum bitteren Ende, bis zur «Steigerung ins Amargeddon», wie das der Anwalt der Familie nennt. Der Tod, die Verarbeitungsversuche der geschädigten Hinterbliebenen. Dann die Aufarbeitungsversuche der Behörde, die allgemeine Problematik von jährlich 16’000 Zwangseinweisungen in die Psychiatrie in der Schweiz, Isolation, Fixierungen, Zwangsmedikation. Der staatliche Eingriff, dass der Patient nicht mehr selbst über seine Entlassung entscheiden kann.

All das schildert Roth souverän, emphatisch, in klarem Aufbau. Sie nimmt den Leser an der Hand und verläuft sich nie mit ihm. Sie ist auktorialer Erzähler im besten Sinn, nimmt Anteil, aber wahrt Distanz. Der Einzelfall, der Aufschwung ins Allgemeine, die unbeantworteten Fragen der Eltern, die übliche, zögerliche, bürokratische Reaktion der Behörden, die organisierte Verantwortungslosigkeit in staatlichen Institutionen, eine Knallerpointe am Schluss, den Artikel könnte man ausschneiden und angehenden Journalisten als Übungsmaterial überreichen.

Könnte, denn wer bekommt im heutigen Elendsjournalismus schon noch die Gelegenheit, ein solches Stück abzuliefern. Schön, dass Roth sie genutzt hat.

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