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Chapeau, Frau Roth

NZZaS, die Erste: so sollten Artikel am Sonntag sein.

Es ist ein Luxus, auf drei Zeitungsseiten eine Story ausbreiten zu können. Aber es ist auch anspruchsvoll, 25’000 A zu verbrauchen, ohne dass es dem Leser so langweilig wird wie bei der «Republik».

ZACKBUM musste Rafaela Roth schon tadeln. Zum Beispiel für einen völlig verunglückten Jubelartikel über eine umtriebige Anwältin, die sehr gut in der Selbstvermarktung ist, weniger gut in der Vertretung ihrer Mandanten. So hat sie für ein Berufsopfer – mit einer einzigen Ausnahme – nur krachende Niederlagen eingehandelt, bis zur Peinlichkeitsschwelle, am Bundesgericht gegen das Bundesgericht zu rekurrieren – und natürlich abgeklatscht zu werden. Zudem erzählt sie gerne Märchen; so dieses, dass fast täglich bei ihr Mandanten anklopften, um gegen diesen Medienblog vorgehen zu wollen.

Aber Schwamm über die Peinlichkeit, diese Selbstdarstellerin als «eine der geschicktesten Medienanwältinnen des Landes» zu bezeichnen, Roth hat sich wunderprächtig rehabilitiert. «Tod eines Glückskindes» ist ein rundum gelungenes Stück. Man könnte an ein paar Details mäkeln, aber die werden von der Wucht überspielt, mit der hier der Tod eines 18-jährigen Autisten dargestellt wird.

Er endete in den Händen des Psychiatrischen Dienstes des Kantons Aargau, geriet in die Klapsmühle im wahrsten Sinne des Wortes, bekam viele Medikamente und wenig Therapie. Schliesslich schauten die Pfleger zu, wie er manisch seinen Kopf auf den Boden schlug – bis er ohnmächtig wurde und nur noch sein Hirntod festgestellt werden konnte.

Daraus könnte man ein Melodram machen, eine emotionale Anklage, das Leid der Eltern exhibitionistisch vorführen, die Unmenschlichkeit der Schweizer Psychiatrie anprangern. Aber Roth ist eher ein Wurf wie «Einer flog übers Kuckucksnest» gelungen.

Sie verknüpft wohldosiert die verschiedenen Ebenen dieses Falles, lässt alle Beteiligten – soweit die sich äussern wollen – zu Wort kommen. Szenischer Einstieg, Leitmotiv Spaziergang, hineingeflochten die verschiedenen Erzählstränge, die Schilderung des jungen Lebens, das langsam aus der Bahn geriet, die Selbstvorwürfe der Eltern und des Bruders, dass man aus Überforderung und nur zum Besten der Einlieferung des Sohnes in die Psychiatrische Klinik  Königsfelden zustimmte.

Wie dann dort alles zunehmend ausser Kontrolle geriet, aber man der Autorität der Fachpersonen vertraute. Bis zum bitteren Ende, bis zur «Steigerung ins Amargeddon», wie das der Anwalt der Familie nennt. Der Tod, die Verarbeitungsversuche der geschädigten Hinterbliebenen. Dann die Aufarbeitungsversuche der Behörde, die allgemeine Problematik von jährlich 16’000 Zwangseinweisungen in die Psychiatrie in der Schweiz, Isolation, Fixierungen, Zwangsmedikation. Der staatliche Eingriff, dass der Patient nicht mehr selbst über seine Entlassung entscheiden kann.

All das schildert Roth souverän, emphatisch, in klarem Aufbau. Sie nimmt den Leser an der Hand und verläuft sich nie mit ihm. Sie ist auktorialer Erzähler im besten Sinn, nimmt Anteil, aber wahrt Distanz. Der Einzelfall, der Aufschwung ins Allgemeine, die unbeantworteten Fragen der Eltern, die übliche, zögerliche, bürokratische Reaktion der Behörden, die organisierte Verantwortungslosigkeit in staatlichen Institutionen, eine Knallerpointe am Schluss, den Artikel könnte man ausschneiden und angehenden Journalisten als Übungsmaterial überreichen.

Könnte, denn wer bekommt im heutigen Elendsjournalismus schon noch die Gelegenheit, ein solches Stück abzuliefern. Schön, dass Roth sie genutzt hat.

Darf man doch wohl noch sagen

Der Phantom-Reporter Eigenmann denkt laut.

Einer der ganz wenigen überlebenden Tamedia-Korrespondenten machte sich vor Kurzem mit einer sogenannten Reportage lächerlich. Denn er wollte aus einer «AfD-Hochburg» berichten, nämlich aus Erfurt. Es ist durchaus möglich, dass er auf Redaktionsspesen dort war. Sicher ist das aber nicht, gemerkt hat man davon bei seiner Sammlung von ausgewählten Zitaten ganzer drei Personen nichts.

ZACKBUM urteilte: Wenn es bei Tamedia noch eine funktionierende Qualitätskontrolle gäbe, wäre dieses elende und ellenlange Stück niemals dem zahlenden und fluchenden Leser serviert worden.

Nun macht sich Eigenmann, in seiner sicheren Schreibstube in Berlin, mal so seine Gedanken. Wenn man schon keine Reportage aus einer AfD-Hochburg hinkriegt, sollte man dann die Partei nicht gleich verbieten? Man darf doch wohl noch fragen.

Zur Einstimmung der Frage holzt Eigenmann gleich los: «Aus dem Hintergrund dirigiert vom Faschisten Björn Höcke und radikaler als je zuvor, steht sie in den Umfragen höher denn je.» Das ist ja furchtbar. Nun könnte sich ein wirklicher Denker mit der Frage befassen, wieso eigentlich bis zu 35 Prozent der Deutschen in einigen Bundesländern die AfD mitsamt dem Faschisten Höcke wählen wollen.

Aber dafür müsste man sich mit deren Parteiprogramm, dem Versagen der Altparteien, dem allgemeinen und speziellen Zustand Deutschlands, der maroden Infrastruktur, der Clan-Kriminalität, der Willkommenskultur für Flüchtlinge und der Verarschungskultur für Empfänger von «Bürgergeld» beschäftigen.

Aber das wäre dann doch etwas zu viel verlangt von einem einsamen Korrespondenten, der weder eine Reportage, noch interessantes Nachdenken hinkriegt. Also behauptet er: «In dieser Stimmung hat eine Debatte begonnen, die um eine einfache Frage kreist: Soll, kann, muss man die Alternative für Deutschland verbieten

Nein, die Debatte hat nicht in dieser Stimmung begonnen, die gibt es schon, seit es die AfD gibt. Und es gibt Stimmen in dieser Stimmung, die das tatsächlich befürworten. Dazu gehören Politiker auf dem absteigenden Ast wie die Vorsitzende der SPD Saskia Esken. Oder Nachrichtenmagazine auf dem absteigenden Ast wie der «Spiegel». Und natürlich Heribert Prantl von der »Süddeutschen Zeitung», der gute Mensch vom Dienst.

Eigenmann weist darauf hin, dass es das deutsche Grundgesetz, das eigentlich schon längst von einer Verfassung hätte abgelöst werden sollen, das Verbot sogenannter verfassungswidriger Parteien erlaube. Das letzte Mal traf dieses Verbot 1956 die Kommunistische Partei, der man nun kaum vorwerfen kann, faschistisch gewesen zu sein. Zwei Versuche, die NPD zu verbieten, scheiterten vor dem Bundesverfassungsgericht.

Mangels gesicherter Grundlage rudert nun Eigenmann an die Entscheidung heran, ob man die AfD verbieten solle, verbieten könne. Als Indiz führt er an, dass «ein Drittel der 30’000 Mitglieder als rechtsextrem» gelte. Schlimmer noch: «Viele arbeiteten zwar zumindest verbal auf einen Umsturz in Deutschland hin – aber nicht alle.» Vielleicht ist Eigenmann da etwas mit den Reichsbürgern oder den Identitären oder so durcheinandergeraten.

Was könnte man noch anführen? «Vor allem die rabiate Feindlichkeit gegen Eingewanderte verstösst nach Ansicht von Verfassungsschutz und -gericht grundlegend gegen das Gebot der Menschenwürde.» Müsste das nicht Einwandernde heissen? Egal. Wie menschenwürdig in Deutschland Prekariatsmitglieder ganz allgemein, Staatsbürger, die in von Clans beherrschten marginalisierten Quartieren leben, ganz speziell behandelt werden, müsste auch einmal hinterfragt werden, und ob das nicht auch gegen das Gebot der Menschenwürde verstosse. Man wird ja noch fragen dürfen.

Aber dann kommt Eigenmann zu einem ernüchternden Schluss: «Die meisten Fachleute warnen aber vor den immensen Risiken eines solchen Schritts.» Eigenmann zeigt sogar Ansätze zu eigenständigem Denken: Politisch wiederum liesse sich der Vorwurf schwer entkräften, hier wollten etablierte Parteien einfach einen unbequemen Konkurrenten loswerden.

Schliesslich seien ja auch ohne AfD noch die AfD-Wähler da, schliesst Eigenmann seinen Exkurs ins Sagbare, aber eigentlich Unsägliche ab. Wenn es also aus verschiedenen und guten Gründen überhaupt keinen Sinn macht, die AfD verbieten zu wollen: wieso stellt Eigenmann dann diese Frage in den Raum?

Die Vermutung sei gewagt: weil er sich weder an Reportagen noch an richtige Denkstücke herantraut, sondern einfach ein wenig vor sich hinplappern will. Nach der Devise: nimm das, Leser, du bist mir hilflos ausgeliefert. Allerdings nur so lange, wie es überhaupt noch Masochisten gibt, die dafür auch noch zahlen.

 

 

 

Antäuschung einer Reportage

Das kann nur Tamedia. Die Bankrotterklärung.

Die Reportage ist eine Königsdisziplin des Journalismus. Gerne nehmen sich diejenigen, die noch etwas Bildung haben, Egon Erwin Kisch als Vorbild. «Schreib das auf», war sein Anfeuerungsruf. Und das tat er. Bis heute stilbildend reportierte er die Wirklichkeit – unabhängig davon, dass er Kommunist war.

Denn das ist die Aufgabe einer Reportage. Ausser, sie findet im luft- und gedankenleeren Raum von Tamedia statt. Da wird grossartig eine «Reportage aus der AfD-Hochburg» angekündigt. Da wird die dunkel-dräuende Frage in den Titel gewuchtet: «Warum glauben die Menschen hier nicht mehr an die Demokratie?» Hier hat sich «Reporter» Dominique Eigenmann todesmutig nach Erfurt begeben. Und fragt bang: «Was können andere Parteien noch tun, wenn die AfD das Regieren fast unmöglich macht

Das ist alles eine Bankrotterklärung des Journalismus. Ein Missbrauch des Begriffs «Reportage». Das ist so, wie wenn McDonald’s einen Big Mac als exklusive Gourmet-Spitzenleistung anpreisen würde. Nein, das stimmt nicht, der sättigt wenigstens.

Aber der Reihe nach. Die Menschen glaubten in Thüringen nicht mehr an die Demokratie? Weil sie demokratisch einen AfD-Kandidaten zum Landrat gewählt haben? Der nun regiert, womit die AfD keinesfalls das Regieren unmöglich macht?

Aber das sind nur die ersten Vorboten eines völlig verunglückten Artikels. Eine Reportage besteht normalerweise darin, dass sich der Reporter auf der Strasse umhört, also den Menschen von Thüringen eine Stimme gibt. Nur: kommt nicht vor, hat sich Eigenmann nicht getraut. Eine Reportage über eine Partei beinhaltet normalerweise, dass man Vertretern der Partei Gelegenheit zur Stellungnahme gibt. In der «Reportage» über die «AfD-Hochburg» kommen weder die AfD-Wähler noch die AfD selbst mit einem einzigen Wort vor.

Zu Wort kommen lediglich ein Mike Mohring, Funktionär und Politiker der CDU. Ein Martin Debes, «Journalist und Autor». Beide sind – Überraschung – der AfD nicht gerade freundlich gesinnt. Das wäre okay, wenn sie zwei Stimmen in einem Chor von Meinungen wären. Da laut Umfragen die AfD mit über 30 Prozent die wählerstärkste Partei in Thüringen ist, müsste es nicht so schwer sein, den einen oder anderen AfD-Anhänger zu einer Aussage zu bewegen, wieso er denn diese Partei bevorzugt.

Hätte Eigenmann mit mehr als drei Thüringern gesprochen, hätte er einen Treffer gelandet. Aber er hat’s nur auf genau drei sorgfältig Ausgewählte geschafft. Wieso er überhaupt nach Erfurt reiste, erschliesst sich aus der «Reportage» auch nicht. Wie sieht die Stadt aus, was gibt es dort für Probleme, was sind die Schönheiten, wie halten die Menschen ihren Dialekt aus – das wären alles fundamentale Ingredienzien einer Reportage.

Stattdessen zitiert Eigenmann noch die Mitarbeiterin Anne Küpers, die zu einem Team der Universität Jena gehört, das die Stimmung in Thüringen monitoriert. Die letzte Arbeit stammt übrigens von 2022, brandaktuell. Sie behandelt Themen wie «Verschwörungserzählungen» oder «Migranten:innenfeindlichkeit, Muslim:feindlichkeit, Antisemitismus, Antifeminismus». Womit die politische Schlagseite genügend beschrieben wäre.

Aber nach Erfurt reisen (wirklich in echt, nicht nur virtuell, weil mit drei Leuten reden kann man heutzutage auch problemlos fernmündlich?), angeblich eine Reportage über die AfD schreiben, weil die dort so viele wählen – und dann ausschliesslich mit drei politischen Gegnern der Partei sprechen, das ist keine Reportage. Das ist eine Schande für den Journalismus.

Das ist ein Missbrauch des Worts «Reportage», für die Eigenmann eigentlich belangt werden müsste. Eigenmann lässt drei Personen kritische Sachen über die AfD sagen. Das ist nicht mal der Schatten eines Schattens einer Reportage. Eine Reportage beinhaltet ein Stimmungsbild, versucht die Wirklichkeit vor Ort einzufangen, verdichtet Beobachtungen, Zitate, Vorkommnisse zu einem lebendigen Abbild.

Handelt die Reportage von einer politischen Partei, wäre es für den Leser noch sachdienlich, ihm darzustellen, mit welchen Positionen, Forderungen, mit welchem Programm denn diese Partei es schafft, zur wählerstärksten zu werden. Wegen «Verschwörungserzählungen» und «Antifeminismus»? Unfassbar. Als Höhepunkt einer «Analyse» der AfD-Wähler zitiert Eigenmann einen launigen Tweet von Debes: «20 Prozent Nazis, 30 Prozent Affine, 50 Prozent Leck-mich-mal.»

Das ist nicht mal Schmiere, es ist Abfall. Noch schlimmer dabei: jeder Anfänger im Journalismus bekommt irgendwann mal beigebracht, was eine Reportage ist. Wenn es bei Tamedia noch eine funktionierende Qualitätskontrolle gäbe, wäre dieses elende und ellenlange Stück niemals dem zahlenden und fluchenden Leser serviert worden.

Gäbe es noch den Schatten einer Qualitätskontrolle, hätte spätestens die Chefredaktorin gefragt: und wo ist hier eine Reportage? Wo sind O-Töne, Beschreibungen der Wirklichkeit, wo ist die AfD? Dafür müsste Raphaela Birrer wissen, was eine Reportage ist. Aber da sie schon Mühe mit einem Kommentar hat, was so ziemlich das Einfachste im Journalismus ist …

Die Plattmacherin

Alles nur geträumt? Eine Archäologie am Berg.

Sibylle Berg hat ein bedeutendes Oeuvre geschaffen. Immer getragen von finsterer Weltsicht und artistisch dekorierter Depression.

Ob sie ihre eigene Biographie aufgehübscht, fiktionalisiert oder schlichtweg erfunden hat, ist eine lässliche Sünde. Wenn Journalisten ihr das alles abgenommen haben, ohne auf Widersprüchlichkeiten oder mangelnde Belege aufmerksam zu werden, wohlan. Lucien Scherrer von der NZZ hat die verdienstvolle Knochenarbeit geleistet, nachzugrübeln – um zum Ergebnis zu kommen, dass für vieles, für allzu vieles jeglicher Beleg fehlt; vom schweren Unfall über den Selbstmord der Mutter bis zur Dissidenz in der DDR.

Selbst über Geburtsdatum oder den Ort, wo Berg aufgewachsen sein will, gibt es verschiedene Angaben – von ihr selbst. Daher ist es absurd, sie damit verteidigen zu wollen, dass ihre Biographie privat sei und niemanden etwas angehe. Dahinter versteckt sie sich selbst, lässt das ihren Anwalt sagen – und nur rudimentär gebildete Journalistinnen wie Alexandra Kedves versuchen, das mit untauglichen Beispielen zu verteidigen: «Bezüglich ihres Privatlebens darf sie sich bedeckt halten, so wie das eine Menge Autorinnen und Autoren vor ihr taten.»

Kedves sollte es bei backfischartigen Schwärmereien «Kehle-Zuschnür-Momente, die hier für diese so gespaltene, so wunde Nation geschaffen wurden» in wackligem Deutsch bewenden lassen und nicht Grössen wie Thomas Pynchon für untaugliche Vergleiche missbrauchen.

Nun ist es unbezweifelbar so: in ihrem literarischen Werk, selbst in ihrer Biographie darf Berg Dichtung und Wahrheit vermischen, wie es ihr drum ist. Schreibt sie als Journalistin, sieht das ganz anders aus. Da gibt es nur die Wahrhaftigkeit – oder den Missbrauch des Vertrauens des Lesers, der ja dem Autor glauben muss, dass der gesehen, erlebt und recherchiert hat, was er schreibt.

Schauen wir uns die drei von Scherrer erwähnten Artikel von Berg einmal genauer an. Da wäre zum ersten «Der Totmacher», im November 1996 in ehemaligen Nachrichtenmagazin «Facts» erschienen. Copyright beim «Zeit Magazin», wir kommen darauf zurück. Fast 15’000 Anschläge über den polnischen Massenmörder Leszek Pekalski, der 57 Menschen umgebracht haben soll.

Berg verwendet einleitend diesen pseudo-literarischen Sound der Verdichtung, der guten «New Journalism» ausmacht, aber sehr schal wird, wenn er nicht gekonnt ist:

«Der Ort liegt da wie besoffen, wie im Koma liegt er da, in der Mittagshitze. Ein Nest in Polen. Eine staubige Strasse und Regen drauf, ganz offen, das Dorf zu säubern von versautem Leben. Eine ausgehöhlte Fabrik. Bekloppte Hunde kläffen, als gäbs da was zu bewachen. Links und rechts als Häuser getarnte Ruinen, als Menschen verkleidete Säufer. Wanken am Strassenrand, zum Kiosk, zum Saufen, die Beine nur von Gummistiefeln am Boden gehalten.»

Man weiss es ja, die Polen sind Säufer, die Lage ist hoffnungslos. So beginnt auch angeblich das Leben des Mörders: «Hier wird 1966 Leszek Pekalski geboren. Sein Vater ein debiler Traktorist, seine Mutter eine Magd, die Zeugungsnacht eine Vergewaltigung. Dreck, vom ersten Tag an.»

Dann kriecht sie in das Leben von Pekalski, als sei sie dabei gewesen: «Sitzt er in diesem Zimmer, auf dem Bett, und weiss die Feinde draussen, die Leere draussen. Und drinnen. Und wartet, dass die Zeit vergeht. Vergeht nicht, die Scheisszeit. So gern hätte er etwas für sich, das die Langeweile wegmachen würde. Fasst er sich an und weiss auf einmal, was ihm helfen würde.»

Aber Polen ist halt trostlos: «Kommt die Nacht, ist Polen verlassen. Alle sitzen in ihren Häusern, trinken.» Vielleicht ist Polen nicht verloren, aber verlassen und versoffen.

Dann überfällt Pekalski im Wald eine Frau, auch hier ist Berg dabei, sozusagen in ihm: «Endlich hat Leszek etwas, was ihm gehört. Er zieht sie aus, er untersucht die Frau. Sie wehrt sich nicht. Fein. Eine warme, weiche Frau. Das tut gut. Das riecht gut. Frauenhaar, Frauenkörper. Auf ihr liegen. Neben ihr. Bewegt sich nicht, kann er alles in sie stecken, kann er stark sein, Mann sein

Wenn es widerlich wird, ist Berg in ihrem Element, die Beschreibung der Vergewaltigung einer 13-Jährigen: «Sie lebt noch, als Leszek sie vergewaltigt. Sie lebt, trotz des Blutes, das aus ihrem Kopf kommt, trotz der Knochen, die im Hirn stecken. In ihrem Schmerz, ihrer Angst bis zum Wahnsinn, zerbeisst das Mädchen sich die Finger, bis das Weisse rausschaut.»

Dann fabuliert Berg ihre eigene Begegnung mit dem Mörder im Gefängnis: «Journalisten empfängt er nur, wenn sie ihm seine Wünsche erfüllen. Tüten voll Pornohefte, Schokolade, Kekse. Journalisten kommen viele, weil jeder gerne Mörder guckt. Ist ein gutes Grauen, dem Leszek gegenüberzusitzen, auf Armlänge, die Bewacher im Nebenraum.»

Auch sie habe seine Wünsche erfüllt: «Da schaut er lieber in die Tüte, wo die Schokolade drin ist und die Pornohefte.»

Nun gibt es hier ein paar Probleme. Berg will zum Beispiel auch wissen, wie es im Haus des Onkels des Mörders roch und aussah, als Pekalski dort einzog: «In einem heruntergekommenen Haus steht er, der Leszek, der versagt hat, in einem dunklen Flur, der stinkt, nach Moder, nach verfaulten Abfällen. In der guten Stube werden die Wände zusammengehalten von Heiligenbildern und Kruzifixen, und zu reden gibt es nichts. Der Onkel zeigt ihm ein Zimmer. Eine Stiege hoch, in den ersten Stock. Zwölf Quadratmeter gross. Tapete wellt von den Wänden. Pappe im Fenster, statt Scheiben. Ein Bett.»

Frage: Woher weiss Berg das? Ist sie dort gewesen? Hat’s Jahre später immer noch gestunken? Der Prozess war nur in kleinen Teilen öffentlich. Und da gibt es den Autor Jaques Buval, der aufgrund von Interviews mit Pekalski im Gefängnis (zu denen er ihm Schokolade und Pornohefte mitbrachte) später ein Buch über den Fall schrieb.

Diese mit Video aufgezeichneten Interviews spielten eine bedeutende Rolle im Prozess. Nun hat schon Truman Capote in seinem (im Übrigen furchtbar mäandernden) Werk «Kaltblütig» mit äusserster Genauigkeit die Morde (und die Mörder) einer vierköpfigen Farmerfamilie beschrieben. Allerdings als Rekonstruktion aufgrund von Akten, Zeugenaussagen und Gesprächen mit den Mördern.

Er erweckte dabei niemals den Eindruck, er sei selbst dabei gewesen; sozusagen als unsichtbarer Zuschauer oder versteckt im Hirn der Täter. Das ist in einer Reportage auf jeden Fall unstatthaft.

Die Beschreibung der Polen und Polens als hemmungslose Säufer in einem trostlosen Land ist an Rassismus und Diskriminierung schwer zu überbieten. In einer literarischen Verdichtung einer Reportage muss der Leser immer wissen, was faktisch unterlegt und was Ausdruck der literarischen Fantasie des Autors ist. Wer mit schalen und wohlfeilen Metaphern arbeitet, erweckt Misstrauen:

«Polen ist überall, der Sozialismus ist überall, und Stumpfheit liegt auf dem Land wie grauer Schmier

Diese Grenzen überschreitet Berg in ihrer «Reportage» mehrfach. Der Sound ihres Artikels ähnelt fatal den Werken von Tom Kummer oder von Claas Relotius. Diese zwei Serientäter haben mit ihren erfundenen oder fabulierten Geschichten dem Ansehen des Journalismus im Allgemeinen und des «Zeit Magazin» sowie des «Spiegel» im Speziellen schweren Schaden zugefügt. In beiden Fällen hatte die Aufdeckung ihrer Lügenstorys personelle Konsequenzen.

Wie heisst es doch heutzutage immer so schön: Im Fall von Sibylle Berg gilt die Unschuldsvermutung … Sie wird Gelegenheit bekommen, zu den hier aufgeworfenen Fragen (und zu einigen weiteren zu weiteren Artikeln) Stellung zu nehmen.

Weiss Berg, was in diesem Kopf vorgeht?

 

 

 

Ladies, Gentlemen and everyone beyond

Wir wollen gerecht bleiben: nicht nur «bajour» verwildert. Die «Republik» auch.

Es war ein Freitag. Also eigentlich ein normaler Arbeitstag. Es war auch nicht bekannt, dass sich die «Republik»-Crew schon wieder zur Retraite in die Alpen zurückgezogen hätte. Obwohl die Alpen an diesem Freitag schon eine Rolle spielten.

Eine Solorolle, sozusagen. Denn der Output von 50 Nasen, von unermüdlichen Rettern der Demokratie, von Kommentatoren, Rechthabern und unerschrockenen Rechercheuren, die leider immer nur vergessen, von ihnen Kritisierten die Möglichkeit zur Stellungnahme einzuräumen, ist bescheiden.

Man möchte an diesem Freitag sogar von einem Outpütchen sprechen. Denn zwischen 4.49 und 5.00 Uhr wurden, natürlich vorgefertigt, ganze drei Stücke ins Netz gestellt. Ein normales Tagewerk auf Augenhöhe mit ZACKBUM? Die 2000 Franken wert, die das Qualitätsprodukt jeden Tag verröstet?

Nun ja. Es handelt sich um einen Nachrichtenüberblick:

Und um einen NL, den sonst niemand auch noch ins Netz stellt:

Schliesslich noch um eine (in Zahlen 1) Reportage:

Man beachte: es war nicht einfach ein weiteres Ausflüglein in die liebliche Schweizer Bergwelt. Nein, die Mutprobe ist nur mit den Journalisten vergleichbar, die sich immer noch in Kabul rumtreiben. Denn es handelt sich um «eine Expedition in drei Schweizer Gefahrenzonen».

Das hört sich etwas nach Menschen an, die vor dem Klettern in die Badewanne ihre Tauchausrüstung überprüfen und sicherstellen, dass ein Alarmknopf in Griffweite liegt.

Mutige Reporter in Schweizer Gefahrengebieten

Todeszone eins: Wattenwil, Kanton Bern. Der unvermeidliche szenische Einstieg: ««Für Sand­säcke bitte melden.» Darunter die Telefon­nummer des Material­warts. Diese Notiz am Eingang des Feuerwehr­magazins, von Hand mit grünem Filzstift auf weisses Drucker­papier geschrieben, lässt erahnen: Die Feuerwehr Wattenwil hat reichlich Erfahrung mit Wasser.»

Die Feuerwehrhelden dort leisten Übermenschliches: «Dann heult jeweils auch schon der erste Alarm. Wasser im Keller, in der Wohnung. Die Feuer­wehr rückt aus und pumpt das Wasser aus den Häusern.»

Nehmt das, ihr Klimaleugner.

Runder szenischer Ausstieg: «Die Wand­tafel mit den Sandsack-Bestellungen ist vollgeschrieben.»

Die Reporter atmen auf, nochmal davongekommen, auf zur nächsten Todeszone: Othmarsingen, Kanton Aargau. Hier ist’s ein historischer Rückblick auf den Hitzesommer 2018, als Einstieg für die «historischen Niederschläge 2021». So ist’s, es regnet, oder die Sonne scheint.

Unglaublich, diese Natur.

Regen und Trockenheit, das wird auch in Zukunft die Schweizer Landwirtschaft bestimmen, finden die Recherchierjournalisten hier heraus, am Schluss lassen sich die offenbar städtischen Reporter vom Bauern noch die Grundlage seiner Tätigkeit erklären:

«Ohne Insekten gibt es keine Bestäubung. Und ohne Wasser wachsen die Pflanzen nicht.»

Wahnsinn, diese Natur.

Wenn der Berg nicht ruft, sondern kommt

Schliesslich, man kann sich natürlich steigern, die echte Expedition in echte Gefahren: Kandersteg, Kanton Bern. Eigentlich ist es eine Idylle, so wie am Anfang beim «Weissen Hai»: «An einem sonnigen Mittwoch im August strömen die Menschen in Scharen nach Kander­steg.»

Nichtsahnend, denn der Fachmann blickt sorgenvoll auf die Berge: «20 Millionen Kubik­meter Gestein sind dort in Bewegung.»

Denn Fachleute und Kenner wissen, «dass die Klima­erhitzung in den Alpen zu diversen Gefahren führt». Ganz zu schweigen von einer Klimaabkühlung, die es in der kurzen Geschichte der Menschheit auch schon gegeben hat.

Das Expeditionsteam in Schweizer Gefahrenzonen ist heil ins Rothaus zurückgekehrt. Es begiesst womöglich in der Bar das geschenkte, zweite Leben, aber es warnt:

«Starkniederschläge, Trockenheit und Hitze: Die Besuche in Wattenwil, Othmarsingen und Kandersteg zeigen, dass die Schweizer Klima­gefahren bereits heute aufflackern.»

Wie kann man dieses Flackern abstellen? «Eine drastische Reduktion des Ausstosses von Treibhaus­­gasen ist zwingend.» Weniger CO2, genau. Der Promilleanteil der Schweiz muss unbedingt unter die Messbarkeitsschwelle gedrückt werden. Ach, und den Amis und Chinesen sollte auch mal einer Bescheid sagen, dass es so nicht weitergeht.