NZZ schwelgt in der Vergangenheit

Was aktuell ist, bestimmt immer noch die alte Tante.

«Zwei Jahre Krieg in der Ukraine», das ist der NZZ eine eigene Rubrik wert. Allerdings nicht unbedingt aktuelle Artikel. Der erste ist vom 24. Februar. Allerdings 2023. Der älteste stammt gar vom August 2022. Das ist mal eine souveräne Handhabung der Aktualität.

Dabei wäre das Thema durchaus von latenter Aktualität: «Wie soll die Ukraine mit dem umstrittenen «Nationalhelden» Stefan Bandera umgehen?» Da punktet die NZZ mal wieder damit, dass sie einen kompetenten Wissenschafter zu einem Gastbeitrag aufgeboten hat. Grzegorz Rossolinski-Liebe ist sicherlich der beste Bandera-Kenner zurzeit.

Der Kriegsverbrecher, Faschist und Nazi-Helfer Bandera wird nicht nur in der Westukraine bis heute kultig verehrt. Der konfliktive Botschafter der Ukraine in Deutschland, Andri Melnik, musste seinen Posten nicht etwas wegen seiner rüden Art räumen, sondern weil er dem Nationalistenführer Bandera mit uneingeschränkter Verehrung begegnete.

Diese postfaschistische Heldenverehrung machte es Präsident Putin einfach zu behaupten, das Hauptziel des russischen Überfalls sei die Ent-Nazifizierung der Ukraine.

Zur Verteidigung Banderas wird häufig angeführt, dass er einige Jahre während der Nazi-Besatzung der Ukraine im Gefängnis verbrachte. Also sei er doch an der Ermordung von 800’000 Juden durch die Deutschen in der Westukraine nicht beteiligt gewesen.

Aber Helfershelfer seiner Organisation töteten bis 1944 in Wohlhynien und Galizien weitere 100’000 Polen. Dazu schreibt Grzegorz Rossolinski-Liebe: «In seiner Gefangenschaft war Bandera nicht im Detail über den Verlauf der Ereignisse informiert. Aber die Massenmorde an Juden und Polen, deren Ziel ein ethnisch-homogener Staat war, entsprach weitgehend seinen politischen Vorstellungen und den Zielen der OUN.»

Nachdem Bandera in seinem Exil in Deutschland 1959 vom KGB ermordet worden war – in der damaligen Sowjetunion war er als Kriegsverbrecher in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden – wurde er in der Westukraine zunehmend zum Nationalhelden stilisiert. Dieser Mythos «manifestiert sich in zahlreichen Denkmälern, Museen, Strassennamen, Briefmarken, Musikfestivals und den Tattoos seiner Anhänger».

Schlimmer noch: «Denn der Kreis der Bandera-Verehrer schliesst eben nicht nur nationalistische Politiker oder rechtsradikale Fanatiker ein, sondern auch Personen aus dem gesellschaftlichen Mainstream: Musiker, Schriftsteller, Gymnasiallehrer und Geschichtsprofessoren – oder eben Diplomaten wie den Botschafter Melnik.»

Spätestens seit Putins Überfall ist in der Ukraine allerdings jeder kritische Umgang mit dem faschistischen Verbrecher Bandera tabu. Dabei muss man ihn als weitere führende Figur des europäischen Faschismus sehen, er «hätte er seinen Platz als eine Figur im Kontext des europaweiten Faschismus, zwar nicht gleichzusetzen mit Hitler oder Mussolini, aber mit ähnlicher Bedeutung, wie sie etwa der kroatische Ustasa-Führer Ante Pavelic hat».

So aber bleibt diese Verehrung eines Anhängers von ethnischer Säuberung, eines Antisemiten und eines Kriegsverbrechers ein Schandfleck, worauf immer wieder hingewiesen werden sollte. Dass auch Teile der ukraninischen Armee, die berüchtigte Brigade Asow, nicht nur faschistische Kennzeichen mit Stolz auf ihren Uniformen trägt, sondern auch postfaschistisches Gedankengut pflegt, ist eine weitere Tatsache.

Aber solche Komplexitäten sind nicht nach dem Geschmack der terribles simplificateurs, die sich von nichts das Narrativ Ukraine/Selenskyj gut, Russland/Putin böse stören lassen möchten.

5 Kommentare
  1. Guido Kirschke
    Guido Kirschke sagte:

    Ich habe wirklich Mühe mit dem Begriff «postfaschistisch». In meinen Augen kann das alles oder nichts sein. Das Wort gehört für mich in die Kategorie «Gaunersprache».

    Antworten
  2. Martin Hefti
    Martin Hefti sagte:

    Die kultig verehrten Wilhelm Tell und Arnold von Winkelried dürften vom Hause Habsburg auch eher kritisch angesehen worden sein, ebenso die Nationalisten vom Morgarten, die in krasser Missachtung der damaligen Gesetze und Gebräuche im Kriege eine Koalitionstruppe der Guten und Gerechten massakrierte. Diese war formiert worden, um Verbrechen zu sanktionieren, beispielsweise Deportation oder Abschlachtung der Mönche des Klosters Einsiedeln. Dennoch verwendet die demnach faschistische, verbrecherische und im übrigen nicht unkorrupte Schweiz nach wie vor die Armbrust als Emblem, unterhält Denkmäler, benennt Strassen und Sportveranstaltungen nach ihren Helden, verehrt sie auf Münzen, Briefmarken, Gemälden und betrachtet die Hellebarde, die Terroristenwaffe per se, als nationales Kulturgut, das man als Ehrengabe verschenkt, in Museen pflegt und an Umzügen und Gedenkfeiern stolz präsentiert. Im Mythos für das Bewusstsein der Nation ist der Unterschied zum UPA-Gedenkmarsch und der Bandera-Büste in einem Karpatenstädtchen nicht gerade riesig.

    Antworten

Dein Kommentar

An Diskussion beteiligen?
Hinterlasse uns Deinen Kommentar!

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert