Geschichte, reloaded

Der NZZ-Redaktor im Unruhestand schreibt die Geschichte neu.

Wer pensioniert ist, hat viel Zeit. Wer als Journalist pensioniert ist, hat meistens noch Schreibdrang. Da seine Werke wohlfeil zu haben sind, bringt sie sein ehemaliges Organ NZZ gerne. Dort sondert er dann Einschätzungen ab, die meistens schon veraltet sind, sobald er sie formuliert hat.

Nun fasst er gewaltig unter den Mantel der Geschichte und bläst in ihn, bis er kräftig flattert:

Denn er hat eine Idee, die auf den ersten Blick ausbaufähig erscheint. Im Februar 1989 zogen sich die letzten sowjetischen Truppen aus Afghanistan zurück. Natürlich soll das der Anfang eines Vergleichs mit der Invasion der Ukraine in der Jetztzeit sein. Rund zwei Jahre später hörte die UdSSR offiziell auf zu existieren. Bevor Schmid aber parallelisieren kann, muss zuerst eine Packungsbeilage her: «Natürlich kollabierte die Sowjetunion nicht wegen der Invasion in Afghanistan – nicht nur.» Nicht nur, oder eher nicht. Oder eigentlich überhaupt nicht.

Aber man soll sich doch nicht von Fakten eine schöne Story kaputtmachen lassen. Um die Grundlagen für Parallelen zu schaffen, pflügt Schmid nun die Geschichte der sowjetischen Intervention in Afghanistan kräftig um und holzt mal los:

«Moskau handelte in Afghanistan imperialistisch, völkerrechtswidrig und verbrecherisch: in der Ukraine genauso

Das ist natürlich, gelinde gesagt, Unsinn. In Afghanistan war eine kommunistische Regierung an der Macht, die fortschrittliche Reformen durchsetzen wollte und durch fundamentalistische Wahnsinnige in ihrer Existenz gefährdet war. Ihr wollte die Sowjetunion zu Hilfe eilen. Denn was immer man von der UdSSR und dem Kommunismus halten mag: für die afghanische Bevölkerung, in erster Linie für die Frauen, für die Analphabeten, für die Armen und Geknechteten war es ein Segen, ein Lichtblick, der Anfang des Weges ins 20. Jahrhundert.

Dann lässt Schmid ungefähr die Hälfte der Wahrheit einfach weg:

«Die Hilfe für die Mujahedin lief schleppend an, aber nach ein paar Jahren hatten die USA zusammen mit Pakistan und den Saudi effiziente Nachschubnetze aufgebaut.Heute statten die USA und Europa die Ukraine mit Geld, Waffen und geheimdienstlichen Erkenntnissen aus. Was sie wieder nicht schicken, sind Truppen.»

Die andere Hälfte wäre: nachdem nicht zuletzt durch die Lieferung von Stinger-Raketen die Sowjetunion zum Rückzug gezwungen wurde, errichteten die sogenannten «Freiheitskämpfer» der Mujahedin ein mittelalterliches, frauenfeindliches, religiösen Wahnsinn verherrlichendes Regime – und wurden zur Brutstätte des internationalen Terrorismus, boten sich als Operationsbasis für eine Unzahl von Terrororganisationen an – auch Bin Laden machte davon gerne Gebrauch.

Als die USA nach 9/11 davon genug hatten, versuchten sie selbst – letztlich genauso erfolglos wie die UdSSR – in Afghanistan militärisch einzugreifen. Zu ihrem besonderen Ärger mussten sie feststellen, dass Stinger-Raketen keinen Unterschied zwischen sowjetischen oder US-Helikoptern machten. Die USA hatten sich hier selbst eine Brutstätte von fundamentalistischem Terror herangezüchtet und die sogenannten «Freiheitskämpfer» mit Waffen ausgerüstet, die die nun gegen die USA einsetzten. Welch Absurdität.

Diesen Teil der Geschichte lässt Schmid einfach weg, denn das würde ja nicht in die Parallelität passen – denn die Ukrainer mögen zwar teilweise angebräunt sein, aber fundamentalistische Wahnsinnige sind sie sicher nicht.

Aber was soll’s, wie schreibt Schmid entlarvend offenherzig: «Droht Russland heute dasselbe Schicksal? Wird Putin nach einer Niederlage stürzen wie einst Gorbatschow? Wird Russland zerfallen wie die Sowjetunion? Niemand kann es sagen. Doch die Freunde der historischen Analogie frohlocken: Tatsächlich finden sich Ähnlichkeiten, Parallelen und Übereinstimmungen zuhauf

Parallelen finden sich immer, wenn man sie selbst in die Geschichte hineinträgt, um sie dann frohlockend zu «entdecken». Während aber zuvor im Artikel Putin noch sicher im Sattel sitzt, lässt Schmid am Schluss seiner Wunschvorstellung freien Lauf:

«Der Westen könnte sich noch wundern, wie schnell das Volk von Putin und seiner kriegslüsternen Kamarilla abrückt, wenn ihm das Wasser zum Hals steht. Jahrelang werden auch die an Leib und Seele Verwundeten zurückkehren. Sie werden in ein Land kommen, das wirtschaftlich ermattet ist und kaum noch in der Lage sein wird, sie zu unterstützen.»

Bevor das passiert, wundert sich allerdings der Leser, wieso die NZZ einem dermassen ahistorischen, einäugigen, polemischen Artikel eine ganze Seite einräumt. Sicher, ehemalige Mitarbeiter soll man ehren, aber auf Kosten des Lesers?

5 Kommentare
  1. Hans von Atzigen
    Hans von Atzigen sagte:

    Der letzte Afghanistanakt wäre auch eine Aufarbeitung und Analyse wert.
    Innerhalb einer Woche wechselten 300’000 Mann unmittelbar hinter den US und Willigen Truppen mit der Ganzen Logistik die Seite.
    Rund 20 Jahre „erfolgreicher“ Einsatz in Afghanistan, innerhalb einer Wochevoll auf null gefahren.
    Wo und wann gab es das in der Geschichte???
    Das sucht seinesgleichen, einfach oberpeinlich!

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  2. René Küng
    René Küng sagte:

    Und hier noch das Beste (absolut zackbum-würdig *) zum Thema Geschichte, Medien, Manipulation, was als Zusammenfassung unserer Zeit geschrieben wurde:
    https://globalbridge.ch/so-verlor-ich-den-glauben-an-die-etablierten-medien/

    *und ironischerweise, schön und traurig, auch als Gast-Beitrag auf dem sperber publiziert.
    Der abwechslungsweise offenen und kleinmütigen Plattform, die den Müller suspendiert hat letztes Jahr, weil er nicht ganz rascher war.
    Immerhin, es gibt jetzt einen Ort mehr, wo andere ‹Wahrheiten› zu lesen sind als die Warheiten der Rüstungsindustrie, Produzenten und Händler aller Art.

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  3. René Küng
    René Küng sagte:

    So lange wie Russland das dominierende Thema ist,
    wird, muss, darf über die fundamentali$$tischen Herren (und ihre Quoten-Rasseln) nicht geschrieben, geredet, nachgedacht werden.
    Darum besitzen und steuern sie die Medien, Mikrophone&Lautsprecher und planen Panik-artig die vollständige ‹Säuberung› der digitalen Kanäle. Die EU im Auftrag der U$ (weil’s dort verboten wääääre) und unsere brave Tante hinterm Herd ganz läufig hinter ihren Brüssel-Düssel her.
    zackbum noch lesen, solange Viola es zulässt.

    Die Basis legen sie an Schulen und Universitäten, wo selber denken durch mutil Tscheus ersetzt wird: Chrüzli mache für Analphabete.

    mutil
    4. (archaic, derogatory) servant, slave

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  4. Remo
    Remo sagte:

    Rußland-«Berichterstattung» in NZZ und Co kann man getrost in der Pfeife rauchen. Genauso wie schon die Corona-«Berichterstattung».
    Die «liberale» NZZ fing plötzlich an, China mit seinen noch rigideren Zwangsmaßnahmen zu loben. Und ja, die NZZ ist auf Nato gebürstet:
    https://swprs.org/medien-navigator/

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    • Guido Kirschke
      Guido Kirschke sagte:

      Von Tagi, Blick & Co. ist nichts mehr anderes zu erwarten. Die grösste Enttäuschung ist gerade deshalb die NZZ.

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