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Yes we wobble

Wackeln, schwanken, flattern. Fahnen im Wind, die Medien.

Der arme Joe Biden ist entsorgt als das, was er schon seit Längerem ist: ein seniler alter Mann mit schlechtem Gedächtnis, der nur beschränkt aufnahmefähig ist und daher schon längst für das Amt des mächtigsten Herrschers der Welt ungeeignet.

Trump bleibt Trump und ist vorläufig leicht derangiert. Sein Lieblingsgegner ist ihm abhanden gekommen, nun ist er der einzige Alte im Ring. Vorläufig beschimpft er seine neue Gegnerin einfach mal unflätig («crazy, nuts»), aber ihm wird sicher noch Besseres (oder Schlimmeres) einfallen. Natürlich sie zu verklagen, das gehört in den USA zum Brauchtum. Sie dürfe nicht die Wahlspenden verwenden, die für das Zweierticket Biden/Harris eintrudelten. Gaga, aber wenn man genug Geld hat …

Phänomenal ist die Hochschreibung von Kamala Harris zur neuen, farbigen Hoffnung. 1500 Treffer im Medienarchiv, seitdem Biden seinen Rücktritt von der Kandidatur bekannt gegeben hat. (Fast) alle Lobhudeleien.

Zuerst die Ausnahme: «Manchmal tanzt sie, manchmal ist sie eine schreckliche Chefin: Die Widersprüche von Kamala Harris», titelt der USA-Korrespondent von CH-Media Renzo Ruf. Und wagt sich immerhin an ein differenziertes Porträt.

Ansonsten spitze Jubelschreie und Artikel, bei denen neue Hoffnung die Feder führt, dass uns doch Trump erspart bleiben möge. Darunter natürlich die Umfragen: Harris «liegt jetzt vor Donald Trump», begeistert sich «20 Minuten». Aber auch Schreckensmeldungen: «Trump will Harris Zugriff auf Spenden verhindern», orakelt das St. Galler «Tagblatt». Auch die NZZ ist nicht ganz überzeugt von ihr: «Reiche besteuern, den Rest schonen: Harris und ihr Hang zum Linkspopulismus».

Die «Süddeutsche Zeitung» hingegen wird geradezu lyrisch: «Räuber und Gendarm» titelt sie, in Anspielung auf die Verurteilung Trumps und die Tatsache, dass Harris mal Staatsanwältin war. «Harris mit viel Rückenwind», weiss die «Südostschweiz». «Im Trump-Lager herrscht Panik», diagnostiziert die «Welt». Dagegen weiss Tamedia: ««Yes We Kam» – plötzlich herrscht Euphorie». «Moderne Frau gegen alten Mann», bringt es die «Frankenpost» auf den Punkt. Und der österreichische «Falter» flattert in der heissen Luft: «Amerikas letzte Hoffnung», der «Standard» sekundiert: «Kamala Harris startet voll durch».

Auch der «Blick» weiss genau: «Harris ist der Gegenentwurf zu Trump».

Das ist alles sehr erstaunlich. Und hofft auf das Kurzzeitgedächtnis der Leser. Denn wir erinnern uns. Beim ersten Amtsantritt von Biden, der damals schon die Notlösung gegen Trump war, war Harris die Notnotlösung. Man hoffte, dass sie im besten Fall schon in der ersten Amtszeit das Zepter von Biden übernehmen könnte, so nach zwei Jahren. Aber auf jeden Fall dann nach seiner ersten Amtszeit als Präsidentschaftskandidatin antreten würde.

Da kam dann leider etwas dazwischen. Nämlich die Tatsache, dass Harris nie ein eigenes Profil entwickeln konnte, in Beliebtheitsumfragen unter ferner Liefen auftaucht, kein Charisma hat, weder den Frauen-, noch den Farbigenbonus ausspielen konnte, obwohl sie zum Amtsantritt hochgejubelt wurde. So schwärmte Priska Amstutz (die war mal was bei Tamedia): «Frauen und Männer auf der ganzen Welt haben die Wahl einer Frau zur ersten Vizepräsidentin der USA dringend gebraucht». Und sie fuhr verliebt wie ein Backfisch fort: «Harris kann während ihrer Amtszeit als Coach in Female Leadership dienen.» Damit nicht genug: «Madam Vice President, Sie haben das Wort.»

Amstutz ist Geschichte, solche Lobeshymnen auch. Das sahen auch die Bosse der Demokratischen Partei so. Zuerst wurde gecancelt, dass Harris die Präsidentschaft von Biden übernahm. Dann wurde gecancelt, dass sie an seiner Stelle in den Ring gegen Trump steigt. Obwohl schon damals allen Entscheidungsträgern bewusst war, welches Risiko sie mit einem senilen Biden eingehen. Aber lieber ein Gaga-Greis als eine unbeliebte, profillose, schwache Rednerin, eine Opportunistin, die immer ihr Mäntelchen in den Wind hängt.

Das war noch vor wenigen Monaten die Entscheidungslage, lauthals begrüsst von (fast) allen Kommentatoren, die sogar daran herummäkelten, dass Biden sich wieder für Harris als Vizepräsidentin entschieden hatte. Könnte seine Wahlchancen nicht gerade steigern.

Man muss es der Journaille lassen. Sie braucht nicht einmal mehr eine Schrecksekunde (wie damals, als Trump wider all ihre Erwartungen Präsident wurde).

Von «Biden ist die beste Option gegen Trump» zu «Biden muss weg», von «Biden kann Trump schlagen» zu «Biden kann Trump nicht schlagen». Von «ein wenig merkt man sein Alter, aber der Mann ist immer noch kregel» zu «wie kann man nur so einen Gaga-Greis nochmal antreten lassen».

Von Harris war dabei höchstens am Rand die Rede. Bei Spekulationen über allfälligen Ersatz kam sie meistens als «okay, die Vizepräsidentin wäre auch eine Möglichkeit, aber doch eher unwahrscheinlich» vor.

Und jetzt? «Yes we Kam», Aufbruchstimmung, die wird Trump schlagen, die kann Trump schlagen, wir sind begeistert.

Aber glauben die Damen und Herren von Amstutz abwärts, von Münger aufwärts im Ernst, dass sie ihr Publikum noch ernst nimmt? Unterhaltungsprogramm, gut, das ist denkbar. Man hat ja heutzutage so wenig zu lachen. Aber sonst? Auch über Lachnummern kann man nicht ewig kichern.

Vor allem, wenn sie immer wieder die gleiche Nummer zum Besten geben: gestern sage ich das, heute dies, morgen jenes. Oder umgekehrt. Ist doch egal.

 

Wieso der «Spiegel» abserbelt

Zerrspiegel, Hohlspiegel, Rückspiegel.

Claas Relotius, der Storyfälscher, war eigentlich nur die Spitze des Eisbergs. Denn er kam jahrelang mit seinen erfundenen Storys durch, weil er genau das Narrativ, das Framing, die Gesinnungswolke des «Spiegel» bediente.

Der andere Sündenfall des «Spiegel» war und ist Donald Trump. Statt sich Gedanken darüber zu machen, wieso all die wohlbezahlten USA-Spezialisten dessen Wahlsieg gegen Hilary Clinton nicht vorhersahen, erklärte der «Spiegel» zu seiner vornehmsten Aufgabe (im Ernst), den Präsidenten «wegschreiben» zu müssen.

Darin sind zwei weitere Gründe für den Niedergang enthalten. Arroganz, Überschätzung der eigenen Bedeutung und mangelnder Realitätskontakt. Es gibt viele Gründe, Trump für einen gefährliche Amok zu halten. Aber von einem «Nachrichtenmagazin» darf man erwarten, dass es zu erklären versucht, wieso die Hälfte der US-Stimmberechtigten diesen Mann wählen. Sie alle für Idioten, Hinterwäldler und Wahnsinnige zu erklären, das greift dann doch etwas zu kurz.

Was in den USA Trump ist, ist in Deutschland die AfD. Auch hier gibt es genügend Gründe, sie wegen einiger angebräunter Exponenten für unwählbar zu halten. Aber wieso die Partei – trotz aller Häutungen und einem beachtlichen Verschleiss an Führungspersonal – in Umfragen sogar Mehrheiten erreicht, das bedürfte der Erklärung. Alle AfD-Wähler als Gescheiterte, Fremdenhasser, Neonazis oder Prekariatsmitglieder zu verhöhnen, das kann’s ja auch nicht sein.

Die Quittung: Umsatzrückgang (2023 waren es 8 Prozent weniger als 2022), Print minus 25 Prozent Einnahmen durch Werbung, digital minus 18 Prozent. Der Jahresüberschuss brach gar um 43,5 Prozent ein, von 42,8 Millionen auf 24,2, beinahe eine Halbierung.

Einerseits verunsichert das, was sich durch die häufigen Wechsel in der Chefredaktion ausdrückt. Erst vor einem Jahr wurde Steffen Klusmann gefeuert und durch Dirk Kurbjuweit ersetzt. Der wohl fähigste Schreiber Ullrich Fichtner, der schon als neuer Chefredaktor gesetzt war, stolperte über den Relotius-Skandal. Den er dann aber in einer geradezu genialischen Titelgeschichte schönschrieb, in einer Art, wie sie kein zweiter deutscher Journalist hinkriegen würde.

Verkaufte der «Spiegel» von 1995 bis 2009 regelmässig über 1 Million Exemplare, sank die Zahl 2010 das erste Mal unter die Millionengrenze. 2023 waren es dann noch 695’000 Stück, ein weiterer Rückgang von 30’000 im Vergleich zum Vorjahr. Im Vergleich zu 1995 hat er damit mehr als ein Drittel der Auflage verloren.

Digital hat er sich allerdings auf 295’000 Abos gesteigert, was aber den deutlichen Rückgang der Gesamtauflage nicht stoppen kann. Woran liegt das?

Sicherlich, allgemeines Gejammer der Newsmedien. Zu viel Gratis-Konkurrenz, rückläufige Werbeeinnahmen, Konkurrenz durch Verkaufsplattformen, und überhaupt.

Aber auch beim «Spiegel» (wie bei vielen anderen Medien, bspw. «Blick») ist vieles hausgemacht. Wer werthaltige Berichterstattung durch mehr oder minder gut geschriebene Rechthaberei ersetzt, wer die Farbe aus der Wirklichkeit nimmt und mit Schwarzweiss simplifiziert, wer nicht mehr informiert, sondern vorhersehbar kommentiert, der verliert halt Leser.

Das setzt einen Teufelskreis in Bewegung. Umso mehr die Bedeutung des Organs (und seiner Schreiber) schwindet, desto verkniffener wird krakeelt. Desto mehr greift Rechthaberei, das Erteilen guter Ratschläge und das Aufstellen von Forderungen um sich.

Der Leser fragt sich dann zunehmend, wieso er für diese kaum verkleidete Bauchnabelschau leidender Schreibkräfte etwas bezahlen soll. Und lässt es dann auch. Sind das die allgemeinen Zeitläufte? Nein, nicht wirklich, denn in der gleichen Zeitspanne hat «Die Zeit» auflagemässig fast zum «Spiegel» aufgeschlossen. Auch wenn das Blatt selbst nicht frei von ideologischer Rechthaberei ist, pflegt es dennoch einen umaufgeregteren und viel offeneren Ton als der «Spiegel», lässt auch ein breiteres Meinungsspektrum zu.

Das «Sturmgeschütz der Demokratie», wie es der Gründer Rudolf Augstein mal in leichter Selbstüberschätzung nannte, hat zunehmend Ladehemmung und produziert auch den einen oder anderen Rohrkrepierer. Mit welcher Verve sich das Magazin beispielsweise in die Debatte um Anschuldigungen gegen Prominente warf, da hat Augstein sicherlich im Grab rotiert. Eine Titelgeschichte über den Sänger von Rammstein mitsamt anonymen Aussagen von Denunziantinnen? Einer verbitterten Redaktorin des Zürcher «Magazin» eine Plattform bieten, um üble Anschuldigungen gegen ihren ehemaligen Chefredaktor zu erheben – ohne zu erwähnen, dass die Autorin dessen Posten wollte, nicht bekam und stattdessen gefeuert wurde –, das sind nach Relotius weitere Tiefpunkte.

Schade eigentlich, aber auch für den «Spiegel» gilt: was zerbrochen ist, muss weg.

Wir üben Schönschreiben

Früher Schulfach, heute Journalismus.

In der Schweiz leben rund 70’000 ukrainische Flüchtlinge. Die haben ein Problem. Tausende von ihnen sind im wehrfähigen Alter, haben sich also der Vaterlandsverteidigung durch Flucht entzogen. Menschlich verständlich, aber schützenswert?

40’000 von ihnen sind im erwerbsfähigen Alter, könnten also versuchen, ihren Lebensunterhalt nicht auf Kosten der Schweizer Steuerzahler zu bestreiten. In die Tat umgesetzt haben das bislang aber lediglich 20 Prozent, ganze 8000. Dabei sollen zwei Drittel der Ukrainer in der Schweiz sogar einen Hochschulabschluss haben, hätten also beste intellektuelle Voraussetzungen, sich in einer fremden Sprache und Mentalität zurechtzufinden.

Dass die überwältigende Mehrheit der Flüchtlinge aber lieber etwas Land und Leute kennenlernen will, sich vielleicht auch endlich mal die Zähne richten, das sorgt verständlich für etwas Unmut in der Bevölkerung. Dem muss mit Schönschreiben Gegensteuer gegeben werden.

Ein Einsatz für Sascha Britsko von Tamedia. Unter der Spitzmarke «Integration von Flüchtlingen» berichtet sie über drei ukrainische Frauen, die eine Anstellung gefunden haben. Olga (39) ist «Klassenassistentin an einer Privatschule». Allerdings ist dieser 75-Prozent-Job bis zum Sommer befristet. Natalia (28) ist «Assistenzärztin an einer psychiatrischen Klinik». Obwohl es ihr immer noch «am schwersten fällt, Schweizerdeutsch zu verstehen», was in diesem Job vielleicht nicht ganz unwichtig ist, will sie in drei Jahren das Schweizer Staatsexamen bestehen. Irina (34) arbeitet als Fitnesstrainerin, mit 13 Lektionen pro Woche, die sie auf Englisch erteilt, können sie und ihr Tochter leben.

Offensichtlich ist die Sprache eine grosse Hürde. Allerdings sollten eigentlich zwei Jahre für akademisch ausgebildete Menschen völlig ausreichend sein, auf genügend hohem Niveau Deutsch zu sprechen. Da es in der Schweiz anscheinend einen gravierenden Fachkräftemangel gibt, sollte es auch kein Problem für die übrigen 80 Prozent der ukrainischen Flüchtlinge sein, eine Arbeitsstelle zu finden.

Aber all diese Überlegungen und Themen und Fragen umfährt Britsko weiträumig; ihr geht es darum, aus ihren drei Erfolgsfällen so viel wie möglich rauszusaugen. Sie überlegt nicht einmal, wieso sie eigentlich nur Frauen aufführt; ist das nicht etwas diskriminierend gegenüber ukrainischen Männern? Oder will sie damit sagen, dass die arbeitsunwilliger sind?

Normalerweise gehen solche Storys nach dem klassischen journalistischen Strickmuster so: ein Beispiel, zwei Beispiele, vielleicht drei, dann der Aufschwung ins Allgemeine: nicht nur diese Personen, sondern viele andere auch …

Hier wird das aber geradezu ins Umgekehrte pervertiert. 80 Prozent aller arbeitsfähigen Ukrainer arbeiten nicht. Da wäre es doch naheliegend gewesen, drei solche Beispiele zu präsentieren. Oder allenfalls vier oder fünf Beispiele arbeitsunwilliger Flüchtlinge einem Beispiel eines Erfolgsmodells gegenüberzustellen.

Aber das wäre dann natürlich kein Schönschreiben gewesen. Dafür eine Abbildung der Realität. Aber Realität wird gewaltig überschätzt, sagen sich die Um- und Schönschreiber im Hause des Qualitätsjournalismus Tamedia.

Hier geht es mehr um Lesererziehung als um Leserinformation. Kleines Problem dabei: das mögen viele Leser gar nicht, dass sie noch dafür bezahlen sollen, eines Besseren oder zumindest anderen belehrt zu werden.

Geschichte, reloaded

Der NZZ-Redaktor im Unruhestand schreibt die Geschichte neu.

Wer pensioniert ist, hat viel Zeit. Wer als Journalist pensioniert ist, hat meistens noch Schreibdrang. Da seine Werke wohlfeil zu haben sind, bringt sie sein ehemaliges Organ NZZ gerne. Dort sondert er dann Einschätzungen ab, die meistens schon veraltet sind, sobald er sie formuliert hat.

Nun fasst er gewaltig unter den Mantel der Geschichte und bläst in ihn, bis er kräftig flattert:

Denn er hat eine Idee, die auf den ersten Blick ausbaufähig erscheint. Im Februar 1989 zogen sich die letzten sowjetischen Truppen aus Afghanistan zurück. Natürlich soll das der Anfang eines Vergleichs mit der Invasion der Ukraine in der Jetztzeit sein. Rund zwei Jahre später hörte die UdSSR offiziell auf zu existieren. Bevor Schmid aber parallelisieren kann, muss zuerst eine Packungsbeilage her: «Natürlich kollabierte die Sowjetunion nicht wegen der Invasion in Afghanistan – nicht nur.» Nicht nur, oder eher nicht. Oder eigentlich überhaupt nicht.

Aber man soll sich doch nicht von Fakten eine schöne Story kaputtmachen lassen. Um die Grundlagen für Parallelen zu schaffen, pflügt Schmid nun die Geschichte der sowjetischen Intervention in Afghanistan kräftig um und holzt mal los:

«Moskau handelte in Afghanistan imperialistisch, völkerrechtswidrig und verbrecherisch: in der Ukraine genauso

Das ist natürlich, gelinde gesagt, Unsinn. In Afghanistan war eine kommunistische Regierung an der Macht, die fortschrittliche Reformen durchsetzen wollte und durch fundamentalistische Wahnsinnige in ihrer Existenz gefährdet war. Ihr wollte die Sowjetunion zu Hilfe eilen. Denn was immer man von der UdSSR und dem Kommunismus halten mag: für die afghanische Bevölkerung, in erster Linie für die Frauen, für die Analphabeten, für die Armen und Geknechteten war es ein Segen, ein Lichtblick, der Anfang des Weges ins 20. Jahrhundert.

Dann lässt Schmid ungefähr die Hälfte der Wahrheit einfach weg:

«Die Hilfe für die Mujahedin lief schleppend an, aber nach ein paar Jahren hatten die USA zusammen mit Pakistan und den Saudi effiziente Nachschubnetze aufgebaut.Heute statten die USA und Europa die Ukraine mit Geld, Waffen und geheimdienstlichen Erkenntnissen aus. Was sie wieder nicht schicken, sind Truppen.»

Die andere Hälfte wäre: nachdem nicht zuletzt durch die Lieferung von Stinger-Raketen die Sowjetunion zum Rückzug gezwungen wurde, errichteten die sogenannten «Freiheitskämpfer» der Mujahedin ein mittelalterliches, frauenfeindliches, religiösen Wahnsinn verherrlichendes Regime – und wurden zur Brutstätte des internationalen Terrorismus, boten sich als Operationsbasis für eine Unzahl von Terrororganisationen an – auch Bin Laden machte davon gerne Gebrauch.

Als die USA nach 9/11 davon genug hatten, versuchten sie selbst – letztlich genauso erfolglos wie die UdSSR – in Afghanistan militärisch einzugreifen. Zu ihrem besonderen Ärger mussten sie feststellen, dass Stinger-Raketen keinen Unterschied zwischen sowjetischen oder US-Helikoptern machten. Die USA hatten sich hier selbst eine Brutstätte von fundamentalistischem Terror herangezüchtet und die sogenannten «Freiheitskämpfer» mit Waffen ausgerüstet, die die nun gegen die USA einsetzten. Welch Absurdität.

Diesen Teil der Geschichte lässt Schmid einfach weg, denn das würde ja nicht in die Parallelität passen – denn die Ukrainer mögen zwar teilweise angebräunt sein, aber fundamentalistische Wahnsinnige sind sie sicher nicht.

Aber was soll’s, wie schreibt Schmid entlarvend offenherzig: «Droht Russland heute dasselbe Schicksal? Wird Putin nach einer Niederlage stürzen wie einst Gorbatschow? Wird Russland zerfallen wie die Sowjetunion? Niemand kann es sagen. Doch die Freunde der historischen Analogie frohlocken: Tatsächlich finden sich Ähnlichkeiten, Parallelen und Übereinstimmungen zuhauf

Parallelen finden sich immer, wenn man sie selbst in die Geschichte hineinträgt, um sie dann frohlockend zu «entdecken». Während aber zuvor im Artikel Putin noch sicher im Sattel sitzt, lässt Schmid am Schluss seiner Wunschvorstellung freien Lauf:

«Der Westen könnte sich noch wundern, wie schnell das Volk von Putin und seiner kriegslüsternen Kamarilla abrückt, wenn ihm das Wasser zum Hals steht. Jahrelang werden auch die an Leib und Seele Verwundeten zurückkehren. Sie werden in ein Land kommen, das wirtschaftlich ermattet ist und kaum noch in der Lage sein wird, sie zu unterstützen.»

Bevor das passiert, wundert sich allerdings der Leser, wieso die NZZ einem dermassen ahistorischen, einäugigen, polemischen Artikel eine ganze Seite einräumt. Sicher, ehemalige Mitarbeiter soll man ehren, aber auf Kosten des Lesers?