Ist Putin am Ende?
Wie man sich in einem Tag lächerlich machen kann.
Manchmal überstürzen sich die Ereignisse, aber publiziert ist publiziert. Und solche Dümmlichkeiten bleiben dann für alle Zeiten elektronisch gespeichert.Der einzige Vorteil der Hersteller: übermorgen interessiert das schon keinen mehr. Die einzige Frage: wieso fahren die fort, zu publizieren? Denn spätestens in einer Woche ist auch das vorbei, was sie übermorgen schreiben.
Diese Variante der drôle de guerre in Russland erwischte viele Russlandkenner, Experten und Militärstrategen völlig auf dem falschen Fuss. So fragte Albert Stahel auf «Inside Paradeplatz» bang: «Stürzt Putin? Was dann?» Nur einen Tag später kann man ihn beruhigen. Putin stürzt nicht. Jedenfalls nicht so schnell.
Ganz speziell lächerlich macht sich ein Editorial-Schreiber einer niedergehenden Sonntagszeitung. Er ruft «Das Ende der Putin-Versteher» aus. Dabei ist er der Einzige, der mal wieder nichts versteht. Aber wir wollen ja seine Ergüsse weiträumig umfahren.
Das gilt auch für den «Chef Recherche» des «Blick». Erstens ist er Chef ohne Indianer, zweitens kann er nicht recherchieren und findet nicht mal das Büro eines Internetradios. Stattdessen sorgt er dafür, dass sich ein weiterer «Russland-Kenner» lächerlich macht. Der «renommierte Russlandkenner» Ulrich Schmid orakelte am Samstag: «Die Stellung Putins ist sicher gefährdet. Sein Auftritt am Samstagmorgen zeigt, dass er nicht mehr Herr der Lage ist.» Eberhard sekundiert: «Wird es dereinst zur Schlacht um die Hauptstadt kommen? – Das halte ich für unwahrscheinlich. Doch allein die Tatsache, dass man sich in Moskau auf dieses Szenario vorbereitet, zeigt, wie verzweifelt die Lage im Kreml sein muss. Das Eingeständnis einer tiefgreifenden Schwäche. Damit ist auch Putins eigene Position grundlegend ins Wanken geraten.»
Wir wischen uns die Lachtränen aus den Augen und gehen zum Kompetenzzentrum «Tages-Anzeiger», Pardon, Tamedia, na ja, was auch immer, weiter. Die leiht sich natürlich ihr Meinung von der «Süddeutschen Zeitung», Auslandchef Münger ist wohl wie meist in den Ferien. Also kommentiert Tomas Avenarius: «Aufstand in Russland: Prigoschins Coup könnte zur Katastrophe werden.»
Zur Katastrophe wird allerdings nur die prognostische Fähigkeit von Avenarius: «Sollte Prigoschin Hintermänner in der Armeeführung haben, wäre sein vermeintlicher Alleingang keine Meuterei eines einzelnen Kommandeurs gewesen, sondern das Vorspiel zu einem waschechten Militärputsch.»
Auf der sicheren Seite ist der SZ-Autor allerdings, wenn er einen tiefen Blick in der Zeit zurück auf den russischen Bürgerkrieg nach der Machtergreifung der Bolschewiken unter Lenin wirft. Nur: das ist eigentlich alles seit 1922 bekannt. Aber schön, dass man es nochmal lesen darf.
Ganz, ganz weit aus dem Fenster lehnte sich auch Zita Affentranger: «Die Wagner-Söldner könnten am Abend Moskau erreichen. Für den russischen Präsidenten naht jetzt die Stunde der Wahrheit: Er muss die Aufständischen stoppen.»
Damit ist aber schon die Work Force von Tamedia (oder wie immer das heisst) erschöpft. Daher kommt auch noch SZ-Autorin Sonja Zekri zu Wort. Sie betrachtet die Lage aus der Sicht der Ukraine und behauptet: «Viele Ukrainer setzen seit Langem auf einen Zerfall Russlands. Eine fragmentierte, vielleicht in Bruder- oder Diadochenkämpfe verstrickte Nach-Putin-Landschaft werde keine Kapazitäten mehr für Überfälle auf Nachbarstaaten haben. Einige gehen noch weiter: Der russische Bezirk Krasnodar, so rechnen sie vor, gehöre eigentlich zur Ukraine. Die Zeit werde kommen, ihn zurückzuholen.»
Welche Bewohner eines Wolkenkuckucksheim, wenn Zekri das nicht einfach so vor sich hinplaudert. Wenn es um Fehlanalysen geht, darf natürlich auch Stefan Kornelius nicht fehlen: «Sein Machtgeflecht kollabiert, der Aufstand Prigoschins gegen die Armeeführung richtet sich in Wahrheit gegen den Präsidenten. Nun zerfällt der von Putin geschaffene Sicherheitsapparat.»
Etwas gelassener – wie es sich gehört – nimmt’s die NZZ: «Der Machtkampf in Russland eskaliert: Wagner-Chef Prigoschin wagt den bewaffneten Aufstand gegen die russische Armeeführung». Dabei weiss Markus Ackeret in Moskau, unterstützt von der DPA: «Prigoschin hat sich offenbar zum «letzten Kampf» entschlossen. Eine Möglichkeit des Rückzugs gibt es nach seinen Äusserungen, den Handlungen seiner Truppe und der Reaktion der Strafverfolgungsbehörden darauf kaum noch.»
Wir wischen uns wieder die Lachtränen aus den Augen und schalten um zu CH Media. Auch sie montiert einen «Russland-Experten» den «Politanalyst Alexander Dubowy». Der Österreicher analysiert messerscharf: «Russland steht an der Schwelle zum Bürgerkrieg … Es handelt sich tatsächlich um einen Militärputsch … Wenn er (Prigoschin, Red.) überleben will, bleibt ihm keine andere Wahl als anzugreifen. Wagner wird versuchen, schneller nach Moskau vorzudringen und einfach sehen wie weit sie kommen.»
Da steht zu befürchten, dass Dubowys Karriere als «Russland-Spezialist» zumindest in der Schweiz relativ schnell ihr Ende findet.
Ist es nicht ein wenig unfair, mit dem Wissen im Nachhinein all diese aufrechten Unken in die Pfanne zu hauen, die doch auch nur den feuchten Finger in die Luft halten können?
Nein, ist es nicht. Denn vor allem als Kenner oder Forscher oder Spezialist sollte man wissen, wann eine Lage so unübersichtlich ist, dass man sich nicht zu weit aus dem Fenster lehnen sollte.
Natürlich kann die Spekulation nun munter weitergehen. War das alles ein abgekartetes Spiel? Konnte Prigoschin deswegen Rostow so leicht erobern? Ging es einfach darum, ihn elegant aus dem Spiel zu nehmen und ins Exil zu schicken? Würde Lukashenko irgend etwas ohne engste Abstimmung mit Putin tun? Man weiss es nicht.
Deshalb dürfen sich all diese Kenner und Orakel weiterhin lächerlich machen. Ganz schlau geht da schon mal ein «Spiegel»-Kommentator voran: «Prigoschin hat nicht gewonnen. Aber Putin hat trotzdem verloren». Wir wischen uns nochmals die Lachtränen aus den Augen.