Nochmals Leichenfledderei
Auch Tamedia hat gemerkt, dass Lenin tot ist.
Schon die NZZ hat sich mit der Beschreibung des Siechtums seiner letzten Lebensjahre an Lenin versucht – und ist schmählich gescheitert. Dann kam Witzfigur Markus Somm («Moskau bombardieren») und scheiterte noch kläglicher. Es gibt halt nichts Schlimmeres als Renegaten.
Aber immerhin waren die Artikel noch rechtzeitig zum 100. Todestag Lenins am 21. Januar 2024 erschienen. Sonja Zekri, die Tamedia– und SZ-Korrespondentin in Kairo, brauchte bis zum 24. Januar, um nachzutreten: «Der Untote in Russland: Vor 100 Jahren starb Lenin– und mit ihm die Revolution».
Als wären wir noch mitten im Kalten Krieg, widmet auch sie sich hingebungsvoll den medizinischen Aspekten der letzten Lebensjahre des Anführers der Oktoberrevolution in Russland, die wie wohl kein anderes Ereignis im 20. Jahrhundert Nach- und Auswirkungen hatte. Das als medizinisches Bulletin abzuhandeln, ist peinlich.
Wie es einer Handvoll Berufsrevolutionäre gelang, die Macht im grössten Flächenstaat der Welt zu ergreifen, was ihre Ziele waren, welche Strahlkraft diese Revolution hatte, wie es ihr gelang, dem konzertierten Angriff einer internationalen Eingreiftruppe imperialistischer Staaten zu widerstehen, wie der Bürgerkrieg von beiden Seiten mit grenzenloser Brutalität geführt wurde, wie Lenin gleichzeitig versuchte, eine neue Gesellschaft aufzubauen, die Wirtschaft nach marxistischen Prinzipien zu organisieren – das sind auch heute noch interessante Fragen.
Stattdessen klappert Tamedia wie die alte Fasnacht auf den Spuren der NZZ hinterher, bringt nichts Neues, keinen einzigen originellen Gedanken zum Vorschein. Dafür zitiert Zekri ausführlich Orlando Figes, einen englischen Historiker. Der will wissen:
«Lenins Testament verrate eine «überwältigende Verzweiflung über die Art und Weise, wie sich die Revolution entwickelt hat», schreibt Figes im Epos «Die Tragödie eines Volkes». Die Bolschewiki, so habe Lenin begriffen, hatten einen «monströsen Fehler» begangen. Russland sei gar nicht bereit gewesen für den Sozialismus, die Massen seien zu ungebildet gewesen, um die Bourgeoisie zu ersetzen.»
Epos? So kann man das kaum nennen; Figes wird immer wieder nachgewiesen, unwissenschaftlich zu arbeiten, ihm werden grobe Ungenauigkeiten und Fehler vorgeworfen. Also nicht gerade die geeignete Fachkraft. So haben auch die hier zitierten Behauptungen keinerlei Basis in der leninistischen Wirklichkeit. Natürlich hatten die Bolschewiki in den Augen Lenins keinen Fehler begangen, hatte er sein halbes publizistisches Werk darauf verwendet zu erklären, wieso die Revolution zuerst im schwächsten Glied der kapitalistisch-imperialistischen Kette zu erfolgen habe.
Es ist schon erstaunlich, wie sich NZZ und Tamedia an Lenin abarbeiten, ihn niedermachen. Auch das ist natürlich erlaubt – will aber gekonnt sein. Wird es dermassen unappetitlich, kenntnisfrei, einseitig und plump polemisch gemacht, hätte es eigentlich bei einem Satz sein Bewenden haben können: wir hassen Lenin, seine Revolution und die Folgen bis heute. Unter welchen Verhältnissen die Russen im Zarenreich leben mussten, nämlich schlimmer als Tiere, ist uns hingegen scheissegal.
Wenn es hier einen Untoten zu besichtigen gilt, dann ist es der Schweizer Journalismus, der sich lächerlich macht.
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