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Es reicht, Markus Somm

Die Israel-Propagandakreische kennt sich nicht mehr.

Natürlich darf auch der Chefredaktor eines Randgruppen-Blättchens seine eigene Meinung haben. Natürlich darf die einseitig, parteiisch, unreflektiert und falsch sein. Das macht alles nichts. Oder nur wenig, weil es sich mangels Reichweite von «Somms Memo» um Stürmchen im Wasserglas handelt.

Vielleicht ist es sogar segensreich, dass beim «Nebelspalter» nicht mal der Trick funktioniert, dass man zuerst ein Werbevideo anschauen muss, bevor man den Artikel lesen darf. Aber schade auch, das bleibt irgendwo zwischen Sekunde 15 und Sekunde 0 immer hängen:

«Sie können diesen Artikel in 1 Sekunde freischalten»; diese Ankündigung könnte man stundenlang anschauen.

Nun hat es doch sehr zum Unwillen von Somm der US-Präsident Joe Biden gewagt zu sagen, man könne nicht «noch einmal 30 000 tote Palästinenser» in Kauf nehmen, um die Hamas zu besiegen. Daraus schliesst Somm messerscharf, was sonst niemandem auffiel: «Natürlich distanzierte sich Biden damit von Israel, einem der engsten Verbündeten der USA, was weltweit sofort bemerkt wurde

Vielleicht könnte man das auch so sehen, dass sich Biden von weiterem kriegsverbrecherischem Blutvergiessen distanzierte. Aber mit diesen einleitenden Bemerkungen erreicht Somm erst seine Betriebstemperatur:

«Jedenfalls war dieses Eingeständnis ein Fehler – zumal alle Gegner Israels diese hohe Zahl von Opfern ständig propagandistisch einsetzen, um davon abzulenken, wer eigentlich diesen Krieg ausgelöst hatte. Hamas, eine Mörderbande – nicht Israel, ein demokratischer, westlicher Rechtsstaat.»

Lassen wir mal dahingestellt, wie sehr Israel ein demokratischer, westlicher Rechtsstaat ist, mit einem Ministerpräsidenten, der mittels einer Justizreform versuchte, der sicheren Gefängnisstrafe zu entgehen.

Dann aber beginnt Somm, an der Anzahl Toten zu zweifeln. Dabei stützt er sich auf die Untersuchung eines US-Professors. Der hat seine Meinung im rechtsradikal-jüdischen Magazin «Tablet» veröffentlicht, das durch rabiate Attacken selbst gegen jüdische Holocaust-Überlebende unangenehm auffällt (vielleicht sollte Sommer gelegentlich mal «The Atlantic» lesen, wirkt horizonterweiternd). Zudem scheint Professor Wyler eine Mietmeinung zu sein:

Auf solch wackelige Quellen stützt Somm also seine Zweifel an den Angaben über die Anzahl Toter im Gazastreifen. Galoppiert aber ungezügelt los:

«Laut Hamas sollen (jeden Tag!) 70 Prozent der Opfer Frauen und Kinder betreffen. Da aber 25 Prozent der gesamten Bevölkerung erwachsene Männer sind, würde das bedeuten, dass die israelische Armee kaum Männer tötet, insbesondere sehr wenige Hamas-Terroristen. Das mutet doch sehr merkwürdig an, zumal die Israelis nicht dafür bekannt sind, mit Absicht auf Frauen zu zielen, wenn daneben ein männlicher Terrorist steht.»

Vielleicht sollte Somm zunächst mal einen Anfängerkurs in Prozentrechnen belegen, aber Zahlen, wie der Misserfolg des «Nebelspalter» beweist, sind nicht so seine Sache.

Selbstverständlich können die Zahlen, die vom Gesundheitsministerium Gazas veröffentlicht werden, das ein Propagandaorgan der Hamas ist, bezweifelt werden. Das wird innerhalb und ausserhalb Israels getan; allerdings gibt es auch genügend Stimmen, die diese Zahlen für zumindest im Streubereich der Wahrheit halten.

Angesichts der unbezweifelbaren desaströsen Zerstörungen der Infrastruktur im Gazastreifen kann wohl kaum davon ausgegangen werden, dass es lediglich ein paar hundert zivile Tote dabei gab. Dass Israel inzwischen Gebiete attackiert, die sie zuvor den Bewohnern im Norden als sichere Fluchtdestinationen schmackhaft machte, kann ausser von eingefleischten Israel-Fans wohl nur als Gipfel des Zynismus bezeichnet werden.

Bis hierhin könnte man das Geschwafel einfach als unreflektiertes Gehampel eines bekennenden Israel-Fans («das sind die Guten») abtun. Aber nun kommt der Teil, wo’s dem Leser übel wird:

«Gewiss, es gibt zahlreiche zivile, mitunter unschuldige Opfer, und niemand freut sich darüber. Krieg ist furchtbar.
Dennoch ist davon auszugehen, dass wir nicht wissen, wie viele es sind. Bei allen Angaben, die wir kennen, handelt es sich um Propaganda von Mördern, die rufen: Fasst die Mörder!
In einem Krieg sterbe die Wahrheit zuerst, heisst es. Wenn es aber um Israelis und Juden geht, erfreut sich die Lüge der Unsterblichkeit.»

«Niemand freut sich darüber»? «Mitunter unschuldige zivile Opfer»? Das ist alles, was Somm emphatisch einfällt? Propaganda von Mördern? Und ein angeblich «demokratischer Rechtsstaat» macht keine Propaganda, kann keine Kriegsverbrechen begehen? Auch die USA sind wohl ein demokratischer Rechtsstaat. Dennoch begingen sie Kriegsverbrechen ohne Zahl, vielleicht erinnert sich Somm noch an den Vietnamkrieg und die von Kriegsverbrecher Kissinger angeordnete Ausweitung auf Kambodscha und Laos, an den Einsatz des Dschungelentlaubungsmittels Agent Orange, wofür die USA bis heute keinen Cent Wiedergutmachung zahlten (ausser nach jahrzehntelangem Ringen an die eigenen Kriegsveteranen).

Die Lüge erfreue sich der Unsterblichkeit, wenn es um Israelis und Juden gehe, behauptet Somm. Dabei sollte seine Infamie «niemand freut sich darüber» ihn unsterblich begleiten. Abgesehen davon, dass es «gute» Israelis gibt, die genau das tun, sich darüber herzlich freuen. Es müsste tiefenpsychologisch untersucht werden, wieso Somm die israelische Regierung für die Verkörperung des reinen Guten hält, ohne jegliche journalistische Distanz ihr alles glaubt, während für ihn die Hamas die unbezweifelbare Verkörperung des reinen Bösen ist. Nach der Devise: Mörder und Terroristen lügen immer. Auch dann, wenn sie die Wahrheit sagen.

Ein solches primitiv-dualistisches Weltbild wendet er auch auf den Revolutionär Leningrösster Massenmörder der Geschichte») an. So als ehemaliger Trotzkist; Renegaten sind immer die Schlimmsten. So wie Kriegsgurgeln, die in einem anderen Leben Mitglied der GSoA waren. Der Mann hat’s gerne kommod, einfach, holzschnittartig, primitiv, gut, böse, ja, nein. Wer sich so von keines Gedanken Blässe ankränkeln lässt, eine apodiktisch richtige Meinung sein eigen nennt, ist meistens zuinnerst ein tief verunsicherter Mensch. Erfolglosigkeit im Berufsleben kann dafür ein Auslöser sein.

Wer meint, unbezweifelbar das Richtige zu wissen und zu schreiben, liegt unbezweifelbar falsch. Ist ein Gesinnungsgenosse aller religiöser Wahnsinnigen, ob christlich oder islamistisch, die ebenfalls im Glauben an eine ordnende höhere Macht die einzig seligmachende Wahrheit verkünden – und zu ihrer Verteidigung bereit sind, notfalls auch über Leichen zu gehen.

Wieso die prominente Herausgeberschaft des «Nebelspalter» und all die Spender von 100’000 Franken, die Somm verröstet, einen solchen Chefredaktor tolerieren, ist schleierhaft.

Somm salbadert

Was geht ZACKBUM sein dummes Geschwätz von gestern an.

Das war auch ein Lieblingssatz von Lenin. Da Markus Somm in seinem Amoklauf gegen Lenin («Massenmörder, gehört zu den grössten Verbrechern der Geschichte») und Russland («Moskau bombardieren») nochmals nachlegt, wollen wir uns wohl oder übel – eher übel – nochmals mit ihm beschäftigen.

Somm lässt sich jeweils für «Somms Memo» ein paar Zahlen zusammensuchen, die er dann meistens recht zusammenhangslos auf den ahnungslosen Leser niederprasseln lässt. Also auf die paar Leser, die er hat. Leider können wir wohl nicht mit seiner Dankbarkeit rechnen, dass wir ihm hier eine viel grössere Plattform verschaffen.

In seinem neusten Memo arbeitet er sich nochmals am russischen Revolutionsführer Lenin ab. Dabei zeichnet er dessen Herkunft nach und wundert sich, wieso jemand, der in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs, zum Revolutionär werden konnte. Lustig, Somm ist doch auch der Sohn eines ehemals hohen Tiers bei ABB und wurde dann Trotzkist und Armeeabschaffer. Für mehr hat’s bei ihm allerdings nicht gereicht. Ausser, dass er sich wie jeder Renegat noch heute an seiner eigenen Biographie abarbeiten muss. Denn wer weiss, vielleicht hing in seiner Studentenklause neben einem Porträt von Trotzki auch der Dreikopf Marx, Engels, Lenin.

Aber zurück zu seiner Schmiere. Um das unselige Wirken Lenins zu illustrieren, stellt er die russischen Zustände vor der Revolution idyllisch dar. Von 1900 bis 1914 habe Russlands Wirtschaft «jährlich um rund 10 Prozent» zugelegt. «Das sind fast chinesische Werte, wie wir sie aus der jüngsten Vergangenheit kennen.» Noch schöner: Lenins Vater sei in «den russischen Adel aufgestiegen». Na also, «das zum Thema soziale Ungleichheit im Zarenreich. Gewiss war sie viel ausgeprägter als im Westen, und doch hatte ausgerechnet Lenin das Gegenteil in seiner Familie erlebt. Ihm ging es gut.» Ob da Somm wieder aus eigenem Erleben schöpft? Wahrscheinlich, aber deswegen macht er den groben Fehler, das damalige zaristische Russland mit seiner Schweiz zu vergleichen.

Damit Lenin der ganz böse Bube wird, müssen die Zustände, die er umstürzte, gut sein, so primitiv funktioniert Somms Pennälerlogik. Dafür schreckt er nicht mal vor einer absurden Aufhübschung der menschenverachtenden zaristischen Diktatur zurück, wo ein letzter degenerierter Romanow zunehmend den Kontakt zur Realität verlor.

Also erklären wir mal dem Historiker Somm die Geschichte der Zarenherrschaft. Obwohl die Bauern 1863 aus der Leibeigenschaft entlassen worden waren, lebten sie weiterhin elend, schlimmer als Vieh. Ihre Lebenserwartung lag bei 40 Jahren, sie waren Analphabeten, medizinische Versorgung oder Schulbildung existierten faktisch nicht. Ganz im Gegensatz zu den adligen Grossgrundbesitzern, die sich an steigenden Getreidepreisen dumm und krumm verdienten und die Muschiks massenhaft von ihren kleinen Schollen vertrieben. Zusammenfassend war die materielle Lage der meisten Bauern 1914 schlechter als in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Wenn sie massenhaft in die Städte flüchteten, wurden sie zum Industrieproletariat in weiterhin elenden Umständen. Mehrere Personen teilten eine Kammer, die Arbeitszeit war nicht geregelt und betrug mehr als 50 Stunden pro Woche, zu einem Hungerlohn.

Währenddessen lebte die Zarenfamilie völlig abgekoppelt von der russischen Realität im schwelgerischen Luxus und hörte auf die Ratschläge eines Irrwisch namens Rasputin. Nach der katastrophalen Niederlage im Krieg gegen Japan zuvor wurden Hunderttausende russische Soldaten von völlig unfähigen adligen Befehlshabern an der Front im Ersten Weltkrieg abgeschlachtet. So wie ihnen das Leben der Bauern völlig egal war, kümmerte sie das Überleben der Soldaten einen Dreck.

Im so grossartig wirtschaftlich performenden Russland «breiteten sich noch mehr Krankheit, Elend und Armut aus». Das sagte nicht etwa Lenin, sondern der damalige zaristische Landwirtschaftsminister. Gegen Demonstrationen verzweifelter Massen kannte die zaristische Polizei nur ein Mittel: hineinschiessen, Dutzende, Hunderte von Toten in Kauf nehmen. Die Zustände in der russischen Marine hat unsterblich und realitätsnah der Film «Panzerkreuzer Potemkin» illustriert.

So sahen die wahren Verhältnisse in Russland aus. Da nur die Bolschewisten unter Lenin einen sofortigen Rückzug aus dem Ersten Weltkrieg, die Enteignung der parasitären Grossgrundbesitzer und eine fundamentale Verbesserung der Lebensumstände der Bauern und des Proletariats forderten, bekamen sie entsprechenden Zulauf.

Wer oder was daran schuld ist, dass sich die Absicht, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, wo das Prinzip «jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen» gelten sollte, scheiterte, das ist ein weites Feld.

Aber was bleibt: Es ist bedauerlich, dass man einem Historiker diesen Titel nicht wegnehmen kann, wenn er völlig ahistorisch, durch eine dicke Brille der Vorurteile, eigene biographische Neurosen abarbeitend hanebüchenen Unsinn verzapft.

Nochmals Leichenfledderei

Auch Tamedia hat gemerkt, dass Lenin tot ist.

Schon die NZZ hat sich mit der Beschreibung des Siechtums seiner letzten Lebensjahre an Lenin versucht – und ist schmählich gescheitert. Dann kam Witzfigur Markus SommMoskau bombardieren») und scheiterte noch kläglicher. Es gibt halt nichts Schlimmeres als Renegaten.

Aber immerhin waren die Artikel noch rechtzeitig zum 100. Todestag Lenins am 21. Januar 2024 erschienen. Sonja Zekri, die Tamedia– und SZ-Korrespondentin in Kairo, brauchte bis zum 24. Januar, um nachzutreten: «Der Untote in Russland: Vor 100 Jahren starb Lenin– und mit ihm die Revolution».

Als wären wir noch mitten im Kalten Krieg, widmet auch sie sich hingebungsvoll den medizinischen Aspekten der letzten Lebensjahre des Anführers der Oktoberrevolution in Russland, die wie wohl kein anderes Ereignis im 20. Jahrhundert Nach- und Auswirkungen hatte. Das als medizinisches Bulletin abzuhandeln, ist peinlich.

Wie es einer Handvoll Berufsrevolutionäre gelang, die Macht im grössten Flächenstaat der Welt zu ergreifen, was ihre Ziele waren, welche Strahlkraft diese Revolution hatte, wie es ihr gelang, dem konzertierten Angriff einer internationalen Eingreiftruppe imperialistischer Staaten zu widerstehen, wie der Bürgerkrieg von beiden Seiten mit grenzenloser Brutalität geführt wurde, wie Lenin gleichzeitig versuchte, eine neue Gesellschaft aufzubauen, die Wirtschaft nach marxistischen Prinzipien zu organisieren – das sind auch heute noch interessante Fragen.

Stattdessen klappert Tamedia wie die alte Fasnacht auf den Spuren der NZZ hinterher, bringt nichts Neues, keinen einzigen originellen Gedanken zum Vorschein. Dafür zitiert Zekri ausführlich Orlando Figes, einen englischen Historiker. Der will wissen:

«Lenins Testament verrate eine «überwältigende Verzweiflung über die Art und Weise, wie sich die Revolution entwickelt hat», schreibt Figes im Epos «Die Tragödie eines Volkes». Die Bolschewiki, so habe Lenin begriffen, hatten einen «monströsen Fehler» begangen. Russland sei gar nicht bereit gewesen für den Sozialismus, die Massen seien zu ungebildet gewesen, um die Bourgeoisie zu ersetzen.»

Epos? So kann man das kaum nennen; Figes wird immer wieder nachgewiesen, unwissenschaftlich zu arbeiten, ihm werden grobe Ungenauigkeiten und Fehler vorgeworfen. Also nicht gerade die geeignete Fachkraft. So haben auch die hier zitierten Behauptungen keinerlei Basis in der leninistischen Wirklichkeit. Natürlich hatten die Bolschewiki in den Augen Lenins keinen Fehler begangen, hatte er sein halbes publizistisches Werk darauf verwendet zu erklären, wieso die Revolution zuerst im schwächsten Glied der kapitalistisch-imperialistischen Kette zu erfolgen habe.

Es ist schon erstaunlich, wie sich NZZ und Tamedia an Lenin abarbeiten, ihn niedermachen. Auch das ist natürlich erlaubt – will aber gekonnt sein. Wird es dermassen unappetitlich, kenntnisfrei, einseitig und plump polemisch gemacht, hätte es eigentlich bei einem Satz sein Bewenden haben können: wir hassen Lenin, seine Revolution und die Folgen bis heute. Unter welchen Verhältnissen die Russen im Zarenreich leben mussten, nämlich schlimmer als Tiere, ist uns hingegen scheissegal.

Wenn es hier einen Untoten zu besichtigen gilt, dann ist es der Schweizer Journalismus, der sich lächerlich macht.

«Man kann Moskau bombardieren»

Renegaten wie Somm geisseln sich selbst und lassen den Leser teilhaben.

Die Karikatur eines Historikers (siehe PS) war einmal ein linker Trotzkist. Markus Somm kämpfte für die Abschaffung der Schweizer Armee und hat damals sicherlich auch den einen oder anderen blauen oder braunen Band gelesen. Sich in die Werke der Klassiker Marx, Engels und Lenin vertieft. Wer weiss, vielleicht hing auch in einem Herrgottswinkel in seiner Klause ein Poster der drei Säulenheiligen des Kommunismus.

Wie auch immer, Somm muss sich noch im höheren Alter an seinen ehemaligen Idolen abarbeiten. Leider hat er dazu eine Plattform, die etwas mehr Leser hat als sein nebulöses Projekt «Nebelspalter». ZACKBUM beschäftigt sich hier zum letzten Mal mit ihm, aus Gründen der geistigen Hygiene. Allerdings wird er unseren Lesern als Somm-Effekt erhalten bleiben. Damit ist die Bankrotterklärung jeder intellektuellen Differenzierungsfähigkeit («Die Israeli sind die Guten») gemeint.

In seiner SoZ-Kolumne äussert sie sich so: «Lenin, unser Massenmörder». Verräterisch ist das Wort «unser». Somm muss daher fast kniend Abbitte leisten, so wie es Renegaten, die von der Kirche abgefallen waren, früher auch manchmal taten. Allerdings nicht allzu selten unter Zwang, während Somm diesen Dienst freiwillig verrichtet.

Lenin zähle doch zu den «gröberen, wenn nicht gröbsten Verbrechern der Weltgeschichte», behauptet Somm. Schlimmer noch: «Die Russische Revolution ist sicher eines der tödlichsten und übelsten Ereignisse aller Zeiten; sie leistete einen Beitrag an den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, und die vielen kommunistischen Regimes, die aus ihr hervorgingen, hinterliessen gegen 100 Millionen Tote. Vorsätzlich vernichtet im Namen einer besseren Welt.»

Dann zählt Somm aus den vielen, vielen schriftlichen Äusserungen Lenins ein paar Befehle auf, die der im Überlebenskampf der Russischen Revolution gab. Vielleicht hätte dem Historiker eine Lektüre des Werks über den russischen Bürgerkrieg von 1917 bis 1921 des englischen Historikers Antony Beevor gutgetan. Vielleicht wäre es interessant gewesen, wenn Somm zu erklären versucht hätte, wieso es einer Handvoll von Berufsrevolutionären unter Führung eines armen Exilanten, der im Jahr zuvor noch an der Spiegelgasse in Zürich gewohnt hatte, gelungen war, die Macht im flächengrössten Staat der Welt zu erobern.

Vielleicht hätte Somm ein Wort über die elenden Zustände in Russland unter dem degenerierten und autistischen Zarenregime verlieren können, in dem die Bauern, die Soldaten und auch die Industriearbeiter wie Vieh vegetierten, während die dünne adlige Oberschicht im Luxus schwelgte.

Vielleicht hätte Somm zu erklären versuchen können, wieso es denn der Revolution gelang, in einem von beiden Seiten gnadenlos und blutig geführten Bürgerkrieg gegen alle konterrevolutionären Truppen, die von den meisten imperialistischen Staaten unterstützt wurden, zu siegen. Wie es ihr gelang, von einem Winzterritorium aus, auf das sie zurückgedrängt worden war, bis 1922 überall im riesigen russischen Reich die Macht zu erobern. Bloss, weil Lenin ein «gröberer, wenn nicht gröbster Verbrecher» war? Spielte dabei der von Somm einst bewunderte Trotzki nicht eine gewisse Rolle als gnadenloser Befehlshaber der Roten Armee? Und wieso behielt die Oktoberrevolution so lange ihre Strahlkraft, motivierte in vielen anderen Ländern der Welt Revolutionäre dazu, ihr nachzueifern?

Was immer man davon halten mag, von einem Historiker könnte man Erklärungen, Erhellungen erwarten. Statt dumpfem Geschimpfe, statt einer öffentlich vollzogenen Selbstgeisselung am untauglichen Objekt.

Hitler, mit dem Somm Lenin vergleicht, war schlichtweg ein demagogisch begabter, skrupelloser Verbrecher und Massenmörder mit einer absurd-kruden Rassentheorie, ein übles Gewächs, das vom deutschen Grosskapital und den Resten des Junkertums gedüngt wurde, das damit der Gefahr entgegenwirken wollte, dass Deutschland nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg auch eine erfolgreiche sozialistische Revolution erlebte (erfolglose gab es bekanntlich). Hitler war ein Zerstörer ohne Vision, was nach seinem «Endsieg» hätte geschehen sollen, darüber sagte er nichts. Vielleicht sollte sich Somm an seine Lektüre von Reinhard Kühnl «Der Faschismus» erinnern. Falls er das gut dokumentierte Buch überhaupt gelesen hat.

Aber stattdessen diese primitive Reduktion eines Welterschütterers auf Verbrecher, Massenmörder, Menschenfeind. Das ist so kläglich und erbärmlich, dass wir damit das Kapitel Somm auf ZACKBUM abschliessen.

PS: Geht noch einer drüber? Aber sicher bei Somm. In seinem Geplauder mit seinem Redaktor Dominik Feusi entblöden sich die beiden tatsächlich nicht, Raketenangriffe auf Sewastopol oder Woronesch zu fordern (Feusi). «Oder man kann zum Beispiel St. Petersburg bombardieren oder Moskau», legt Somm noch ein Scheit ins Feuer. Dann folgt ein kurzer Moment der Pseudo-Selbstreflexion: «Leute, die das hören, erschrecken wieder und sagen, der Feusi und der Somm sind Kriegstreiber. Ja, das ist richtig, wir sind absolute Kriegstreiber, die Ukraine muss verteidigt werden.» Dann verliert er sich in den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts.

Mal im Ernst, liebe Verwaltungsräte des «Nebelspalters», sind solche zwei Amoks eigentlich noch verantwortbar? Sicher, der Podcast hat nur ein paar Hundert Zuhörer, aber dennoch: Moskau bombardieren? Weiss Historiker Somm nicht mehr, wer das als Letzter forderte und tat? Kriegstreiber sein und dazu stehen? Wie halt- und hemmungslos soll’s noch werden? Gebietet da niemand Einhalt?

Fake News II

Aus den Niederungen der NZZ.

Ulrich M. Schmid verwechselt sehr gerne die Wirklichkeit mit seiner Meinung über die Wirklichkeit. Er dilettiert als freier Mitarbeiter des NZZ-Feuilletons über alle Themen, die mit Russland zu tun haben. Zum Leidwesen der Leser.

Nun trägt es sich zu, dass Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, am 21. Januar 1924, also vor 100 Jahren, starb. Er war der Organisator und der Führer der Oktoberrevolution in Russland, die wohl wie kein anderes Ereignis im 20. Jahrhundert den Lauf der Geschichte änderte. Mit einer Handvoll Berufsrevolutionäre ergriff er am 25. Oktober 1917 (nach unserem Kalendar am 7. November) die Macht. Wer hätte gedacht, dass der Exilant und Chef einer kleinen Oppositionsgruppe namens Bolschewiki, der noch 1916 in ärmlichen Umständen an der Spiegelgasse in Zürich gelebt hatte, im nächsten Jahr der Herrscher über den grössten Flächenstaat der Welt werden würde.

Wer hätte gedacht, dass seine wortmächtige Uminterpretation der Theorie von Karl Marx, dass die proletarische Revolution im am meisten entwickelten kapitalistischen Staat stattfinden würde, im unterentwickelten Russland wirkmächtig wurde.

Wer hätte gedacht, dass er und seine Genossen die Versuche aller imperialistischen Staaten, die erste sozialistische Revolution der Weltgeschichte militärisch niederzukämpfen, überleben würden? Und in einem grausamen Bürgerkrieg bis 1922 vor allem dank dem militärischen Genie von Trotzki obsiegen würden?

Was immer man davon – und den Folgen – halten mag, es war eine Tat, ein Leben, eine Wirkung, die beschrieben, gewürdigt werden muss. Aber was macht Schmid? In bester antikommunistischer Manier berichtet er eine Seite lang lediglich über den Gesundheitszustand Lenins, über seine letzten Jahre, in denen er geschwächt durch die Folgen eines Attentats und mehrerer Schlagfälle nicht mehr voll einsatzfähig war.

Besonders unappetitlich ist das, weil die stramm antikommunistische NZZ, die sich schon in der Affäre Farner nicht mit Ruhm und Ehre bekleckerte und unablässig vor der roten Gefahr, der Fünfen Kolonne in der Schweiz und allem Kommunistischen hysterisch warnte, das gar nicht mehr nötig hätte. Denn die Sowjetunion, geformt durch die Revolution Lenins, existiert nicht mehr.

Aber Schmid darf sich dennoch hemmungslos austoben, Duftmarke am Anfang: «Lenin starb, bevor er tot war. Und als er den letzten Rest des Geistes aushauchte, der ihm nach drei Schlaganfällen noch geblieben war, nahm man seinen leblosen Körper und stellte ihn als modernen Götzen aus.»

Dann geht es mit Schmonzetten und irrelevanten Anekdoten weiter: «Seine Ärzte forderten ihn auf, 7 mit 12 zu multiplizieren. Lenin war dazu nicht imstande … Wiederholt forderte er von Stalin Zyankali – erfolglos … Sein Todeskampf war schrecklich.»

Dann noch ein paar Bemerkungen über die Errichtung des Mausoleums, und Schmid ist mit seiner «Würdigung» am Ende. Nicht ohne eine Linie in die Gegenwart zu zeichnen: «Paradoxerweise ist ausgerechnet Putin, dessen rücksichtsloser Regierungsstil durchaus «leninistisch» genannt werden kann, zu einem der schärfsten Lenin-Kritiker geworden.» Auch das ist hanebüchener Unsinn, aber was soll’s.

Man könnte Hitler über seine gesundheitlichen Probleme, seine vegetarische Ernährungsweise, seine Verdauungsprobleme, seinen Medikamentenmissbrauch zu erklären versuchen. Das wäre aber völlig unsinnig und böte keinerlei Ansatz, den grössten Verbrecher des 20. Jahrhunderts zu verstehen.

Lenins Erkrankung in seinen letzten Jahren hat überhaupt nichts mit seiner intellektuellen, politischen und gesellschaftlichen Leistung zu tun. Es ist auch absurd, ihn als sterbenden Verursacher der Revolution darzustellen. Nicht einmal ein Lenin hätte das vermocht, wenn Russland damals nicht von einer völlig unfähigen korrupten, dekadenten zaristischen Adelsclique beherrscht worden wäre, deren schreiende Inkompetenz sich in der Kriegsführung und in der Behandlung der wie Sklaven gehaltenen Bauern und des Industrieproletariats zeigte.

Auch der Sieg gegen die Weissen, gegen die Konterrevolutionäre aller Spielarten, wäre nicht möglich gewesen, wenn die Revolution nicht eine einmalige  Strahlkraft gehabt hätte. «Panzerkreuzer Potemkin», der Geniestreich von Sergei Eisenstein, gibt ein sehr idealisiertes Bild der Revolution wider. Aber selbst dieser Film ist näher an der Realität als das übellaunige und übelwollende Gewäffel eines Schmid.

Bei aller Voreingenommenheit der NZZ: es wäre ihr gut angestanden, nach der Niederlage ihres Angstgegners, ein wenig Qualitätsbewusstsein zu zeigen und gegenüber diesem Machwerk zu sagen: sorry, aber das ist nun dermassen unter Niveau und unter der Gürtellinie, dass wir es leider nicht bringen können.

Stattdessen das:

Eine ganze Seite Gewäsch, dazu ein denunziatorisches Foto eines schwerkranken Lenin. Muss das sein? Das ist nicht peinlich für den Führer der Oktoberrevolution, das ist peinlich für die NZZ.

Somm, der Anti-Leninist

Die grössten Kritiker der Elche waren früher selber welche.

Markus Somm hat einen weiten Weg ideologisch zurückgelegt. Von linksaussen nach rechtsaussen. Das ist sein gutes Recht. Meinungen und ideologische Positionen darf man ändern. Es gibt nichts Schlimmeres als das Politikerwort: «Ich habe schon immer gesagt.»

Nun haben Renegaten es so an sich, dass sie übertrieben oft und massiv auf das einschlagen müssen, was sie früher einmal lobten oder bewunderten. Und welcher Linke bewunderte nicht den Geniestreich Lenins, mit einer Handvoll Revolutionären aus der Schweiz nach Russland zu reisen und dort die erste sozialistische Revolution der Welt durchzuführen.

«Gestern wäre es zu früh gewesen, morgen ist’s zu spät.» Es ist nicht sicher überliefert, ob er das wirklich sagte. Aber es war unbezweifelbar ein politischer Geniestreich. Die wenigen Jahre, die ihm blieben, verbrachte Lenin mit ständigem Lernen und dem Führen eines Überlebenskampfs der von allen Seiten bedrängten Revolution.

Die Fahrt im plombierten Wagen durch Deutschland ging in die Geschichte ein; Historiker Somm ordnet ein: «Wenn es ein Ereignis gibt, das bis heute Europa heimsucht, dann die Russische Revolution von 1917. Was die Deutschen beförderten, um zu siegen, führte sie selbst ins Elend.»

Bevor er diese schräge Geschichtsthese weiter ausführt, erinnert er sich an seine eigenen Ausflüge an die Spiegelgasse in Zürich und sieht die Gedenktafel dort mit heutiger Brille:

«Seltsam, weil auffällig neutral, wenn nicht ehrerbietig gehalten – wenn man bedenkt, dass hier an einen der Massenmörder der Weltgeschichte erinnert wird, der nicht nur sein eigenes Land ins Unglück geführt hat, sondern die ganze Welt

Dann bricht er nochmals den Stab über das, was für Linke die grosse Oktoberrevolution war und ist:

«Es gibt wenige Ereignisse, die so verheerende, so tödliche, so weitreichende Folgen hatte wie die Russische Revolution. Rund 100 Millionen Tote weltweit. Der Ruin Russlands. Die Russische Revolution destabilisierte nach dem Ersten Weltkrieg halb Europa, insbesondere Deutschland und die osteuropäischen Länder. Indirekt bereitete sie damit auch dem Zweiten Weltkrieg den Weg (weitere 60 Millionen Tote).»

Welch ein einäugiger Blick durch eine dunkle Demagogenbrille, typisch für Renegaten. Welche Zustände vorher im zaristischen Russland herrschten, welche dekadente, unfähige Schicht von Fürsten und Grossgrundbesitzern an der Macht war, in welchem Elend die Bevölkerung lebte, mit welcher Unfähigkeit adlige Kommandeure ihre Truppen ins Gemetzel schickten, also schlichtweg: welche Ursachen die russische Revolution hatte, das ist dem Historiker Somm scheissegal.

Aber er hat sich erst warmgelaufen, nun nimmt er sich seines ehemaligen Idols an. Lenin, der «Opportunist», sogar mitschuld am Ukrainekrieg (und indirekt am Zweiten Weltkrieg). Lenin, der «Grossverbrecher». Und wer ist an ihm schuld? Der Zar, das Elend in Russland, der degenerierte Adel? Nein, «vor allen Dingen die kaiserliche Regierung des damaligen Deutschen Reiches. Lenin war ihr Mann. Die kommunistische Revolution war ihr Werk.»

Fritz Platten, deutsche Politiker, die Zugfahrt, die Ankunft in St. Petersburg: «Unversehens nahm er sein Zerstörungswerk auf.» Das fiel allerdings nicht so wirklich in einem zerstörten und zerrütteten Russland auf. Aber schliesslich:

«Lenin, der scheinbar nützliche Idiot, stellte sich als jener heraus, der die Deutschen wie Idioten aussehen liess. Er wusste es besser: «Es gibt keine Moral in der Politik. Es gibt nur den Zweck. Ein Schurke kann für uns von Nutzen sein, nur weil er ein Schurke ist.»»

Mit dieser Erkenntnis stand Lenin ganz alleine in der Politik da. Und die Deutschen waren nach Somm Idioten, weil nach der russischen Revolution auch in Deutschland zumindest der Versuch einer Revolution unternommen wurde. Woran auch Lenin schuld war, nicht etwa der grössenwahnsinnige Kaiser, seine blutsaufenden Generale und ein verlorener Angriffskrieg. Lenin als Produkt einer deutschen Intrige zwecks Destabilisierung des Kriegsgegners Russland. Diese Gähn-These wurde schon mindestens so häufig wie die Dolchstosslegende behauptet.

Geschichte wird immer umgeschrieben – mal schlau, mal blöd

Jedem ist es freigestellt, die Geschichte neu umzupflügen. Das passiert insbesondere in Deutschland häufig im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen. Die «Dolchstosslegende» nach dem Ersten Weltkrieg des deutschen militärisch-industriellen Komplexes, um von der Verantwortung von herrschender Klasse und Militär für die Niederlage abzulenken. Dann die notorischen Versuche, den Überfall von Hitler-Deutschland auf die UdSSR zu einem Präventivschlag umzulügen.

Und nun noch der spätberufene Somm, der Lenin als Wurzel allen Übels entdeckt. Nach marxistischer Auffassung sind Klassenkämpfe der Motor geschichtlicher Entwicklungen, und Revolutionen ihre Lokomotive. Individuen sind Charaktermasken im Dienste ihrer Klasse, deren Bedeutung von der bürgerlichen Geschichtsschreibung grob überschätzt würde. Berufsrevolutionäre wie Lenin stellen sich dabei in den Dienst des Proletariats.

Selbst die SP hing dieser Auffassung an, bis sie von Opportunisten und Karrieristen gekapert wurde. Und Somm soll in seinen Jugendjahren sogar mit dem Trotzkismus sympathisiert haben, war Mitglied der GSoA und galt später als Sozialdemokrat ohne Parteibuch.

Was treibt diesen Mann um?

Wieso er allerdings öffentlich noch viele Jahre später sich selber Abbitte leisten muss, und das erst noch in der Halböffentlichkeit eines «Nebelspalter»-Memo, das lässt sich wohl nur psychoanalytisch erklären.

Er nimmt dabei in Kauf, sich seinen Ruf als Historiker zu bekleckern und Ansichten zu formulieren, die nicht weit von Verschwörungstheorien entfernt sind. Auf jeden Fall stehen sie denen näher als der historischen Wirklichkeit.

Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen. Seit es Geschichtsschreibung gibt, wird sie immer wieder aufs Neue umformuliert, umgeschrieben, den jeweils herrschenden Narrativen angepasst. Ganz einfältige Historiker tragen ihre Ansichten und Vorurteile in die Geschichte hinein und vermelden triumphierend, dafür angebliche Belege und Beweise gefunden zu haben.

Das ist ein sehr erkenntnisfreies Tun, das nichts zur Aufklärung beiträgt, höchstens zur Gefahr, aus mangelnder Einsicht die Geschichte wiederholen zu müssen. Ob sich Somm noch an diesen Satz von Karl Marx erinnert?

«Hegel bemerkte irgendwo, dass alle grossen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.»

Auf die Geschichtsschreibung angewendet, ist Somm dann aktuell die Farce, nach seiner jugendlichen Phase, die er rückblickend als Tragödie empfindet.

 

 

 

 

 

 

Der doppelte Gysling

Als ob einer nicht schon ausreichend wäre …

Nach anfänglichem, aber nur kurzem Schweigen ist Erich Gysling wieder voll in Fahrt. Er hat seine kurz verloren gegangene Pole Position als der Experte für alles zurückerobert. Es gibt ja den Fachexperten, der im grossen Erdenrund nur so seine kleine Expertise hat. USA, vielleicht Afrika, China, Asien, Lateinamerika.

Aber darüber thront Gysling. Er ist Spezialist und Generalist. Man könnte ihn mitten in der Nacht aufwecken; sobald er sein Foulard geknotet hat, würde er aus dem Stand über Transnistrien, die Andamanen, Cabo Verde oder Belize Grundsätzliches und Aktuelles zu bedenken geben.

Das ist zurzeit weniger gefragt, natürlich ist Gysling mit Russland und der Ukraine voll ausgelastet.

Also wäre das nicht genug Expertise, gibt es auch noch Peter Gysling. Ebenfalls ein ausgewiesener Fachmann, tatsächlich spezialisiert auf Russland, den Kaukasus, den Osten. Beide Gyslings sind in E. Gyslings «Backgroundtours» vereint. Dieses Reisebüro für Mehrbessere (knackige Preise, dafür persönliche Betreuung durch Gysling) vertreibt Erich G. die Langeweile, während Peter G. dort als Reiseführer seine Pension versüsst.

Das alles ist wunderbar, es gibt allerdings nur ein kleines Namensproblem. Denn wenn es zwei Gyslings gibt, ist es leicht möglich, dass der verwirrte Beschallte plötzlich nicht mehr weiss, welcher Gysling denn was gesagt hat.

Diesem Problem entgehen die beiden Gyslings allerdings weitgehend, indem sie durchaus Typenähnliches, manchmal auch Deckungsgleiches sagen. Allerdings ist es im Rahmen eines Alleinstellungsmerkmals schon blöd, wenn es gleich noch einen zweiten Spezialisten zum gleichen Thema mit dem gleichen Nachnamen gibt.

Man könnte sie höchstens noch durch das Haupthaar unterscheiden. Erich mit Glatze, Peter mit vollem Haupthaar. Das ist übrigens eine verblüffende Parallele zu einem Grundgesetz, was die Abfolge russischer Herrscher seit der Oktoberrevolution 1917 betrifft. Es war immer ein Wechsel.

Lenin mit Glatze, Stalin ohne. Chruschtschow mit, Breschnew ohne. Andropov mit, Tschernenko ohne. Gorbatschow mit, Jelzin ohne. Putin, nun ja, mit und ohne. Gysling nun auch mit und ohne.

Schweizer Käse

Aus eidgenössischen Banken tropfen Kundendaten, als wären die Tresore aus Emmentaler.

Reiche Menschen, sehr reiche Menschen, haben ein Problem. Es ist zwar ein Luxusproblem, aber immerhin: wohin mit dem vielen Geld? Das Modell Dagobert Duck existiert wirklich nur in Entenhausen.

Viel Geld manifestiert sich an der Oberfläche in irdischen Besitztümern. Also Villen, Yachten, Privatflugzeuge, plus teure Hobbys. Ein Hotel, ein Fussballclub, beides, eine ganze karibische Insel gehört auch zur Grundausstattung eines Milliardärs.

Da bleibt aber immer noch einiges übrig, und selbst eine sackteure Scheidung vermag nicht, den Milliardär zum armen Millionär zu machen. Daher ist sein Geld irgendwo zum grössten Teil investiert, zu einem anderen Teil gut gelagert. Nicht im Geldspeicher, sondern auf Bankkonten selbstverständlich.

Erschwerend kommt noch hinzu, wenn der richtig Reiche eigentlich aus einem Land mit einer Weichwährung kommt. Wie zum Beispiel der Rubel. Da liegt es auf der Hand, den grössten Teil der Batzeli in der Weltwährung Nummer eins zu halten. Das ist immer noch der US-Dollar. Natürlich kann man auch einen Währungssplit machen, also noch etwas Pfund, Euro, Yen und Schweizerfranken reinmischen. Aber der Dollar ist King.

Lieber ausserhalb des Zugriffs von Putin

Der Oligarch, davon ist natürlich die Rede, könnte nun seine ansehnlichen Geldberge auch in Russland von Banken beherbergen lassen. Aber bei aller Liebe zu Vaterland und Regierung, bei möglicherweise sogar freundschaftlichen Banden zu Präsident Putin oder seiner Clique: das abschreckende Beispiel Chodorkowski zeigte allen anderen, was einem passieren kann, wenn man frech wird und in Ungnade fällt.

Da ist es schon weiser, seine Kröten etwas ausserhalb des Zugriffs des russischen Potentaten zu lagern. Warum nicht in der diskreten Schweiz. Aber mit diskret hat es sich. Gerade führt Tamedia wieder vor, was man aus den diversen Datenleaks, also auf Deutsch Datendiebstählen, alles rausmelken kann. «Sanktionierter Russe hatte Hunderte Millionen in der Schweiz». Locker zählt der Tagi drei stinkreiche Russen auf, samt Erwähnung deren Spielzeugen wie die grösste Privatyacht der Welt, plus sogar Kontobewegungen auf diversen Bankverbindungen in der Schweiz.

Seit dem letzten Datenklau bei der Credit Suisse plädiert ZACKBUM sowieso dafür, gleich sämtliche Daten aller Kunden einfach ins Internet zu stellen. Spart den Hackern Arbeit. Dieser Artikel erscheint genau in dem Moment, in dem der US-Präsident Joe Biden die Gunst der Stunde erkannt hat.

Denn die USA haben ja besondere Durchgriffsrechte, wenn es sich um Dollar handelt. Davon machen sie ungeniert Gebrauch. So hatte Afghanistan rund 12 Milliarden Devisen in Dollar geparkt. Die Hälfte kriegt ihr zurück, beschieden die USA der neuen Regierung, die andere Hälfte behalten wir, um Opfer eurer Untaten zu entschädigen. Das ist schlichtweg Diebstahl, aber wer soll das Uncle Sam beibringen.

Vom gehätschelten Gast zum Feindbild

Nun geht’s also aufs Feindbild «Oligarch». Der wurde gehätschelt und gepflegt, vor allem in London, aber auch in der Schweiz. Da er freigiebig mit vielen, vielen Millionen um sich wirft, war er ein gern gesehener Gast, Kunde, Mitbürger.

Aber nun meint Biden:

«Ich sage den russischen Oligarchen: Schluss damit!»

Womit? Mit ihren «Verbrechen». Welche denn auf einmal? Das erledigt eine neu gegründete Task Force der USA: «Wir schliessen uns mit unseren europäischen Verbündeten zusammen, um Ihre Yachten, Ihre Luxuswohnungen und Ihre Privatjets zu finden und zu beschlagnahmen. Wir werden uns Ihre unrechtmässigen Gewinne holen.»

Das hört sich nun fast so an, als sei das eine Ankündigung von Lenin nach der Oktoberrevolution in Russland. Nur sagt das diesmal nicht ein kommunistischer Revolutionär, sondern ein kapitalistischer US-Präsident. Offenbar hat Putins Einmarsch in die Ukraine all ihre Vermögenswerte zu unrechtmässigen Gewinnen gemacht.

Neue Lagermethoden in den Tresoren Schweizer Banken.

Statt sich durch Dienstleistungen, Verkäufe und Liebedienerei ein Scheibchen von diesen Vermögen abzuschneiden, wollen die USA gleich ans Eingemachte. Wieso absurde Preise für die Instandhaltung einer Luxusyacht verlangen? Ist doch viel gewinnbringender, sie einfach zu beschlagnahmen. Wieso wenig Steuern auf eine Immobilie kassieren? Her damit, samt Inhalt natürlich. Was, der Oligarch ist in eine westliche Firma investiert? Sicher unrechtmässig, kriegt er weggenommen. Kann ja versuchen, eine Entschädigung einzuklagen. Und viel Spass dabei.

Da soll noch einer sagen, im Wilden Osten herrschten rechtsstaatferne Sitten, während im Wilden Westen alles gesittet und ordentlich zugehe.