Fake News II

Aus den Niederungen der NZZ.

Ulrich M. Schmid verwechselt sehr gerne die Wirklichkeit mit seiner Meinung über die Wirklichkeit. Er dilettiert als freier Mitarbeiter des NZZ-Feuilletons über alle Themen, die mit Russland zu tun haben. Zum Leidwesen der Leser.

Nun trägt es sich zu, dass Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, am 21. Januar 1924, also vor 100 Jahren, starb. Er war der Organisator und der Führer der Oktoberrevolution in Russland, die wohl wie kein anderes Ereignis im 20. Jahrhundert den Lauf der Geschichte änderte. Mit einer Handvoll Berufsrevolutionäre ergriff er am 25. Oktober 1917 (nach unserem Kalendar am 7. November) die Macht. Wer hätte gedacht, dass der Exilant und Chef einer kleinen Oppositionsgruppe namens Bolschewiki, der noch 1916 in ärmlichen Umständen an der Spiegelgasse in Zürich gelebt hatte, im nächsten Jahr der Herrscher über den grössten Flächenstaat der Welt werden würde.

Wer hätte gedacht, dass seine wortmächtige Uminterpretation der Theorie von Karl Marx, dass die proletarische Revolution im am meisten entwickelten kapitalistischen Staat stattfinden würde, im unterentwickelten Russland wirkmächtig wurde.

Wer hätte gedacht, dass er und seine Genossen die Versuche aller imperialistischen Staaten, die erste sozialistische Revolution der Weltgeschichte militärisch niederzukämpfen, überleben würden? Und in einem grausamen Bürgerkrieg bis 1922 vor allem dank dem militärischen Genie von Trotzki obsiegen würden?

Was immer man davon – und den Folgen – halten mag, es war eine Tat, ein Leben, eine Wirkung, die beschrieben, gewürdigt werden muss. Aber was macht Schmid? In bester antikommunistischer Manier berichtet er eine Seite lang lediglich über den Gesundheitszustand Lenins, über seine letzten Jahre, in denen er geschwächt durch die Folgen eines Attentats und mehrerer Schlagfälle nicht mehr voll einsatzfähig war.

Besonders unappetitlich ist das, weil die stramm antikommunistische NZZ, die sich schon in der Affäre Farner nicht mit Ruhm und Ehre bekleckerte und unablässig vor der roten Gefahr, der Fünfen Kolonne in der Schweiz und allem Kommunistischen hysterisch warnte, das gar nicht mehr nötig hätte. Denn die Sowjetunion, geformt durch die Revolution Lenins, existiert nicht mehr.

Aber Schmid darf sich dennoch hemmungslos austoben, Duftmarke am Anfang: «Lenin starb, bevor er tot war. Und als er den letzten Rest des Geistes aushauchte, der ihm nach drei Schlaganfällen noch geblieben war, nahm man seinen leblosen Körper und stellte ihn als modernen Götzen aus.»

Dann geht es mit Schmonzetten und irrelevanten Anekdoten weiter: «Seine Ärzte forderten ihn auf, 7 mit 12 zu multiplizieren. Lenin war dazu nicht imstande … Wiederholt forderte er von Stalin Zyankali – erfolglos … Sein Todeskampf war schrecklich.»

Dann noch ein paar Bemerkungen über die Errichtung des Mausoleums, und Schmid ist mit seiner «Würdigung» am Ende. Nicht ohne eine Linie in die Gegenwart zu zeichnen: «Paradoxerweise ist ausgerechnet Putin, dessen rücksichtsloser Regierungsstil durchaus «leninistisch» genannt werden kann, zu einem der schärfsten Lenin-Kritiker geworden.» Auch das ist hanebüchener Unsinn, aber was soll’s.

Man könnte Hitler über seine gesundheitlichen Probleme, seine vegetarische Ernährungsweise, seine Verdauungsprobleme, seinen Medikamentenmissbrauch zu erklären versuchen. Das wäre aber völlig unsinnig und böte keinerlei Ansatz, den grössten Verbrecher des 20. Jahrhunderts zu verstehen.

Lenins Erkrankung in seinen letzten Jahren hat überhaupt nichts mit seiner intellektuellen, politischen und gesellschaftlichen Leistung zu tun. Es ist auch absurd, ihn als sterbenden Verursacher der Revolution darzustellen. Nicht einmal ein Lenin hätte das vermocht, wenn Russland damals nicht von einer völlig unfähigen korrupten, dekadenten zaristischen Adelsclique beherrscht worden wäre, deren schreiende Inkompetenz sich in der Kriegsführung und in der Behandlung der wie Sklaven gehaltenen Bauern und des Industrieproletariats zeigte.

Auch der Sieg gegen die Weissen, gegen die Konterrevolutionäre aller Spielarten, wäre nicht möglich gewesen, wenn die Revolution nicht eine einmalige  Strahlkraft gehabt hätte. «Panzerkreuzer Potemkin», der Geniestreich von Sergei Eisenstein, gibt ein sehr idealisiertes Bild der Revolution wider. Aber selbst dieser Film ist näher an der Realität als das übellaunige und übelwollende Gewäffel eines Schmid.

Bei aller Voreingenommenheit der NZZ: es wäre ihr gut angestanden, nach der Niederlage ihres Angstgegners, ein wenig Qualitätsbewusstsein zu zeigen und gegenüber diesem Machwerk zu sagen: sorry, aber das ist nun dermassen unter Niveau und unter der Gürtellinie, dass wir es leider nicht bringen können.

Stattdessen das:

Eine ganze Seite Gewäsch, dazu ein denunziatorisches Foto eines schwerkranken Lenin. Muss das sein? Das ist nicht peinlich für den Führer der Oktoberrevolution, das ist peinlich für die NZZ.

8 Kommentare
  1. Simon Ronner
    Simon Ronner sagte:

    Diese Ulrich Schmids in der NZZ, die bringen es einfach nicht. Ja, gibt da noch so einen, ohne M. zwischen Vor- und Nachname. Der schreibt dann solch peinlichen Stuss:

    «Und antisemitische Linke sind keine Linken. Sie sind verkappte Rechte.»

    NZZ, entledigt euch bitte eurer Ulrich Schmids.

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  2. Peter Bitterli
    Peter Bitterli sagte:

    Ulrich M. Schmid könnte vor allem von Kennern seines Schaffens als ein Wendehals der ersten Stunde bezeichnet werden. Sein Leben hat er in slawistischen Seminaren und mit dem Schreiben von Texten zur russischen Literatur und Geisteswelt zugebracht. Sogar zur Oktoberrevolution hatte er zum Teil Prophetisches zu sagen („The Russian Revolution as Ideal and Practice. Failures, Legacies, and the Future of Revolution“). Vor bald zwei Jahren hat er entdeckt (oder postuliert?), dass es so etwas wie eine ukrainische Sprache, sogar eine Literatur und Geisteswelt gibt, und dass so mancher Ukrainer, der russisch schrieb, von den phösen und hybriden Russen einfach gestohlen wurde. Zudem war nicht jede russische Geistesgrösse moralisch einwandfrei.
    Auch Schweizer Geistesgrössen arbeiten halt für Brot und sind daher gezwungen, in den Wind des Zeitgeistes zu f…

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  3. Marcella Kunz
    Marcella Kunz sagte:

    Die eigentliche Revolution war die Februarrevolution 1917, das Ende der Zarenherrschaft. Die Oktoberrevolution war in Wirklichkeit eine Machtergreifung, die Lenin recht einfach gemacht wurde. Dass er ein Schwächling war, ist bekannt. Dass er ein Feigling war, der sich lieber aufs Land verzog, wenn es brenzlig wurde, weniger. Aber Mythen halten sich hartnäckig.

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