Die grosse Hoffnung der Journalisten
Nichts ist älter als die Zeitung von gestern. Und schneller vergessen. Gut für Journis.
Arthur Rutishauser, Oberchefredaktor bei Tamedia, servierte der staunenden Leserschaft unermüdlich und Jahr für Jahr die gleiche News: Die Strafuntersuchung im Fall Vincenz stehe kurz vor dem Abschluss, demnächst werde die Anklageschrift eingereicht.
Das tat er im Frühling, im Herbst, wenig variantenreich und unbekümmert darum, dass es nie eintraf. Aber wie eine stehengebliebene Uhr, die auch zweimal am Tag die richtige Zeit anzeigt: Endlich hat’s dann, nach drei Jahren, doch mal geklappt.
Es war zwar nicht demnächst, auch nicht im August, aber Ende Oktober 2020. Uff. Wieso kam er damit durch? Ganz einfach: Er setzte auf das Kurzeitgedächtnis der Öffentlichkeit. Auf ihre Fähigkeit zum schnellen Vergessen. Darauf, dass sich doch niemand mehr daran erinnert, was Rutishauser vor einem halben Jahr angekündigt hat. Wohl nicht mal er selbst.
Keiner zu klein, Rutishauser zu sein
Wie der Herr, so’s Gescherr. Seitdem Mario Stäuble zum Co-Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» aufgestiegen ist, erblüht er als Kommentator. Innert kürzester Zeit hat er sich dabei das Rüstzeug angeeignet, um im Chor mit vielen anderen Ratschläge zu geben, Kritiken anzubringen und zu zeigen, wo’s langgeht:
«So funktioniert das mit der Quarantäne nicht»,
«wir müssen verschärfen», selten sieht er Anlass zu Lob: «Endlich klemmt der Bundesrat das «Gstürm» ab».
Trost zu spenden ist seine Sache nicht: «Was für die betroffenen Branchen brutal klingt, ist in Wirklichkeit ein Schritt vorwärts», behauptet der Angestellte Stäuble. In Wirklichkeit ein brutaler Schritt über die Klippe für Tausende von KMU, aber was soll’s. Auch Stäuble profitiert davon, dass sich doch einen Tag später keiner mehr an sein dummes Geschwätz erinnert.
Das gilt auch für seine Kollegin Priska Amstutz. «I am speaking», dieser kleine Satz der zukünftigen Vizepräsidentin der USA hat für Amstutz «globale Strahlkraft», wie sie backfischartig schwärmte. Aber auch das, zusammen mit ihrem Betty-Bossi-Rezept, das sie als von «Grossmüetti Amstutz» ausgab, ist längst vergessen.
Auch das Fussvolk spielt mit
Wie das Gescherr, so das Fussvolk. Im Newsletter wird der männerdominierten Sprache Saures gegeben, bis sie nur noch Sternchen sieht. Ein anderer Amok twittert, dass die Uni Luzern ein Interview mit zwei renommierten Wissenschaftler von ihrer Webseite nehmen sollte. Oder wie er zu formulieren beliebt: «Hey, Uni Luzern, nehmt den Dreck runter, entschuldigt euch bei C. Althaus und publiziert eine Richtigstellung.»
Aber was ist vom einem «Leiter digitales Storytelling» zu erwarten, der auch schon mal dem gesamten Bundesrat attestiert:
«Jetzt sind sie komplett übergeschnappt.»
Auch er rüpelt so vor sich hin, weil er auf das schnelle Vergessen hofft. Und auf die eigene Belanglosigkeit, obwohl er das natürlich nie zugeben würde.
Auch die übrigen Chefkommentatoren zählen auf Vergesslichkeit
Selbstverständlich ist Tamedia nicht alleine. Auch Christian Dorer, der Amtskollege von Rutishauser bei Ringier, hofft auf schnelles Vergessen: «Ski fahren, snowboarden, langlaufen, Schneeschuhtouren machen oder ausgedehnte Winterspaziergänge – es wäre falsch, ausgerechnet das zu verbieten, was Geist und Körper in dieser Jahreszeit am besten stärkt.»
So jauchzte er noch Ende November letzten Jahres. Schon Ende Februar 2020 wusste Dorer: «Klarmachen sollten wir uns aber auch:
In ein paar Monaten ist der Spuk vorbei.»
Nein, damit meinte er nicht die Amtszeit von Präsident Trump, dem er mit seinem Schwiergmutterschwarm-Charme eine Unterschrift auf sein Blatt abgenötigt hatte. Er meinte Corona.
Im April sah Dorer dann eine originelle Chance, dem drohenden Wirtschaftsabschwung zu begegnen: «Feiern Sie das Ende des Lockdowns im Restaurant! Decken Sie sich mit der aktuellen Frühlingsmode ein! Richten Sie Ihr Wohnzimmer, Schlafzimmer, Kinderzimmer neu ein! Holen Sie sich den neuen Computer! Kaufen Sie das Auto, von dem Sie schon lange träumen!» Aber schon im September tönte er fast resigniert: «Lernen wir, mit dem Virus zu leben.»
«Historisch einmalig, nie dagewesen»
Auch CH Media ist auf das schnelle Vergessen angewiesen. So positionierte sich der dortige Überchefredaktor Patrik Müller bereits am Anfang von 2020 leicht gereizt: «Jeden Tag Weltuntergang – es nervt». Denn nun sei neben dem Klimawandel auch noch im fernen China ein Virus ausgebrochen. Mitte April 2020 verfällt er dann in einen tiefen Pessimismus: «Um Massenarbeitslosigkeit abzuwenden, muss die Wirtschaft behutsam, schrittweise wieder geöffnet werden. Sonst drohen wirtschaftliche und auch gesundheitliche Schäden, die beispiellos, historisch einmalig, nie da gewesen sind.»
Ende Juli redete er den Eidgenossen ins Gewissen:
«Ferien im eigenen Land! Die Schweiz bietet fast alles.»
Gegen Ende Jahr können dann die Politiker aufatmen: Der Präsenzunterricht beginnt in der Regel am Montag wieder. Das ist richtig.» Genauso richtig wie, dass von seinen immerhin über 200 Kommentaren wohl die meisten überflüssig waren.
Selbst, um nichts auszulassen, selbst der NZZ passieren manchmal kleinere Flops, die man dann gerne ebenfalls im Archiv von «schnell vergessen» versorgt. So wollte sie, nach einigen Erfolgen bei der Credit Suisse, auch im Fall Vincenz mal vorne mitspielen. Also setzte sie, natürlich wie immer «von informierten Kreisen nahe am Verfahren» angefüttert, das Gerücht in Umlauf, dass es noch vor der Einreichung der Anklageschrift zu einem Deal kommen werde. Strafbefehl gegen Schuldeingeständnis. War dann nix.