Was sagt die russisch-kanadische Regisseurin?
/0 Kommentare/in Allgemein/von René ZeyerAnastasia Trofimovas Dokumentarfilm «Russians at War» durfte aufgrund von Druck und Drohungen nicht gezeigt werden.
Weil auch die ukrainische Botschafterin in Bern intervenierte, knickte das Zurich Zensur Festival feige ein. Der von Kanada finanzierte und von renommierten Produzenten begleitete Dokustreifen wurde dem Publikum vorenthalten, die Regisseurin wieder ausgeladen. Für eine Freakshow mit Nemo war allerdings Platz und Gelegenheit.
Seither herrscht verkniffenes Schweigen zum Thema, niemand protestiert gegen diese ungeheuerliche Einmischung der Ukraine. Nur die «Weltwoche» machte das Selbstverständliche; sie interviewte Trofimova.
Hier die Verschriftlichung des Video-Interviews durch Roman Zeller:
Weltwoche: Frau Trofimova, was haben Sie sich gedacht, als Sie von der Entscheidung aus Zürich hörten?Anastasia Trofimova: Wir waren schockiert. Die Organisatoren haben uns über Drohungen informiert, die sie erhalten haben, sehr, sehr bösartig, wirklich beängstigend. Für mich ist es alarmierend, dass das durch Gewaltandrohungen durchgesetzt wurde.
Weltwoche: Worum geht es in Ihrem Film «Russians at War»?
Trofimova: Als ich begann, lautete meine Fragestellung: Wer sind die Soldaten, die diesen Krieg auf der Seite Russlands führen? Es gibt so viele Informationen über die Ukraine, nur sehr wenige über Russland und fast nichts über die Soldaten an der Front. Ich wusste nur, mein Land ist im Krieg. Mehr sah ich nicht durch den Nebel der Erzählungen, die in Russland aufgebaut wurden. Auf der einen Seite gab es die Helden, die nie bluten, nie sterben. Und dann gibt es die westliche Darstellung, die Russen seien Vergewaltiger, Mörder, Kriegsverbrecher. Daher beschloss ich, der Frage nachzugehen: «Wer sind diese Menschen wirklich?»
Weltwoche: Was war Ihr erster Eindruck, als Sie an der Front ankamen?
Trofimova: Mich hat die Banalität des Ganzen überrascht. Die meiste Zeit über herrscht Langeweile, dann wird es plötzlich blutig, dann wieder still, und dann geht es einfach weiter, immer weiter. Die Tage werden eins, endlos. Die Banalität von Leben und Tod im Krieg.
Weltwoche: Wie motiviert waren die Soldaten?
Trofimova: Paradoxerweise waren die ukrainischen Soldaten am meisten motiviert. Es gibt Ukrainer in der russischen Armee, hauptsächlich aus der Ostukraine. Für sie war klar: Wir kämpfen für unser Land. Was die russischen Soldaten angeht, so hatte jeder eine andere Erklärung. Einige waren der Meinung, dass die Nato die Ukraine benutze, um nach Russland vorzudringen. Andere sagten, dass sie nicht wollten, dass der Westen ihnen sagt, wie sie leben sollen. Wieder andere sagten, sie hätten im Fernsehen all diese Nazi-Bataillone gesehen, die wollten sie bekämpfen. Meine Schlussfolgerung war, dass die Politik dieses Krieges sehr unklar ist. Es herrschte viel Verwirrung.
«Die Tage werden eins, endlos. Die Banalität von Leben und Tod im Krieg.»
Weltwoche: Manche sprechen von einem Bruderkrieg.
Trofimova: Das stimmt. Die Frau eines Soldaten ist Ukrainerin aus Donezk. Sie hat drei Schwestern. Eine lebt in der Westukraine, sie spricht überhaupt nicht mehr mit ihr, weil sie sie für eine Separatistin hält – und umgekehrt. Die zweite Schwester lebt in Odessa, sie spricht noch mit ihr, aber nicht über Politik. Ihr Vater, der unweit von Donezk wohnt, sagt, er warte, dass ihn sein Schwiegersohn mit der russischen Armee von den Ukrainern befreie. Das ist nur eine Familie, mit völlig unterschiedlichen Meinungen. Die Cousins eines anderen Soldaten kämpfen auf der ukrainischen Seite. Sie hätten manchmal miteinander gesprochen, in der Art: Wir mögen uns zwar, aber ich werde dich töten.
Weltwoche: Was wissen Sie über die Zivilisten in der Ostukraine? Wie denken sie über die russische Armee
Trofimova: Für mich war es überraschend, dass ich die Frage hörte: «Warum hat das so lange gedauert, bis die russische Armee gekommen ist?» Natürlich denkt nicht jeder in der Ostukraine so. Offensichtlich leben viele Menschen, die gegen die russischen Truppen waren, nicht mehr dort, oder sie schweigen. Aber es war schon sehr überraschend, Zivilisten zu treffen, die der russischen Armee halfen.
Weltwoche: Wer westliche Medien liest, könnte glauben, die Russen werden an der Front verheizt. Was wissen Sie darüber?
Trofimova: Auch dazu gibt es keine einheitliche Meinung. Einige wollen kämpfen. Sie haben sich aus welchen Gründen auch immer freiwillig gemeldet. Einige hatten das Gefühl, dass sie den Menschen im Donbass, der russischsprachigen Bevölkerung, helfen würden, die von der ukrainischen Regierung angegriffen wurden. Einige sind eingerückt, die die Politik nicht wirklich verstehen. Aber wenn das Land ruft, gehen sie.
Weltwoche: Was wissen Sie über die gefallenen Soldaten? Haben Sie Zahlen?
Trofimova: Ich habe keine Zahlen, weil ich nicht an der gesamten Front war. Ich war nur mit einem Bataillon an zwei Abschnitten, in Krasnyj Lyman und Bachmut. Aber allein schon deswegen müssen die Leute diesen Film sehen, damit sie die Banalität des Todes im Krieg verstehen. Die Leichen, die in Schichten gestapelt auf den Feldern liegen. Man sieht, dies ist die Sommer-, dies die Winterschicht, das sind die Jungs der Offensive, die jene der Gegenoffensive, Ukrainer und Russen. Es gibt Familien auf beiden Seiten, die nie erfahren werden, wo ihr Sohn begraben liegt.
Weltwoche: Peter Maurer, Ex-Chef des Roten Kreuzes, sagte in einem Interview mit der Weltwoche unlängst: Die russische Seite kämpfe zivilisierter, als es in den Medien dargestellt werde. Was ist Ihr Eindruck?
Trofimova: Es gibt in jedem Krieg Kriegsverbrechen. Krieg ist, wenn Männer sich gegenseitig töten. Für mich ist das bereits ein Verbrechen. Ich habe über Kriegsverbrechen gelesen, aber ich habe persönlich nichts dergleichen gesehen. Ich habe auch nicht selektiv etwas zurückbehalten. Aber ich bin sicher, dass Kriegsverbrechen vorkommen.
Weltwoche: Was ist die grösste Fake News, die Sie über die russische Seite der Front gelesen haben?
Trofimova: Es gibt nicht genug Informationen. Es werden Geschichten nacherzählt, weil es auf der russischen Seite fast keine westlichen Journalisten gibt. Was die Menschen im Westen wissen, erfahren sie in der Regel durch die Augen ukrainischer Geheimagenten oder das ukrainische Militär. Da sieht man Zerstörung, was berechtigt ist. Aber gleichzeitig sollte nicht nur über, sondern auch von den Seiten berichtet werden, sonst ist man mit einer falschen Wahrnehmung konfrontiert.
Weltwoche: Was wissen Sie über die ukrainische Seite?
Trofimova: Ich habe die ukrainische Seite nie gesehen. Das ist auch das Paradoxe für die Soldaten: Im Moment ist die Front recht stabil. Es bewegt sich nicht wirklich viel. Beide Seiten sitzen in Schützengräben, dazwischen ist vielleicht ein 300-Meter-Feld, das vermint ist. Die Soldaten sitzen einfach nur da. Wie im Ersten Weltkrieg. Die meisten Soldaten haben bis vor einigen Monaten nie einen Ukrainer gesehen, zumindest das Bataillon, in dem ich war. Tod und Zerstörung, die sich beide Seiten gegenseitig zufügten, geschahen hauptsächlich aus der Luft. Mit Drohnen. Es ist ein Krieg der Artillerie.
Weltwoche: Was wissen Sie über die Ziele Russlands? Wie lautet der Auftrag an die Soldaten?
Trofimova: Das ist eine gute Frage. Dieser Krieg dauert nun schon über zweieinhalb Jahre, und zumindest vor Ort herrscht grosse Verwirrung, warum sie eigentlich hier sind und was sie erreichen wollen. In groben Zügen wird kommuniziert, dass versucht wird sicherzustellen, dass die Ukraine nicht der Nato beitritt. Ein neutrales Land schaffen, heisst es, mit Garantien, dass sie aufhören, den Donbass zu beschiessen. Was politisch gesagt wird und was vor Ort ankommt, ist verwirrend.
Weltwoche: Es heisst, Russland sei nicht zu Verhandlungen bereit. Stimmt das? Was ist die Meinung an der Front?Trofimova: So oft es ging, bin ich in eine Stadt gefahren, um im Internet zu surfen. Jedes Mal, wenn ich zurückkam, war ich von Soldaten umringt, die mich fragten, wer Verhandlungen führe. «Wie steht es? Was sind die Gerüchte in Moskau? Ist der Krieg zu Ende?» Wenn man die Leute fragt, will niemand an der Front sein. Ich kann mir vorstellen, dass die ukrainischen Soldaten auch nicht dort sein wollen. Für die russischen Soldaten gilt das definitiv. Nur glaube ich nicht, dass es den Wunsch gibt, zu verhandeln, auch nicht in bestimmten politischen Kreisen.
«Ja, ich stehe auf einer Abschussliste. Es gibt in der Ukraine eine Website. Sie listet die Feinde des Staates auf.»
Weltwoche: Was sagen Sie zum Vorwurf, dass Sie mit Ihrem Film russische Propaganda verbreiten?
Trofimova: Das ist verleumderisch, empörend, beleidigend. Für mich war es eine faszinierende Erfahrung, zu sehen, wie Falschinformationen auf der ganzen Welt aufgebauscht werden. Was ich dazu sagen kann, ist, wir haben hier eine Geschichte, die noch nie erzählt wurde und die Sie so definitiv nicht im russischen Staatsfernsehen sehen würden, denn in Russland wird selbst der Tod eines Soldaten nicht gezeigt.
Weltwoche: Es heisst, Sie seien auf der ukrainischen «Liste der Bedrohungen für die nationale Sicherheit» auf Platz 233. Ist das eine dieser ominösen Todeslisten?
Trofimova: Ja, ich stehe auf einer Abschussliste. Es gibt in der Ukraine eine Website, die ironischerweise «Peacekeeper» heisst, Friedensstifter. Sie listet die Feinde des Staates auf. Davon gibt es, soweit ich weiss, etwa 200 000. Die ganze Bevölkerung der Krim steht auf dieser Liste. Etwa 4000 Journalisten. Daneben stehen Fotos, Adressen, Telefonnummern, Social-Media-Daten, Passinformationen und so weiter. Das wird benutzt, um Journalisten und andere zu bedrohe
Weltwoche: Haben Sie Angst?
Trofimova: Mir ist definitiv nicht wohl dabei, ich schaue lieber einmal zu viel über meine Schulter.
Das ganze Interview sehen Sie auf www.weltwoche.ch
Mit freundlicher Genehmigung. Der Artikel ist auf der Webseite der «Weltwoche» hinter der Bezahlschranke.