Ach, du liebe «Zeit»

Habe sie schon wieder gelesen. Hätte ich wieder nicht tun sollen.

Was für ein Format. 56,5 auf 39,5 cm. Aufgeklappt gar 79 cm breit. Keine Lektüre in der S-Bahn zur Stosszeit. Zugegeben, bis hierher ist es copy/paste. Aber damals schloss sich eine Lobesarie an. Die kann nicht nochmal gesungen werden.

Denn diesmal ist der erste Bund der Ausgabe 28. Oktober 2021 ein Totalflop. Einzig lustig das Foto des Siegers der «Deutschen Bartmeisterschaften». Der hat ein derart kunstvolles Gewinde aus seinen Barthaaren gemacht, dass man sich vor dieser Zwirbelei nur verbeugen kann. Bravo, Christian Feicht aus Altötting.

Beim Barte des Bayern, der kommt wohl zu sonst nix …

Ein «Gastkommentar» der beiden angelsächsichen Wissenschaftler Joseph E. Stiglitz und Adam Tooze. Beide nicht mehr im Zenit ihrer Bedeutung, und nun raten sie schwer davon ab, dass Christian Lindner (FDP) Finanzminister wird. Hä? Genau, was geht die das an.

Dann wird die uralte Frage, wieso die «Politik so frauenlos wie eh und je» sei, nochmal nicht beantwortet. Passend zum Abgang der deutschen Bundeskanzlerin, die wohl eine Frau ist. Artikel: Gerichte sollen helfen, die Klimaziele durchzusetzen. What a joke, wie der Ami sagt. Ein Porträt des möglichen französischen Präsidentschafrtskandidaten Éric Zemmour. Eigentlich erfährt man über ihn nur, dass er «noch rechter als Le Pen» sei, höflich, aber brandgefährlich. Mit welchen Ansichten er sich diese Qualifikation verdient, davon sind eigentlich nur Spurenelemente in dem «Zeit»-langen Artikel vorhanden.

Eine «Streit»-Seite, ob man die private SMS des Springer Boss’ Mathias Döpfner hätte veröffentlichen dürfen oder nicht. Abgesehen davon, dass sie öffentlich ist: Die Argumente dagegen überzeugen, die dafür sind nicht erkennbar.

«Wirtschaft»? Gähn. «Wissen»? Schnarch. Eigentlich müsste man diese Ausgabe unter Flop abbuchen, so wie die gesamte Schweizer Sonntagspresse. Wenn da nicht wieder das «Dossier» wäre. Nein, diesmal nicht unbedingt mit einer Eigenleistung, aber mit einer Trouvaille. Nein, mit zwei.

Ein begeisterndes Interview mit einer beeindruckenden Frau

Zunächst ein Interview mit Inge Jens. Ja, die Witwe von Walter Jens, der 2013 nach langer Dunkelheit in zunehmender Demenz verstarb. Wobei Witwe hier zur Einordnung nötig ist, die 94-jährige Autorin ist dermassen hell im Kopf, hat dermassen weise, trockene, unaufgeregte Antworten auf alle Fragen, dass es eine helle Freude ist, das lange Interview zu lesen.

Und bei der Schlussfrage bleibt Bedauern, dass es nicht weitergeht. Als Appetithäppchen: «Sie sollen Ihr Begräbnis schon genau geplant haben. Ihr Wunsch ist es, dass bei der Trauerfeier in der Tübinger Stiftskirche Brahms’ Requiem in Auszügen gespielt wird

«Es wird wohl doch was anderes. Ich habe mit dem Kantor geredet, und er meinte, sie müssten das Brahms-Requiem ganz neu einstudieren. Ich habe gesagt: Lassen Sie’s, dann nehmen wir Mozart.»

Was für einmal die Fragesteller ehrt, ist diese Einleitung zu einem heiklen Thema, der Selbstmord ihres Sohnes: «Im vergangenen Jahr ist auch Ihr Sohn Tilman gestorben. Dürfen wir mit Ihnen darüber sprechen?»

Die Antwort: «Selbstverständlich. Fragen Sie!»

Was für eine Dame, mit welcher Lockerheit stellt sie feministische Absonderlichkeiten richtig, wie weise beschreibt sie ihr Leben, ihre Begegnungen, ihre Rolle.

Noch nie von Robert Blum gehört? Eine Wissenslücke

Die zweite Trouvaille kommt wieder von einem Engländer, Christopher Clark. Spätestens seit «Die Schlafwandler» hat sich der Geschichtsprofessor aus Cambridge in den Olymp der Historiker geschrieben.

 

Das erhellende Buch zu einem x-mal beschriebenem Thema.

Hier macht er auf Robert Blum (1807 – 1848) aufmerksam. Ein deutscher Demokrat, Beförderer des ersten Versuchs, eine Demokratie auf deutschen Boden zu errichten, ein Kämpfer für seine Sache mit Leib und Seele, aber auch jemand, der auf Ausgleich bedacht war und immer versuchte, Koalitionen zu schmieden, um das Mögliche durchzusetzen, nicht das Unmögliche zu träumen.

Allzu früh endete sein Leben vor einem Erschiessungskommando in Wien, nachdem der reaktionäre Feldmarschall Windisch-Graetz die Aufständischen in der österreichischen Hauptstadt eingeschlossen hatte und den Widerstand niedermetzelte. Blum hatte sich ihnen angeschlossen, zutiefst beeindruckt von ihrer Courage und Entschlossenheit.

Er wurde gefangengenommen, und sein Verweis darauf, dass er als Abgeordneter des deutschen Parlaments Immunität besass, wurde weggewischt. Am 8. November 1848 verurteilte ihn ein Kriegsgericht zum Tode, am nächsten Morgen wurde er hingerichtet.

ZACKBUM war er nicht bekannt, wir sind dankbar für das Schliessen dieser Wissenslücke.

Wirklich zwei hell leuchtende Sterne am «Zeit»-Firmament, das ansonsten eher dunkel bleibt. Auch im völlig belanglosen Schweizer Split, der das Dossier hinten runterzieht.

Tiefer Sturz in die Schweizer Belanglosigkeit

Während die «Zeit» Inge Jens eine Plattform zur Erquickung und Erleuchtung des Lesers bietet, füllt das Schweizer «Magazin» beinahe das ganze Heft mit einem Porträt von Martina Hingis*. Nichts gegen diese Ausnahmetennisspielerin, aber will man ihr Leben, ihre Ansichten, ihre Meinungen oberhalb und unterhalb eines Filzballs wirklich auf Seiten ausgewalzt lesen? Eher nicht.

Das Editorial von Finn Canonica warnt allerdings schon vor. Er geistreichelt: «Tennis ist wie Französisch und Fussball wie Englisch. Fussball spielen kann man auch, wenn man nicht wirklich Fussball spielen kann. Ebenso ist es mit der englischen Sprache.»

Wahnsinn, welch eine Metapher. Geht da noch einer? «Ohne mühsam erworbene Grundkenntnisse ist es unmöglich, in Paris Crêpes au (nicht avec!) Nutella zu bestellen und sich nicht wie ein Vollidiot zu fühlen.»

Crêpe ohne Nutella für Nicht-Idioten.

Wir würden sagen: Man muss sich wie ein Vollidiot fühlen, wenn man Crêpes mit diesem Brotaufstrich bestellt. Ein italienisches Verbrechen: «Sie besteht überwiegend aus Zucker mit Zutaten von Palmöl, gerösteten Haselnüssen, Milchpulver, Kakao, Sojalecithin und Vanillin», weiss Wikipedia. Und wer in Paris oder anderswo nicht ein Crêpe mit einem der vielen anständigen Beläge bestellt, müsste Lokalverbot bekommen. Oder Schreibverbot. Oder beides.

*We did it again. Dafür gibt’s morgen einen Frauentag, versprochen.

 

2 Kommentare
  1. Marcella Kunz
    Marcella Kunz sagte:

    Ich fand Martina Hingis (nicht Hinggis, Herr Zeyer!) immer sympathisch und natürlich herausragend als Sportlerin. Habe die fehlende Wertschätzung hierzulande nie verstanden. Aber die harmoniesüchtigen Kuschelschweizer verstehen die Osteuropäer (richtig wäre: Mitteleuropäer) bis heute nicht. Nun frage ich mich, enttäuscht: Warum tut sie sich das an? Was kümmert es sie, wie der Mainstream über sie denkt? Hat sie es nötig, ihr Privatleben und das ihrer Mutter vor den Tagi-Haltungsjournis auszubreiten, die daraus natürlich eine politisch korrekte Opferstory basteln: Frau, Migrationshintergrund, alleinerziehende Mutter. Schade, früher hatte sie das richtige Selbstbewusstsein.

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