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Der Schmatz-Skandal

Tamedia legt den Finger auf die Quelle des Übels: den Mund.

Es braucht die geballte intellektuelle Kraft, das Zusammenstehen eines Recherchierteams, die naturwissenschaftliche Sicht einer Grossredaktion, um ein Thema in den Fokus zu rücken, das eine entscheidende Rolle bei der Bekämpfung der Pandemie spielen könnte.

Wie meistens handelt es sich um einen weithin übersehenen Missstand, der aber verbreitet ist und an einem Ort unschuldige Mitmenschen ins Verderben reisst, der eigentlich einen sinnvollen und nötigen Zweck erfüllt.

Denn wir leben in einer mobilen Gesellschaft, reisen ständig von A nach B. Nun tut das der Egoist alleine in einer riesigen Blechkiste, Ohne ans Klima zu denken, denn auch ein Tesla ist nicht so unschuldig, wie er daherkommt. Stichwort graue Energie, und sein Strom kommt ja auch nicht einfach aus der Steckdose. Sondern auch aus einem AKW oder gar Kohlekraftwerk.

Der bewusste Mitbürger vertraut auf die Kraft seiner Oberschenkel. Aber der Radius des Velos ist nunmal begrenzt. Also bleibt natürlich der ÖV, logo.

Das Killervirus schwebt durch die Luft

Und genau dort schlägt das Killervirus unbarmherzig zu. Nicht aus eigener Kraft. Nein, völlig fahrlässige Benutzer des ÖV sind willige Helfer. Aber man ist ihnen auf der Spur. Zuerst läutete der Chef des Wissen-Bundes die Alarmglocke:

«Hört endlich auf, im ÖV zu schmatzen!»

Nik Walter gibt seiner Abscheu in erschütternden Worten Ausdruck:

«Je länger, desto mehr ekle ich mich vor all den mampfenden, schmatzenden, schlürfenden Mitpassagieren in den Zügen, die ihre Maske nur am Arm oder bestenfalls am Kinn tragen. Das Essen und Trinken im ÖV ist mittlerweile eine Seuche, eine wahre Pest.»

 

Der Mitreisende, das Schwein.

Seuche, Pest, Covid-19: eine logische Reihe. Was kann der arme Mann dagegen tun? «Mir bleibt hinter meiner FFP2-Maske die Spucke weg.» Aber dann befeuchtet er doch seine Lippen und kräht los:

«Ich fordere die SBB und andere ÖV-Betreiber hiermit auf: Verbieten Sie ab sofort jegliches Essen und Trinken in den Zügen.»

Aber es ist wie so häufig im Leben, Corona-Kreische Marc Brupbacher kann auch ein Lied davon singen: keiner hört auf einen. Dabei wäre die Pandemie schon längst besiegt, zumindest in die Schranken gewiesen, wenn all die guten Ratschläge aus der Tamedia-Virusredaktion umgesetzt würden.

Aber nein, es wird weiterhin geschmatzt, was die Kiefer hergeben. Schlimmer noch: die SBB selbst sind mitschuldig, wozu führen sie immer noch Speisewagen? Mitten in der Pandemie? Gohts no?

Der Mann ohne Maske: Nik Walter.

Wo Gefahr ist, schmatzt das Rettende auch. Oder so

Aber wenn Tamedia einen Skandal erkannt hat, dann verbeisst sich das Haus des Qualitätsjournalismus darin, als wäre es ein Sandwich. Während Walter weiterhin nach Spucke sucht, übernimmt nun Jon Mettler. Von Haus aus Wirtschaftsjournalist, aber wo er gebraucht wird, da greift er zur Feder.

Er legt den Ton etwas höher: «Essende Zugspassagiere ohne Maske sorgen für Unmut». So ein Titel ist eine kaum maskierte Bewerbung für die NZZ, aber lassen wir das.

Mettler zeigt nun, wie man aus einem Einzelschuss Dauerfeuer macht, im Journalismus gerne Kampagne genannt: «Täglich gehen die SBB gegen Mundschutzverweigerer vor. Jetzt regt sich Widerstand gegen Reisende, welche mit langem Essen und Trinken im Zug die Schutzregeln plump umgehen.»

Schon im Lead, gekonnt ist gekaut, ist alles drin. Die Mundschutzverweigerer, der Widerstand, der Skandal. Unmut rege sich allerorten, auch «diese Zeitung» bekomme Zuschriften von verärgerten ÖV-Nutzern. Da werde weiterhin geschmatzt, Kaffee provokativ in «kleinen Schlückchen geschlürft». Den doppelten Diminutiv versuchen wir dann zukünftig zu vermeiden, gell?

Ein Hauch von Klassenkampf bei Tamedia

Aber hier geht’s ja um Grösseres. Auch ein Hauch von Klassenkampf weht endlich mal wieder durch Tamedia, denn die SBB böten «in der 1. Klasse einen gastronomischen Service am Platz an, was das Reisen ohne Mundschutz nur noch fördere».

Man könnte nun gleiches Recht für alle fordern: her mit dem Service auch in der Prekariatsklasse. Oder aber, die SBB sollten das lassen. Nun, gelernt ist durchgekaut, es kommen die Gegenstimmen, die vor Denunziantentum warnen, der SBB-Sprecher hat seinen Auftritt.

Keine Scherze über ein ernstes Thema, bitte.

Noch Erschreckenderes ist von den BLS zu vermelden. Dessen Zugpersonal treffe immer wieder auf Personen ohne Mundschutz. Abgründig: «Sie nutzen dazu nicht einmal den Vorwand des Essens oder Trinkens.» Man erahnt, das Schmatzen ist nur die Vorstufe zu offener, unmaskierter Maskenverweigerung. Und das steht bekanntlich kurz vor der Impfverweigerung, was wiederum unweigerlich zu Verschwörungstheorien und ins rechtsnationale Hetzerlager führt.

Was fehlt noch im Panoptikum eines schmatzenden Skandals? Genau, die Politik natürlich. Was macht das Thema dort? Logo, es «spaltet». Eine SP-Nationalrätin, die sicher auch hier gerne ihren Namen lesen möchte, ist für ein Konsumationsverbot. Eine «Mitte-Nationalrat» lehnt es hingegen «energisch ab».

Offenbar weil er gerne selber schmatze, setzt Mettler die Schlusspointe, denn der sei selber Pendler und fahre von Graubünden nach Bern. Und sogar zurück.

Alles nur geklaut?

Allerdings, wenn man diesen Artikel in der NZZ liest, beschleicht einen ein kauender Verdacht:

Das Original: gleiches Foto, gleiches Thema, reiner Zufall?

Die, nun ja, Nachdichtung: Man beachte die leichte Perspektivenänderung.

Es könnte doch nicht etwa sein, dass Tamedia nicht nur das gleiche Foto als Illustration verwendet, sondern sich hier, nun ja, inspirieren liess? Aber item, bekanntlich ist gut geklaut immer besser als schlecht selbst erfunden. Um die Festtage herum wollen wir alles mit Milde betrachten.

Früher, als es noch Journalismus gab

Es gab mal Zeiten im Journalismus, da hätte ein Chefredaktor gesagt: echt jetzt? Seid ihr so verzweifelt? Kein Thema gefunden? Dann hätte er die Augen nach oben gerollt und hinzugefügt: also gut, aber macht eine Glosse mit max. 2000 A draus, bitte.

Und dann hätte der Chefredaktor dafür gesorgt, dass die leider, leider aus Platzmangel gekübelt worden wäre. Aber heute? Da hat Tamedia eine riesige Chefredaktion, bloss sitzen keine Chefs drin.

Eine Kritik ist noch nachzutragen, ein schweres Versäumnis. Im ganzen Thema spielt die Genderfrage keine Rolle. Dabei werden doch sicherlich Frauen, mindestens Non-Binäre, möglicherweise auch Menschen mit Migrationshintergrund, Pardon, Migrationsgeschichte heisst das nun ganz korrekt, gar Dunkelhäutige speziell diskriminiert. Ohne, dass das auch nur am Rand erwähnt wird.

Schämt Euch, Ihr Machos Walter und Mettler, dafür müsst Ihr Euch nun ein Gendersternchen dorthin stecken, wo’s dem Mann echt weh tut. Mit Selfie!

Kontraproduktive SBB-Medienmitteilung

Wie aus dem Lehrbuch. Wer einen Abbau beschönigt, bekommt Haue.

Wie verpacke ich eine Negativnachricht positiv? Das hat sich die Medienstelle der SBB gedacht, als sie vor wenigen Tagen die Botschaft der Reservationspflicht für Velos in SBB-Zügen ab 21.3.2021 an die Medien zu senden gedachte. Das Hauptproblem: So viele Bahnpassagiere nehmen ihr Velo mit, dass es vor allem am Wochenende sehr eng wird. Doch anstatt primär das Angebot zu erhöhen, wie das im Kundenfokus eigentlich normal wäre, baut der Staatsbetrieb lieber eine Reservationspflicht auf und erhöht unter dem Strich die Gebühren. Das wäre, wie wenn das Astra, das Bundesamt für Strassenbau, den Autobahnbau einstellen und eine Gebühr auf überbreite SUV einführen würde.

Dem Unsinn zum Trotz titeln die Bundesbahnen: «SBB bietet Kundinnen und Kunden mehr Platz und Sicherheit beim Velo-Transport».

Der Lead beginnt noch besser: «Die SBB verbessert das Angebot für Reisen mit Velos im Hinblick auf die Velosaison 2021. Sie reagiert damit auf die hohe Nachfrage und Kapazitätsengpässe im vergangenen Sommer».

Kein Wunder, wurde die verkappte PR-Meldung praktisch gar nicht so abgedruckt, wie von der SBB erhofft. Ein Nebensatz in der Medienmitteilung zeigt auf, warum nicht: «Die SBB hat heute Velo-, Konsumenten- und Branchenorganisationen das verbesserte Angebot vorgestellt und Perspektiven für das Reisen mit Velos aufgezeigt.»

NZZ brachte Thema aufs Tapet

Mit anderen Worten. Es gab keinen Dialog, keine Verhandlungen, nichts. Velo-, Konsumenten- und Branchenorganisationen wurden vor vollendete Tatsachen gestellt. Weil diese schon vorher vom SBB-Plan wussten, lancierten sie gleichentags eine Petition gegen die Reservierungspflicht. Beigetragen dazu hat die NZZ. Diese machte das Anliegen am 28. Februar 2020 publik und konkretisierten die SBB-Idee im November 2020. Die NZZ-Rechercheleistung: sehr gut.

Trotzdem werkelten die SBB im stillen Kämmerlein vor sich hin und überraschten nun die Öffentlichkeit, wie auch die Velo-, Konsumenten- und Branchenorganisationen. Kein Wunder, war das Medienecho sehr negativ. Der Staatsbetrieb mit Sitz in Bern-Wankdorf wird es zu verkraften wissen. Im Gegensatz zum Bahnpersonal an der Front, das den Schimpftiraden der Fahrgäste ausgesetzt ist. Man kann nur hoffen, dass sich die SBB dem Veloboom besser anpassen wird. Erinnert sei an das Desaster mit den Nachtzügen, als die SBB (unter Chef Andreas Meyer) 2010 die Hotelzug AG zusammen mit der DB und der ÖBB liquidierten. Elf Jahre später jubillieren die ÖBB: Mit dem neuen Angebot hat ÖBB-Chef Andreas Matthä den Nerv der Zeit getroffen. «Nachtzüge sind gelebter Klimaschutz», sagt er im Gespräch mit der NZZ vom 18.2.2021.

Der Tipp an die Medienstelle der SBB: Mehr Ehrlichkeit, mehr Kundenbezug. Dann wird auch das Medienecho positiver.