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Al-Ahli-Arab-Krankenhaus

Spielt es eine Rolle, wer’s war?

«Wir machen uns etwas vor, wenn wir glauben, es herrsche Frieden, nur weil wir immer noch unsere Brötchen holen können, ohne von Heckenschützen abgeknallt zu werden.
In einer Welt, durch die lebende Bomben irren, bleibt nur der Hobbessche Urmythos vom Kampf aller gegen alle übrig.»

Wie hellsichtig war Hans Magnus Enzensberger in seinen 1993 veröffentlichten «Aussichten auf den Bürgerkrieg». Er beschreibt darin auch, wie in Mogadischu verrückt gewordene Kämpfer ein schon arg lädiertes Krankenhaus systematisch zerstören – im Wissen darum, dass sie selbst schon morgen auf seine Dienstleistungen angewiesen wären.

Im Gazastreifen ist eines der wenigen notdürftig funktionierenden Spitäler von einer Rakete getroffen worden. Die Hamas sagt, es sei eine israelische Rakete gewesen. Israel sagt, es sei eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Djihad gewesen. Viele Patienten des Spitals sagen nichts mehr, sie sind tot.

Die Medien wissen nichts Genaues und eiern. «Entsetzen über Raketeneinschlag» («Tages-Anzeiger»), «Hunderte Tote nach Beschuss eines Spitals» (CH Media), «Rakete tötet Hunderte in einem Spital in Gaza» (NZZ), «Wer zündete die Rakete auf Spital in Gaza?» («Blick»), «Wars der IDF oder der Islamische Dschihad?» («20 Minuten»), «Entsetzen über Raketeneinschlag im Gazastreifen – das ist bekannt» (SRF), «Hundreds likely dead in Gaza Hospital blast» (CNN), «Hundreds Killed in Gaza Blast, Palestinians Say» («New York Times»), nichts (Xinhuanet), «Anger aimed at Israel After Gaza air attack kills 500 at Hospital» («Al Jazeera»).

Wer war’s? War es Absicht, Unglück? Ist die Hamas auf jeden Fall schuld, weil sie diese neuerliche Eskalation mit ihrem brutalen Angriff auf Israel begonnen hat? Ist Israel auf jeden Fall schuld, weil ein Bombardement einer Stadt immer viele zivile Opfer fordert? Spielt es eine Rolle, wer’s war?

Was kann Israel tun, wenn fundamentalistische Irre Raketenwerfer auf Wohnblocks, Schulen, Krankenhäusern stationieren, um dann die Brutalität von israelischen Gegenangriffen propagandistisch auszuschlachten. Was kann die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen dafür, dass jede Menge Wahnsinnige, Todessehnsüchtige, von einer mittelalterlichen Todesreligion Fehlgeleitete unter ihnen sind?

Wer auch immer dafür verantwortlich ist, es wird immer einen hohen Prozentsatz von Menschen geben, die keinem Beweis trauen werden, die den Nachweis, dass es Israel war, dass es eine Rakete aus dem Gazastreifen war, für Fake News halten.

Wir in Europa, in der Schweiz sind die Beobachter, die ohnmächtigen Zuschauer. Was können wir tun? Nicht viel, wie meistens. Es gibt – vor allem in Deutschland – widerliche Manifestationen von Antisemitismus, von Judenhass. Nicht zuletzt importiert durch den weitgehend unkontrollierten Strom von Flüchtlingen. Es gibt genauso widerliche Versuche, die berechtigten Anliegen der Palästinenser wegzukeulen.

Es geht wie meist um die Eroberung des Luftraums über den Köpfen, um Narrative, um Framing. Die Massen brauchen einfache Erklärungen, gut und böse, richtig und falsch müssen klar erkennbar sein. Da die Wirklichkeit nicht so ist, wundern sich die Massen gelegentlich, wieso sie eigentlich nichts verstehen. Aber das kümmert nicht gross, solange die Leitmedien und die Multiplikatoren die Grobraster immer wieder nachzeichnen, bis sie sich in die Hirne eingebrannt haben.

Was bleibt dem Beobachter beim Beobachten? Seine folgenlosen Schlussfolgerungen ziehen, nicht mehr.

  1. Weder die Palästinenser, noch die Israelis werden so jemals zum friedlichen Zusammenleben finden. Da weder die einen, noch die anderen vollständig ausgerottet werden können, perpetuiert sich dieser asymmetrische Krieg in eine unabsehbare Zukunft.
  2. Wer nach über 70 Jahren das Existenzrecht Israels als Staat nicht anerkennt, ist ein realitätsferner Phantast.
  3. Wer das Recht der Palästinenser auf Eigenstaatlichkeit nicht anerkennt, nimmt eine Fortsetzung des Terrors in Kauf.
  4. Religiös motivierter Fanatismus ist sogar noch schlimmer als ideologischer Fanatismus. Denn mit der Berufung auf angeblich geoffenbarte Worte Gottes, auf archaische Erzählungen von nomadisierenden Beduinen, die viele Jahrhunderte zurückliegen, auf angebliche jenseitige Belohnungen für vermeintliche Märtyrer, ist jedes denkbare Verbrechen erlaubt, entschuldigt, mit perverser Logik begründbar.
  5. Der Islam ist, wie das Christentum, eine Todesreligion, fortschrittsfeindlich, machtgierig, jeder rationalen Debatte verschlossen. Beide Religionen berufen sich auf angeblich geoffenbarte göttliche Worte und Vorschriften, denen unbedingt, hirn- und fraglos gefolgt werden müsse. Beide Religionen wollen mit Feuer und Schwert gegen Ungläubige, Ketzer, gegen alle Feinde der göttlichen Ordnung vorgehen. Beide Religionen sind rückwärtsgewandt, fürchten Wissenschaft und Erkenntnis wie der Teufel das Weihwasser.
  6. Die christliche Religion, die in genau dieser Gegend mit Kreuzzügen wütete und in Blut badete, ist Gott sei Dank durch die Aufklärung in Schranken gewiesen worden, wurde von der absolutistischen Machtausübung entfernt, ganz gegen ihren Willen. Ihr Einfluss ist noch vorhanden, aber durch Recht und Gesetz beschränkt.
  7. Der Islam ist im Mittelalter steckengeblieben. Wo er herrscht, herrscht bis heute Mittelalter. Kein islamischer Staat prosperiert, kein islamischer Staat sorgt für allgemeines Wohlergehen der von ihm beherrschten Bevölkerung. Im besten, schlechten Fall sorgen Rohstoffe wie Erdöl für einen gewissen Reichtum, der aber einer korrupten Oberschicht vorbehalten bleibt. Zudem dafür missbraucht wird, fanatischen Islam überall auf der Welt zu propagieren, in Islamschulen und anderen Tarneinrichtungen.
  8. Da das Reich Gottes immer jenseitig ist, da selbst im sogenannten islamischen Staat nichts anderes als Unterdrückung, Todeskult und Fanatismus herrschen, ist der nicht in die Schranken gewiesene Islam eine lebensfeindliche, unmenschliche Form der Herrschaft. Es gibt nichts Gefährlicheres als das vermeintlich sichere Wissen der Herrscher, dass sie unfehlbar göttliche Ratschläge befolgen.
  9. Das grosse Verdienst der europäischen Aufklärung war die Trennung von Kirche und Staat. Die Reduktion des Glaubens auf Glauben, die Aufhebung darauf basierender allgemeinverpflichtender Regeln und Vorschriften. Das Ende des Scheiterhaufens,  der Folter, all der Verbrechen, die angeblich zur Rettung des ewigen Seelenheils begangen wurden.
  10. Das grosse Verdienst der Aufklärung war die Toleranz. Die verfestigte Überzeugung, dass nur im freien, fast unbegrenzten Austausch verschiedener Meinungen Erkenntnis und Fortschritt möglich sind. Aber Toleranz muss dort ihre Grenze finden, wo sie mit Intolerantem konfrontiert ist. Trotz aller Schalmeienklänge von modernen, fortschrittlichen, das Gute im Islam beschwörenden Moslems: der Islam ist eine reformunfähige, mittelalterliche Todesreligion. Ihre Ausübung ist im Rahmen der Religionsfreiheit jedem erlaubt. Aber seine institutionalisierte Form ist eine gefährliche Brutstätte für fanatische Feinde unserer Zivilisation.

Wir machen uns in Europa nur vor, es herrsche Frieden. Das stimmte 1993, das stimmt 30 Jahre später immer noch. Die nächsten Anschläge fundamentalistscher Irrer im Namen Allahs sind nur eine Frage der Zeit. Wer auch immer daran schuld ist: was im Gazastreifen passiert und passieren wird, legt die Lunte an den Sprengstoff, der uns hier in Europa ins Gesicht explodieren wird.

 

Weltsicht

Die grosse Illusion des Weltverständnisses.

Es gibt viele Länder auf der Welt, wo grössere Teile der Bevölkerung keinen Zugang zu Informationsmedien haben. Die Schweiz gehört nicht dazu. Es gibt viele Länder auf der Welt, wo Informationen gefiltert, gelenkt, zensuriert werden. Die Schweiz gehört nicht dazu. Es gibt viele Länder auf der Welt, wo ein bedeutender Prozentsatz der Bevölkerung nicht über die intellektuellen Fähigkeiten verfügt, Informationen über die Welt richtig einzuordnen oder zu verstehen. Die Schweiz gehört nicht dazu.

Die grosse Freiheit der freien Informationsbeschaffung im freien Westen bedeutet nicht, dass sie zu einer breiteren Weltsicht verhilft, zu einem Weltverständnis. Selbst der US-Präsident Biden ist nicht in der Lage, die Schweiz und und Schweden voneinander zu unterscheiden. Selbst im einigermassen zivilisierten Kalifornien kann es einem passieren, wenn man bekannt gibt, dass man Besucher aus Europa sei, dass man gefragt wird, ob man eigentlich mit dem eigenen Auto rübergefahren sei.

Die meisten Schweizer wissen, dass das nicht möglich ist. Das Weltverständnis eines durchschnittlichen Schweizers ist demjenigen eines Bewohners des Bible Belt in den USA fraglos überlegen. Das bedeutet aber nicht, dass der durchschnittliche Schweizer in der Lage ist, einen Satz mit zwei Nebensätzen auf Anhieb zu verstehen. Das ist nicht etwa eine despektierliche Behauptung. Es gibt inzwischen Plattformen wie «info easy», die «News in Leichter Sprache» aufbereiten.

Das gleiche Prinzip wenden allerdings – wenn auch nicht so ausgewiesen – viele Newsplattformen an. Sie wollen Rücksicht darauf nehmen, dass der Leser nicht verwirrt werden will. Sich dann richtig zu Hause fühlt, wenn seine Urteile, Vorurteile und Meinungen bestätigt, nicht in Frage gestellt werden. Dabei helfen festgefügte Narrative, die durch stetige Wiederholung zur Gewissheit verdichtet werden. Dabei helfen Schwarzweiss-Darstellungen, bei denen der Konsument problemlos zwischen dem Bösewicht und dem Helden unterscheiden kann.

Diese Möglichkeit der einfachen Unterscheidung nutzten schon frühe Western, als sie noch in Schwarzweiss gedreht wurden. Um von Vornherein klar zu machen, wer der Gute und wer der Böse ist, ohne dass gross Worte verloren werden mussten, hatte der eine einfach einen weissen Hut, der andere einen schwarzen auf. Und alle, die stattdessen Federschmuck trugen, waren sowieso böse, zumindest minderwertig.

Solche einfachen Schablonen helfen der Leserblatt-Bindung ungemein. Denn nichts macht den Newskonsumenten zufriedener, als wenn er nach dem Konsum seiner Newsquelle sagen kann: genauso sehe ich das auch, haargenau, wie ich es mir vorgestellt habe. Nichts verunsichert den Newskonsumenten mehr, als wenn er Dinge zur Kenntnis nehmen muss, die seinen Schablonen widersprechen. Das macht ihn recht ranzig.

Schlimmer ist eigentlich nur, wenn eine Darstellung mit dem Satz beginnt: es ist kompliziert. Kompliziert geht gar nicht, kompliziert riecht nach möglicher Überforderung, kompliziert hört sich nach Denkarbeit an, kompliziert bedeutet, dass man verwirrt werden könnte. Kompliziert hört sich nach Kriegstänzen von Intellektuellen um ihre Lagerfeuer an, wo die meisten Zuschauer kurz mit offenem Mund danebenstehen, um sich dann schulterzuckend abzuwenden.

Einerseits ist die Weltsicht seit Internet um unendlich viele mögliche Quellen erweitert worden. Andererseits stellen immer mehr Nutzer fest, dass ihnen das weder mehr Orientierung, noch mehr Verständnis verschafft. Diese Nutzer müssen auch immer wieder frustriert feststellen, dass Schwarzweiss und Schablone zwar Halt und Ordnung simuliert, oftmals aber an der eben komplizierten realen Welt zerschellt. Wenn zum Beispiel Putin nur böse und Selenskyj nur gut ist, dann weiss man zwar, woran man ist.

Wenn Russland ein autokratisch regierter korrupter Oligarchenstaat ist, wo strikte Zensur herrscht, während die Ukraine nach den Prinzipien einer modernen Demokratie regiert wird und freie Medien als Wächter funktionieren, kann man problemlos Partei ergreifen. Muss man dann aber zur Kenntnis nehmen, dass Selenskyj nicht nur gut, Putin nicht nur böse ist, auch die Ukraine ein autokratischer und korrupter Oligarchenstaat ist, in dem strikte Zensur herrscht, dann empfindet man das nicht als bereichernde Erkenntnis, sondern als störende Verwirrung.

Ob mangels intellektueller Fähigkeiten oder um das Publikum wunschgemäss zu bedienen, viele Journalisten neigen auch zu solchen Vereinfachungen  und wollen weder sich selbst noch ihre Konsumenten mit Komplexitäten, Widersprüchlichkeiten, kunterbunten Beobachtungen verwirren.

Nun darf der Mensch, also auch der Journalist, ein festgelegtes Weltbild haben und der Überzeugung anhängen, dass er und nur er die Dinge richtig sieht. Und würde man auf ihn hören, wäre die Welt viel besser.

Aber eigentlich müsste es die Aufgabe von Newsplattformen sein, neben dem Versuch, die Wirklichkeit so getreu wie möglich darzubieten, Rede und Widerrede zuzulassen. Denn der möglichst freie Austausch von Argumenten galt lange Jahrzehnte als der Königsweg zu besseren Erkenntnissen. Und bessere Erkenntnisse bewirken bessere Handlungen, bessere Handlungen machen das Leben und die Welt besser. So sah man das.

Das ist vorbei. Spätestens seit Corona haben die Welterklärmedien gewaltig an Glaubwürdigkeit und Vertrauen verloren. Da es eine zunehmende Konzentration der Newstitel in der Schweiz gibt, versagen diese wenigen Kopfblattproduzenten darin, den früher zwischen konkurrenzierenden Medien ausgetragenen Meinungskonflikt fortzuschreiben.

Geradezu entlarvend ist dabei der Ausdruck «Zentralredaktion». Zentralredaktion bedeutet Zentralisierung, nicht Diversifizierung. Eigentlich bestimmen lediglich vier Männer die Botschaften der Schweizer Privatmedien. Das sind die Oberchefredaktoren Arthur Rutishauser (Tamedia), Patrik Müller (CH Media), Eric Gujer (NZZ) und Christian Dorer («Blick» Gruppe). Alle vier sind eher weniger durch des Gedankens und des Zweifels Blässe angekränkelt, sondern starke Meinungsträger. Inwieweit das ihren eigenen Überzeugungen entspricht oder ob sie sich als Sprachrohr ihrer Besitzer verstehen, spielt eigentlich keine Rolle.

Auf jeden Fall ist das aufklärerische Modell «möglichst freie Rede und Gegenrede, möglichst offener Schlagabtausch von Argumenten  als kürzester Weg zur Erkenntnis und zu besserem Verständnis» völlig ausser Mode geraten. Repetitive Bestätigung nicht hinterfragbarer Meinungen und Positionen ist an seine Stelle getreten.

Hier wiederholt sich die Geschichte wahrlich als Farce. Denn genau gegen solche Setzungen der Kirche trat die Aufklärung erfolgreich an und riss damit das Leichentuch der Erkenntnisfeindlichkeit und des blinden Glaubens an angebliche geoffenbarte Worte einer höheren Macht von Europa. Nun senkt es sich wieder über uns.

Das Versagen an der Welt

Noch nie konnten wir so viel wissen. Noch nie haben wir so wenig verstanden.

Es hiess Samisdat. Es hiess klandestin. Es bedeutete, unter Lebensgefahr Flugblätter oder Broschüren drucken. Sie über Grenzen und an Kontrollposten vorbei schmuggeln. Sie verteilen, immer in der Hoffnung, auf keinen Spitzel oder Denunzianten zu stossen.

Dann bei Kerzenlicht lesen, verstehen, Horizont erweitern. Im Geist ein Licht aufgehen lassen, einen Ausweg aus der Finsternis der Unkenntnis zeigen. Scheinbar Unbezweifelbares in Zweifel ziehen. Die Lüge der gottgewollten Herrschaft entlarven.

Mit einem Wort: Aufklärung. El siglo de la luz heisst das so wunderbar auf Spanisch, das Jahrhundert des Lichts. Oder Enlightment auf Englisch, Erleuchtung. Das führte direkt zur amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und zur Französischen Revolution. Zu den ersten Erklärungen allgemeiner Menschenrechte. Zum Postulat, dass jeder unveräusserliche Rechte besitzt. Nur deswegen, weil er ein Mensch ist. Eine weitere Begründung braucht es nicht dafür.

Sicherlich, gilt das wirklich für alle? Auch für Frauen, Besitzlose, Schwarze? Das war noch ein weiter Weg. Aber es verfestigte sich die Hoffnung: Wissen ist Macht. Bemächtigt den Besitzer. Macht ihm die Welt verständlich. Erleuchtet ihn mit der Erkenntnis, dass das, was ist, nicht unbedingt gut und richtig sein muss. Auch anders und besser sein könnte.

Die Welt kann richtig verändert werden

Im Taumel dieser wunderbaren Erkenntnis entstand die Illusion, dass es nun doch stetig vorangehe. Friedrich Schiller prägte das schöne Bild, dass jede Generation auf den Schultern der vorangehenden stünde. Freude schöner Götterfunken, alle Menschen werden Brüder, die atemberaubende Musik von Beethoven dazu.

Was bruchstückhaft erschien, wuchs zu einer Philosophie und einem Gedankengebäude heran, vorangetrieben von Kant, Hegel, Marx und Engels. Am Schluss dieser Reihe stand die Gewissheit, dass die Welt nicht nur interpretiert und verstanden werden könne, sondern mit wissenschaftlicher Gewissheit in die richtige Richtung vorangetrieben, verändert werden muss. Sozusagen zwangsläufig, das einzelne Subjekt befördert nur den objektiven Gang der Geschichte. Oder behindert ihn, dann muss es weg.

Das war die grosse Illusion. Die im Desaster endete. Die andere grosse Illusion war, dass zumindest in Kerneuropa nun ein Niveau der Zivilisation erreicht ist, das blutige kriegerische Auseinandersetzungen der Vergangenheit angehören lässt. Wie sollten sich die deutschen Dichter und Denker nochmals mit den französischen Aufklärern Kämpfe auf Leben und Tod liefern. Undenkbar; wenn schon Streit, dann auf dem Weg zu technischem Fortschritt, zu kultureller Weiterentwicklung.

Diese Illusion zerbrach dann in den Blutmühlen des Ersten Weltkriegs, in dem mit vorher ungekannter (und technologisch noch nicht möglicher) Grausamkeit gekämpft, geschlachtet, gewütet wurde.

Endgültig das Ende der angeblichen zivilisatorischen Weiterentwicklung war dann der Zweite Weltkrieg. Die Dichter und Denker wurden zu Richtern und Henkern, das Jahrhundertverbrechen des Holocaust, das Jahrhundertverbrechen des Überfalls auf die Sowjetunion.

Eine Illusion wird durch die nächste ersetzt

Aber der Mensch lebt von Illusionen. Die nächste heisst Internet. Demokratischer, unbeschränkter Zugang zu allen Informationen der Welt. Vorausgesetzt, sie sind digitalisiert. Drahtlos, selbst in Elendslöchern in Afrika boomt seither die Telekommunikationsindustrie. Nicht nur Wissensvermittlung, auch finanzielle Transaktionen können so billig, schnell und effizient abgewickelt werden.

Der Bauer kann sich über die Entwicklung des Wetters informieren, oder darüber, was sein Produkt in der nächsten Marktstadt kostet und wie viel ihm der Zwischenhändler abknöpft. Selbst Analphabten können Wissen absaugen, vorausgesetzt, die Verbindung lässt das Abhören von Podcasts zu.

Alles Wissen der Welt nur ein Fingertippen entfernt, wunderbar. Der Ukrainekrieg, worum geht es, wer kämpft gegen wen, wer ist im Recht, wer im Unrecht, was genau spielt sich ab? Könnte doch jeder für sich herausfinden.

Nur machen das die Wenigsten. Denn alles Wissen der Welt, das ist ein Meer. Unendlich gross, tief, amorph. Wie kategorisieren, orientieren, strukturieren? Wie sagte Bert Brecht mal so schön:

«Haltet Euch an Balzac, das ist ein Ratschlag wie: haltet Euch ans Meer

Was er damit meinte: wie soll man sich an einen Giganten halten, der eine ganze Kleinstadt mit erfundenen Menschen bevölkerte, ein eigenes Universum von Schicksalen schuf.

Wissen akkumulieren ist gut. Zugang zu Wissen haben wie noch nie, das ist besser. Die Zensur hat immer schlechtere Karten. Wenn Unrechtsregimes des Zugang zum Internet blockieren, kanalisieren, zensurieren wollen, dann gibt es Umwege, von VPN angefangen, die das ins Leere laufen lassen.

Aber immer mehr wissen, immer einfacheren Zugang zu Wissensmeeren haben, das befördert etwas nur unvollständig, keinesfalls automatisch: von Wissen zu Verstehen zu gelangen.

Wissen heisst noch lange nicht Verstehen

Verstehen setzt individuelle Denkarbeit voraus. Die Fähigkeit, zu strukturieren, katalogisieren, falsifizieren, plausibilisieren. Die Fähigkeit, Fake News, Deep Fakes, Propaganda, jede Form von Beeinflussung zu erkennen. Da wird’s dann dünn. Recht dünn.

Aber gemach, wofür haben wir denn Informationsquellen, die Medien. Zeitungen, Zeitschriften, TV, Radio, private Blogs, auch hier hat das Internet doch demokratisierend gewirkt. Jeder kann mit wenigen Handgriffen für billiges Geld sich zu einer Informationsquelle machen. Nur: niemand hat die Zeit, das alles aufzunehmen. 99 Prozent aller Newsquellen haben nur eine sehr überschaubare, kleine Gemeinde, die sie beschallen.

Und die grossen Medien sind allesamt skelettiert, abgemagert, krankgespart. Schlimmer noch: sie ahmen die unsägliche Hetze nach, die seit dem Ersten Weltkrieg endemisch ist. Schwarzweiss, der Feind ist brutal, böse, verbrecherisch, wahnsinnig, enthemmt, entmenscht. Neben dem Schurken gibt es den Helden, der ist strahlend, gerecht, weise, verübt niemals Verbrechen, kämpft für das Gute.

So muss man leider sagen, dass die nächste Generation keineswegs auf den Schultern der vorangehenden steht. Sondern dass wir immer wieder in die gleichen Verhaltensmuster zurückfallen. Mit oder ohne Zugang zu allem Wissen der Welt. Immer mit der gleichen Unfähigkeit, wirklich verstehen zu können.

 

Was ist Aufklärung?

In trüben Zeiten hilft klares Denken. Wie das von Immanuel Kant.

Am Sonntag kann man sich schon mal Zeit nehmen, sich an einer klaren Bergquelle der Erkenntnis zu laben. Das putzt die Gehirnwindungen durch und erhebt den Menschen ungemein.

Sollten die Klickraten nicht dadurch zusammenbrechen, könnten wir uns auch ohne Weiteres eine kleine Serie vorstellen.

Beginnen muss die mit dem wohl entscheidenden Versuch, die Grundlage unseres modernen Denkens in Europa und auf wenigen Inseln der Vernunft in der Welt zu definieren. Es geht um den Begriff Aufklärung. Um das, was auf Spanisch so schön «el siglo de la luz» heisst, das erleuchtete Zeitalter.

Als kühne Denker, herausragend die Enzyklopädisten um Denis Diderot, damit begannen, die Wirklichkeit an sich selbst zu messen. Keine meist religiös unterfütterten Setzungen mehr zu akzeptieren, sondern es mit etwas ganz Neuem, Subversivem zu probieren: dem eigenen Denken, dem Debattieren zwecks Erkenntnisgewinn. Mit der ersten Erkenntnis, dass nur so Fortschritt möglich ist.

Eine genial einfache Antwort auf eine schwierige Frage

Dennoch dauerte es bis in den Dezember 1784, also fünf Jahre vor der Französischen Revolution, dass ein deutscher Denker aus Königsberg die einfache Frage stellte: «Was ist Aufklärung?» Und sie in der «Berlinischen Monatsschrift» auf wenigen Seiten umfassend, gültig und bis heute beeindruckend beantwortete.

Eigentlich müsste man dieses Werk einfach wörtlich zitieren. Aber wir bieten es hier zum Nachlesen und auf ZACKBUM als Exzerpt.

Der Anfang ist ein geistiger Knaller auf der Höhe des Einstiegs in einen guten James-Bond-Streifen:

«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»

Diese Sätze sollte man sich heutzutage nichts nur sonntags immer wieder zu Gemüte führen. Sie sind auch in einigermassen gebildeten Kreisen, also unter Ausschluss der meisten aktuell tätigen Journalisten, bekannt. Etwas weniger bekannt ist die Fortsetzung:

«Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.»

In diesem Zustand, beklagt Kant 1784, befindet sich weiterhin der grösste Teil der Menschheit: «Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.»

Immanuel Kant (1791).

Statt sich am Gängelband führen zu lassen, könne das «Publikum» sogar leicht zur Selbstaufklärung gelangen: «Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen.»

Gedanken über den Probierstein für Gesetze

Kant räsoniert dann ausführlich über die Pflicht, vorhandene Regeln zu befolgen, und die Freiheit, sich darüber auch kritische Gedanken zu machen. Werden solche Regeln in Gesetze gegossen, gilt laut ihm dabei nur ein Kriterium:

«Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte?»

Gegen Schluss stellt Kant die Frage: «Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.»

Aber umso mehr man «von der Vernunft öffentlich Gebrauch machen» könne, desto mehr entwickle sich die Geschichte zu einem aufgeklärten Zeitalter.

War der Mann optimistisch. Als er 1804 starb, hatte er noch miterlebt, wie die Französische Revolution, dieser erste neuzeitliche Versuch, sich von Despotie, Willkür und Unterdrückung zu befreien, in einem Blutrausch und in Terreur endete, um schliesslich in Napoleon ihr nicht beabsichtigtes Ende zu finden.

Inseln im Meer der anbrandenden Dummheit

Im Jahr 2021, also genau 237 Jahre nach dieser phänomenalen Definition des Begriffs Aufklärung, sind selbst diese kleinen Inseln der Vernunft, der rationalen und wissenschaftlichen Welterklärung ohne Tabus, gefährdet.

An sie branden die Wellen des Meeres der Dummheit. Öffentlich wird immer weniger von der Vernunft Gebrauch gemacht. Die veröffentlichte Meinung, zumindest in den nach wie vor dominierenden Massenmedien und vielfach noch staatlich dominierten elektronischen Medien, regrediert immer mehr in obrigkeitshöriges Nachplappern, wird zur genauen Vermessung von Tabuzonen missbraucht. Vermischt moralische Kriterien, die hier nichts zu suchen haben, mit dem alten Geschäft von Verifizieren oder Falsifizieren.

Darüber finden aber immer weniger Debatten statt, sondern Setzungen. Es prallt nicht mehr das Richtige als der Sieger über das Falsche in freier Diskussion aufeinander, sondern das sich selbst genügende Gute erhebt sich über das selbst definierte Böse. Wobei das Gute selbstverständlich auch richtig ist, das Böse falsch.

Immanuel Kant würde wohl verzweifelt den Kopf schütteln, würde er dieses modernen Rückfalls in eine selbstverschuldete Unmündigkeit gewahr. Aber er wusste halt, dass Faulheit und Feigheit die grössten Feinde der Aufklärung waren, sind und bleiben.