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Revolution, leicht verständlich

Bildungsauftrag: ZACKBUMs Buchtipps für den Sommer.

Eigentlich hat das Buch einige Eigenschaften, die abschrecken könnten. Es ist ein Wälzer mit 668 Seiten. Es ist von einem Bestsellerautor geschrieben, der Schinken am Laufmeter abliefert. Über Stalingrad, den Spanischen Bürgerkrieg oder die Ardennen-Offensive.

Jetzt hat sich Sir Antony Beever Russland vorgenommen: «Revolution und Bürgerkrieg 1917 bis 1921». Nun gibt es zu Stalingrad bereits das gewaltige Werk «Leben und Schicksal» von Wassili Grossmann. Die moderne Version von «Krieg und Frieden» ist nur etwas für Leser mit starken Nerven.

Und über die Oktoberrevolution und die nachfolgenden Wirren des Bürgerkriegs gibt es schon ein Meer von Büchern, angefangen bei Leo Trotzkis «Geschichte der Russischen Revolution», geschrieben im Exil, und eine Bibliothek von Werken auf der Parteilinie der KPdSU, darunter so Gewaltswerke wie John Reeds «10 Tage, die die Welt erschütterten». Kongenial verfilmt von und mit Warren Beatty in «Reds»

Es gibt bewundernde, kritische, parteiliche, abschätzige, ideologische und einäugige Bücher über die Russische Revolution. Und es gibt George Orwells «Farm der Tiere», die wohl bitterste Abrechnung damit.

Daher zeugt es von Mut, ein weiteres Buch über Revolution und Bürgerkrieg vorzulegen. Aber es ist unbedingt empfehlenswert. Es braucht wohl den kühlen englischen Blick auf die Geschichte, um den Leser an der Hand zu nehmen und durch eine unendliche Anzahl von handelnden Personen, Einzelereignissen, durch all die Zufälligkeiten zu führen, die die Oktoberrevolution und die Machtergreifung der Bolschewiken unter Lenin möglich machten.

Beever gelingt dabei gleich ein doppeltes Kunststück. Trotz der Materialfülle und dem Detailreichtum fühlt sich der Leser nie verloren oder überfordert. Aber noch wichtiger: man hat den Eindruck, dass es wohl genau so gewesen sein könnte.

Denn Geschichte ist bekanntlich nicht die möglichst objektive Beschreibung von vergangenen Ereignissen. Geschichte ist immer ein Steinbruch, aus dem Historiker die passenden Geröllbrocken heraussuchen und nach ihrem Gusto behauen. Ehrlichere geben wenigstens ihren ideologischen Standpunkt bekannt, unehrliche behaupten, dass es so gewesen sei, wie sie es darstellen.

Man möchte nicht wissen, was der «Russland-Experte» und ehemalige NZZ-Journalist Ulrich Schmid zur Russischen Revolution heute sagen würde, nachdem er sich mit einem untauglichen Vergleich zwischen Afghanistan und der Ukraine unglaubwürdig gemacht und disqualifiziert hat.

Denn natürlich ist die Oktoberrevolution für die siegreichen Ideologen des Westens eine historische Katastrophe, ein schreckliches Ereignis, das nahtlos in die Schrecken des Stalinismus überging, viele Millionen Tote forderte und viel zu spät 1990 sein Ende fand.

Für andere ist es der erste hoffnungsvolle Versuch, die Theorien von Marx und Engels in die Praxis umzusetzen, der nur teilweise an den eigenen Widersprüchen, vor allem aber durch den Versuch der imperialistischen Staaten scheiterte, die Ausbreitung der Revolution zu verhindern und die erste proletarische Revolution in ihrem eigenen Blut zu ersticken.

Sie erinnern daran, dass die Sowjetunion mit Abstand den höchsten Blutzoll im Zweiten Weltkrieg entrichtete, Opfer eines Vernichtungsfeldzugs wurde, in dem die deutschen Horden unvorstellbare Gräueltaten in den eroberten Gebieten begingen. In den Plänen für Grossgermanien war für die bolschewistisch-slavischen Untermenschen kein Platz mehr, sie sollten noch als Zwangsarbeiter nützlich eingesetzt und dann ausgelöscht werden.

Das alles nahm in den Monaten zwischen Februar und Oktober (nach dem russischen Kalender) 1917 seinen Anfang. Unvorstellbar, wie ein kleines Grüppchen von Berufsrevolutionären, das knapp einen Zug füllte, der sie vom Schweizer Exil durch Deutschland hindurch nach Russland brachte, als Sieger aus den Wirren des Ersten Weltkriegs hervorging.

Genauso unvorstellbar, dass sich die Rote Armee gegen die Weissen, gegen alle Interventionsheere der westlichen imperialistischen Staaten am Schluss durchsetzte. In einem Bürgerkrieg, der von beiden Seiten mit unvorstellbarer Brutalität geführt wurde und in dem keine Gefangene gemacht wurden.

Adlige und Offiziere wurden auf Bajonette aufgespiesst, um Munition zu sparen, Rotgardisten wie auch Kadetten wurde nach einer Kapitulation freier Abzug versprochen – um sie dann zu massakrieren.

Präsident Putin beruft sich in seinen Reden immer wieder auf die Tradition der Oktoberrevolution und sieht im Zusammenbruch der UdSSR die grösste Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Man muss diese Ansicht nicht teilen. Aber wer die Vergangenheit nicht kennt, versteht die Gegenwart nicht. Wer beispielsweise den Zarismus verklärt, wie das der grosse Gulag-Kritiker Alexander Solschenizyn tat, übersieht dessen Unfähigkeit in Kriegen und dessen völlige Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal der russischen Bauern, die mittelalterlich in unvorstellbarer Armut vor sich hin vegetierten.

Wer Hungersnöte und die stalinistischen Säuberungen als singuläre Verbrechen verurteilt, kennt die russische Vorgeschichte nicht. Wer bedingungslos die Ukraine unterstützt, kennt deren Geschichte vor und während der Sowjetunion nicht, kennt deren braun-befleckte Geschichte im Zweiten Weltkrieg nicht.

Aber ganz am Anfang der Ereignisse steht die leninsche Revolution, steht dieser Ausnahmekönner der Macht, der noch im Februar, ja noch im August 1917 schallend ausgelacht wurde, als er ankündigte, dass seine Bolschewiken bereit und in der Lage seien, die Macht in Russland zu übernehmen.

Die spätere Sowjetunion, das grösste Land der Erde, umfasste in den bittersten Zeiten nicht viel mehr als rund 200 Quadratkilometer um Moskau herum. Es brauchte den Machtwillen Lenins und das militärische Genie Trotzkis, um wenige Jahre später überall die rote Fahne flattern zu lassen, bis nach Wladiwostok und Anadir.

Wie war es wohl, wie kam es dazu? Beever lesen, und man meint, eine Ahnung zu haben. Die nötige Zeit dafür kann man leicht freimachen, indem man darauf verzichtet, die gesammelte Kriegsberichterstattung der Medien zu konsumieren.

Alleine, was hier beim 17-stündigen militärischen Furz eines an die Wand gedrängten Söldnerführers für Unsinn geschrieben wurde, disqualifiziert diese Berichterstattung restlos. Und wäre das nicht genug: die völlige Unfähigkeit, wenigstens das krachende Versagen einzuräumen («Militärputsch, Putin wankt, fällt Moskau, ist Putin bereits geflohen»), disqualifiziert all diese Kreml-Astrologen nochmals.

Also Beever lesen, um die Geschichte zu verstehen. Wer statt Dummschwätzerei einen satirisch-überhöhten, aber genauen Blick auf die Aktualität in Russland lesen möchte: Dmitry Glukhovsky: «Geschichten aus der Heimat». Nur jemand, der seine Heimat liebt, kann so gnadenlos die Realität ins Fantastische abdrehen, um sie genau einzufangen.

Antony Beevor: «Russland. Revolution und Bürgerkrieg 1917 – 1921». C. Bertelsmann Verlag, 2023.
Dmitry Glukhovsky: «Geschichten aus der Heimat». Heyne Verlag, 2022
Wassili Grossmann: «Leben und Schicksal». Ullstein Verlag, Neuauflage 2020

Logik kaputt

Der SZ-Redaktor Joachim Käppner vergewaltigt öffentlich die Logik und missbraucht Stalingrad.

Man übernimmt nicht ungestraft jeden Unsinn aus München – und quält erst noch den zahlenden Leser des Qualitätskonzerns Tamedia. Denn dort zieht einer vom Leder:

Bestürzend ist vielmehr die Ignoranz des Autors gegen Grundregeln der Logik.

Das ist allerdings kein Unfall, sondern ein bewusst herbeigeführter journalistischer Schadensfall. Der Autor behauptet: «Amnesty hat nämlich der russischen Kriegspropaganda ein unverhofftes Geschenk gemacht.» Damit zeige die NGO eine «atemberaubende Ignoranz gegenüber den Opfern eines Zerstörungskrieges». Früher nannte man das bei ihm zu Hause Defätismus und Übernahme von Feindpropaganda.

Dann wird Käppner noch teutonisch-geschmacklos: «In der seltsamen Logik des Ukraine-Berichts müsste man auch der Roten Armee, als sie 1942 Stalingrad gegen die Wehrmacht verteidigte, völkerrechtswidriges Verhalten vorwerfen. Obwohl noch Zivilisten in der Trümmerstadt waren, kämpften die sowjetischen Soldaten um jedes Haus. Was hätten sie sonst tun sollen

Worin besteht seine verkehrte Logik? Amnesty International hat einen Bericht über ukrainische Kriegsverbrechen veröffentlicht. Jeder, der ihn liest, hat keinen Zweifel daran, dass die aufgeführten Beispiele sorgfältig untersucht und belegt sind. Seine Zusammenfassung:

  • Wohngebiete, Schulen und Krankenhäuser dienen als Militärstützpunkte

  • Angriffe aus dicht besiedelten zivilen Gegenden provozieren Vergeltungsschläge

  • Diese Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht rechtfertigen allerdings nicht die wahllosen Angriffe Russlands mit zahllosen zivilen Opfern

AI untermauert diese Vorwürfe, was ausführlich zitiert werden muss:

«Zwischen April und Juli verbrachten Expert*innen von Amnesty International einige Wochen damit, russische Angriffe in den Regionen Charkiw und Mykolajiw und im Donbass zu untersuchen. Sie untersuchten Orte, an denen Angriffe stattgefunden hatten, sprachen mit Überlebenden, Zeug*innen und Angehörigen der Opfer, und führten Fernerkundungen und Waffenanalysen durch.

Bei diesen Untersuchungen fanden die Amnesty-Mitarbeiter*innen in 19 Städten und Dörfern dieser Regionen Belege dafür, dass ukrainische Truppen aus dicht besiedelten Wohngebieten heraus Angriffe durchführten und Stützpunkte in zivilen Gebäuden einrichteten. Das «Crisis Evidence Lab» von Amnesty International hat einige dieser Geschehnisse zusätzlich durch die Auswertung von Satellitenaufnahmen bestätigt.

Die meisten der als Stützpunkte genutzten Wohngebiete befanden sich mehrere Kilometer hinter der Front. Es wären tragfähige Alternativen verfügbar gewesen, die keine Gefahr für die Zivilbevölkerung bedeutet hätten – wie zum Beispiel nahegelegene Militärstützpunkte oder Waldstücke oder andere weiter entfernte Gebäude. In den von Amnesty International dokumentierten Fällen liegen keine Hinweise darauf vor, dass das ukrainische Militär die Zivilpersonen in den Wohngegenden aufgefordert oder dabei unterstützt hätte, Gebäude in der Nähe der Stützpunkte zu räumen. Dies bedeutet, dass nicht alle möglichen Vorkehrungen zum Schutz der Zivilbevölkerung getroffen wurden.»

Gleichzeitig stellt AI klar, wer der Aggressor und Verursacher des Krieges ist: «Bei der Abwehr des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs hat das ukrainische Militär wiederholt aus Wohngebieten heraus operiert und damit Zivilpersonen in Gefahr gebracht. … Gleichzeitig rechtfertigen die ukrainischen Verstöße in keiner Weise die vielen wahllosen Schläge des russischen Militärs mit zivilen Opfern, die wir in den vergangenen Monaten dokumentiert haben. Wahllose Angriffe, bei denen Zivilpersonen verletzt oder getötet werden, sind Kriegsverbrechen.»

Selbstverständlich hatte AI zuvor auch russische Kriegsverbrechen dokumentiert und kritisiert. Im Gegensatz zur Absurd-Logik des deutschen Demagogen Käppner gibt es keine guten oder schlechten, keine gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Kriegsverbrechen. Es gibt keine für die gute Sache, über die man daher schweigen muss, während man Kriegsverbrechen für die schlechte Sache anzuprangern hat.

Um in seiner Unsinns-Logik zu bleiben: die Massenvergewaltigungen durch Soldaten der Roten Armee während des Einmarschs ins Deutsche Reich im Zweiten Weltkrieg waren Kriegsverbrechen. Sie sind nicht entschuldbar, aber zumindest verständlich, wenn man bedenkt, welche unsäglichen Nazi-Verbrechen diese Soldaten sehen mussten, als sie von den Faschisten okkupierte Teile der Sowjetunion befreiten.

In Stalingrad verteidigte die Rote Armee tatsächlich Haus um Haus, sie wählte aber nicht absichtlich Schulen oder Krankenhäuser als Militärstützpunkte. Wer dieses Beispiel anführt, müsste zwangsweise von Wassili Grossmann «Leben und Schicksal» sowie «Stalingrad» lesen müssen. Denn der war da und hat’s aufgeschrieben. In einer Weise, die dem Leser das Herz beklemmt. Auf dass Käppner niemals mehr so geschmacklos über diese unsägliche Tragödie schreibe und überhaupt die Schnauze halte.