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Die Doublette

Wenn zwei das Gleiche tun – zeigt sich das Niveau.

Zufälle gibt’s … Geht man nach der Chronologie, hatte die NZZ um wenige Stunden die Nase vorn:

Variationen zur Schweizer Geschichte, wenn sich entscheidende Ereignisse anders abgespielt hätten.

Variationen zur Schweizer Geschichte, wenn sich entscheidende Ereignisse anders abgespielt hätten. Oder sagten wir das schon?

Einmal NZZ, einmal Tamedia.

Hoppla. Nun ist es so, dass bei Tamedia der verantwortliche Redaktor Andreas Tobler heisst. Das sagt eigentlich schon alles. Der kennt einmal seine Grenzen und hat «Intellektuelle sowie renommierte Historikerinnen und Historiker gefragt …»

Die Resultate sind, gelinde gesagt, durchwachsen. Markus Somm macht sich Gedanken, wie’s weitergegangen wäre, hätte die Schweiz 1515 bei Marignano gewonnen. Ist durchaus unterhaltsam. Josef Lang, nein, muss man nicht lesen. Marco Jorio. Marco who? Brigitte Studer, emeritierte Geschichtsprofessorin, geht der Idee nach, dass das Frauenstimmrecht schon 1919 eingeführt worden sei. Historisch absurd, das macht die NZZ dann viel besser.

Und schliesslich der unsägliche Jakob Tanner, der eigentlich darüber fantasieren möchte, was wäre, wenn Hitler die Schweiz erobert hätte. Aber statt dem nachzugehen, ist er viel zu selbstverliebt und schreibt eigentlich nur über sich: «In meiner Mitte der 1980er-Jahre vorgelegten Dissertation … Um den analytischen Durchblick zu schärfen, zielte ich … Meine kontrafaktische Modellierung bezog sich auf die Frage … Dieses Nachdenken über «roads not taken» hat es mir erleichtert …». Geschichtsschreibung als Bespiegelung des eigenen Bauchnabels, lachhaft.

Eine Franziska Rogger (sieht sich als «Historikerin und Feministin») fantasiert darüber, dass das Frauenstimmrecht 1971 nicht eingeführt worden wäre und irrlichtert in die Zukunft: «2041 schliesslich kappte man in einer ausgleichenden Gerechtigkeit das männliche Stimmrecht, von nun an waren nur noch Frauen stimmberechtigt». Geschichte als Wahnvorstellung. Regula Bochsler (bezeichnet sich als «Historikerin, Künstlerin und TV-Journalistin») überlegt sich, was passiert wäre, wenn Christoph Blocher nicht die EMS Chemie übernommen hätte. Auch das macht die NZZ viel besser.

Und Moritz Leuenberger schliesslich leckt wie immer leicht weinerlich eine alte Wunde: «Bei einem Ja zum EWR hätte sich diese Spirale in die andere Richtung gedreht. Wir hätten ein unverkrampftes Verhältnis zur EU und wären nicht bis zur Verhandlungsunfähigkeit gelähmt und müssten ständig Unterhändlerinnen austauschen.» Wenn Wünschen helfen würde, wäre Leuenberger ein erfolgreicher Politiker gewesen.

Insgesamt eine naheliegende Idee zum 1. August, weitgehend versemmelt durch mediokres Personal. Also genau das, was Tamedia halt ist.

Die drei Autoren der NZZ hingegen sind selbst ans Gerät gegangen und haben durchaus niveauvolle alternative Szenarien entwickelt. Sie legen mit einem hübschen Nietzsche-Zitat schon gleich mal die Latte hoch: «Die Frage «Was wäre geschehen, wenn das oder das nicht eingetreten wäre» wird fast einstimmig abgelehnt, und doch ist sie gerade die kardinale Frage.»

Auch bei ihnen erobern 1940 die Nazis die Schweiz. Das wird aber nicht aus der Bauchnabelperspektive erzählt, sondern den wahren Geschehnissen entlang, angefangen bei der historischen Figur Hauptmann Menges, der den Auftrag erhalten hatte, einen Angriffsplan gegen die Schweiz auszuarbeiten. Die kontrafaktische Darstellung endet mit der Feststellung, dass sich die Historiker bis heute streiten, wieso Hitler den Angriffsbefehl nicht gab: «Was immer der Grund war: Die Neutralität ist bis heute identitätsstiftend für das Land. Die Zustimmung lag Anfang 2023 bei 91 Prozent.»

Viel näher an der Realität ist auch die Erzählung, dass Christoph Blocher nicht nur eine Lehre als Bauer gemacht hätte, sondern tatsächlich auch Bauer geworden wäre und deshalb keine Zeit gehabt hätte, in die SVP einzutreten, bzw. dort aktiv zu werden. An dem Tag, als er gewinnbringend eine Kuh verkauft, tritt die Schweiz 1992 dem EWR bei.

Eine weitere spannende Geschichtsumschreibung ist die Aufgabe des Schweizer Bankkundengeheimnisses bereits im Februar 1936 auf französischen Druck hin. Am Anfang steht eine Razzia in Paris, die tatsächlich stattgefunden hat und als «Pariser Skandal» in die Geschichte einging. Nächste interessante Etappe: wie wäre es weitergegangen, wenn die Schwarzenbach-Überfremdungsinitiative 1970 angenommen worden wäre.

Entlang der historischen Figur Antoinette Quinche entwickelt die NZZ ein realistisches Szenario, was passiert wäre, wenn nicht zuletzt aufgrund ihres Kampfes die Frauen 1931 das Stimmrecht bekommen hätten.

Darin sind so grossartige Trouvaillen wie Auszüge aus einer 136-seitigen Botschaft des Bundesrats zum Frauenstimmrecht aus dem Jahr 1957: «Das Denken der Frau lässt vielleicht hie und da an logischer Konsequenz vermissen … Wenn gesagt wird, die Frau gehöre ins Haus, so ist das sicher richtig. Nicht richtig wäre es aber, daraus zu schliessen, dass das Frauenstimmrecht abgelehnt werden müsse.»

Und schliesslich, auch viel sinnenhafter als ein Sieg bei Marignano, was wäre, wenn die Schweiz beim Wiener Kongress 1815 nicht als Pufferstaat wiederhergestellt worden wäre, sondern der Plan des Freiherr von Stein angenommen worden wäre, die Schweiz auf die Nachbarstaaten aufzuteilen. «Und weil die Kantone wenig verbindet, kommt es danach nie mehr zum Versuch, die alte Eidgenossenschaft wiederzubeleben. Die moderne Schweiz gibt es nie. Der Gotthard bildet heute die Grenze zwischen Deutschland und Italien.»

Die NZZ erinnert dann daran, wie es wirklich war: «1815 wurde in Wien die Grundlage für die moderne Schweiz geschaffen – und zwar hauptsächlich auf Initiative eines griechischen Diplomaten im Auftrag des russischen Zaren. Die Eidgenossen hatten wenig dazu beigetragen.»

Das sind Szenarien, die Spass machen und zum Denken anregen. Kompetent nahe an den wirklichen historischen Ereignissen entlanggeschrieben, wohldokumentiert und erkenntnisfördernd, statt Ideologien, Steckenpferde und persönliche Meinungen der Autoren zu bedienen.

Lustiger Zufall der Geschichte, und erst noch wahr, dass NZZ und Tamedia am gleichen Tag die gleiche Idee veröffentlichen. Was für ein Pech auch für den Konzern an der Werdstrasse, dass seine Mediokrität mal wieder so schmerzlich vorgeführt wird. Aber Redaktoren wie Tobler sind scham- und schmerzfrei, das hat er schon zur Genüge unter Beweis gestellt.

Dem Leser sei aber dieser Direktvergleich ans Herz gelegt, auch wenn er dafür einmal bei einem der beiden Blätter (oder gar bei beiden) einen Obolus entrichten muss. Das lohnt sich schon alleine wegen der Entscheidung, wofür man zukünftig Geld ausgeben will …

 

Kleinintellektueller am Werk

Stephan Israel vergreift sich an Grösserem.

Wenn ein Sesselfurzer aus dem Hause Tamedia sich mit den grossen Dingen beschäftigt, so Liga Krieg und Frieden, dann kann nur Kleingehacktes herauskommen.

Einer der letzten überlebenden Korrespondenten des einstmals dem Journalismus verpflichteten Konzerns hebt an: «Wer ist schon gegen Frieden, wer hätte nicht lieber Verhandlungen als noch mehr Krieg

Genau, selbst die grössten Kriegsgurgeln behaupten, mit ihrer Kriegsrhetorik wollten sie nichts anderes als ein bisschen Frieden. Aber natürlich kommt es darauf an, ob man den gestrengen Israel-Test besteht, also richtig für den Frieden ist.

Da fällt schon mal der «deutsche Grossintellektuelle Jürgen Habermas» durch. Er ist allerdings in guter, schlechter Gesellschaft: «Die Alt-Feministin Alice Schwarzer und die Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht sammeln innert kurzer Zeit eine halbe Million Unterschriften unter ihr «Manifest für den Frieden»

Grossintellektueller, Alt-Feministin, Linkenpolitikerin. Ist dann Bärfuss ein Kleinintellektueller für Israel, Schutzbach eine Jung-Feministin und Silberschmidt ein Rechtenpolitiker?

Wie auch immer, was bewirken denn diese Friedenstauben? «Im Kreml kann sich der mutmassliche Kriegsverbrecherpräsident freuen.» Immerhin quetscht Israel, wohl aus Furcht vor dem langen Arm des FSB, noch ein «mutmasslich» vor den Kriegsverbrecher. Das sind allerdings auch so Lichtgestalten wie Barak Obama (Friedensnobelpreis mit «Kill List») oder Henry Kissinger (Friedensnobelpreisträger mit blutigen Händen).

Was bewirken denn diese Diversanten, wie Israel sie nennen würde, wenn er dieses Wort kennte? «Die Kakofonie in den Talkshows und Feuilletons lenkt davon ab, dass die russischen Streitkräfte gerade eine massive neue Grossoffensive vorbereiten.»

Man stelle sich nur vor, da zupfen Putin-Erfreuer die Friedensschalmei, während der Iwan eine Offensive plant. Statt wie Israel mutig in den Schützengraben zu springen und «Helm auf!» zu rufen. Stattdessen ist er aber leicht verwirrt: «Was die Intellektuellen und Nationalpazifisten genau verhandeln wollen, bleibt ohnehin nebulös.»

Nationalpazifisten? Das ist wenigsten originell, hört sich auch zum Verwechseln ähnlich wie Nationalsozialisten an. Allerdings könnte dem im Nebel stehenden Schwätzer ein Blick ins Manifest für den Frieden helfen. Dort herrscht kein Nebel. Hier wird der höchste Militär der USA zitiert, dass in der Ukraine eine militärische Pattsituation existiere, die nur durch Verhandlungen gelöst werden könne. Dem hätte der Sandkastengeneral Israel wegen Defätismus längst die Schulterklappen abgerissen.

Dann wird überhaupt nicht nebulös geendet:

«Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt! Denn jeder verlorene Tag kostet bis zu 1.000 weitere Menschenleben – und bringt uns einem 3. Weltkrieg näher.»

Aber so weit hat Israel wohl nicht gelesen, weil er schon rot sah. Der «Grossintellektuelle» kriegt dann im Vorbeilaufen auch noch sein Fett ab: «Jürgen Habermas setzt auf einen für beide Seiten «gesichtswahrenden Kompromiss»».  Was für ein Dummkopf, nicht nur Israel weiss doch, dass bei einem Kompromiss immer eine Seite das Gesicht verlieren muss, logo.

Israel ist dafür aber Meister der Geschichtsklitterung, wenn er schreibt, «im Donbass hätte man zudem beobachten können, was ein Frieden für die Bevölkerung unter russischer Besatzung bedeutet, nämlich Deportation, Folter und Vergewaltigungen». Was dort die russischsprachige Bevölkerung zuvor von ukrainischer Seite erleiden musste, Schwamm drüber.

Aber im wilden Geturne und Gekurve mit partieller Wahrnehmung historischer Ereignisse trägt es Israel dann völlig aus der Bahn: «Die Sowjetunion wird da schnell mal mit Russland gleichgesetzt. Dabei geht vergessen, dass unter den Sowjetrepubliken die Ukraine Schauplatz der schlimmsten Kriegsverbrechen von Wehrmacht und Waffen-SS war.»

Dabei geht Israel vergessen, dass im Westen der Ukraine heute noch der Nazi-Kollaborateur und Kriegsverbrecher Bandera mit Denkmälern gefeiert wird, denn wie kaum woanders haben Teile der Bevölkerung die Nazis bei ihren Kriegsverbrechen so sehr unterstützt wie in der Ukraine. Die dann von der Roten Armee in verlustreichen Kämpfen von den Faschisten befreit werden musste, was vielen Ukrainern heute noch unangenehm ist.

Nach diesem wilden Ritt durch Kannitverstan lobhudelt Israel sich selbst: «Es gäbe also für Intellektuelle auch gute Gründe, entschlossen an der Seite der Ukraine zu stehen und zögerliche Regierungen an ihre Beistandspflicht zu erinnern.» Das kann man im Rahmen der Meinungsfreiheit durchaus sagen. Denn man soll niemandem im Weg stehen, wenn er sich öffentlich zum Deppen machen will.

Israel tut das zum Schluss mit Anlauf und Energie: «Wie würden wir heute rückblickend einen Appell renommierter und bekannter Persönlichkeiten im Sommer 1940 an den britischen Premier Winston Churchill bewerten, doch bitte in Verhandlungen mit Adolf Hitler einzutreten

Am 3. September 1939 hatten Frankreich und England dem deutschen Nazi-Reich den Krieg erklärt. Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf Polen. Weder zu diesem Zeitpunkt noch danach wären «Persönlichkeiten» auf die Idee gekommen, Churchill um Verhandlungen mit Hitler zu bitten. Welch absurder Vergleich.

Welch hilfreicher Vergleich. Denn er zeigt überdeutlich den Niveau-Unterschied zwischen einem Habermas, einer Schwarzer, einer Wagenknecht und der halben Million Unterzeichner des Manifests – und Israel.

Wie schreibt er so schön vor diesem Bauchklatscher am Schluss: «Etwas Polemik sei deshalb hier auch erlaubt.» Ganz richtig: was für ein arroganter, ungebildeter, historisch unbewanderter Kriegskläffer, der gerne zusieht, wie noch Hunderttausende von Ukrainern sterben werden. Wenn es nach ihm ginge. Glücklicherweise tut es das aber nicht.

Die überwältigende Mehrzahl hat nicht deswegen Recht, weil es so viele sind. Aber vielleicht könnte Israel etwas zu denken geben, dass die «Nationalpazifisten» etwas mehr Zuspruch erhalten als ein «Gegenmanifest», das bei krümeligen 100+ Unterschriften steht:

War da was?

Dank der Roten Armee gibt es ein freies Europa und die Schweiz. Na und?

Der Hitler-Stalin-Pakt konnte den Beginn des Zweiten Welthriegs nur hinauszögern. Stalin verrechnete sich allerdings, was Hitlers Entschlossenheit betraf, einen Zweitfrontenkrieg zu riskieren und am 22. Juni 1941 mit dem «Unternehmen Barbarossa» den Versuch zu unternehmen, den Bolschewismus zu zerstören.

Obwohl der seine Partei NSDAP genannt hatte, war Hitler ein strammer Antikommunist und sah in dieser Ideologie – neben den Juden – den grössten Feind seiner Allmachtsgelüste. Der Krieg gegen die UdSSR war, entgegen aller anderslautenden Geschichtsumschreibungen, von Anfang an als Vernichtungsfeldzug geplant. Für die Bevölkerung in den eroberten Gebieten waren keinerlei Vorkehrungen fürs längerfristige Überleben getroffen worden.

Sie sollte durch Zwangsarbeit vernichtet werden, um Platz für den deutschen Herrenmenschen zu schaffen. In diese Verbrechen ist auch die deutsche Wehrmacht zutiefst verwickelt, was alle Behauptungen Lügen straft, dass das deutsche Heer halt Befehlen gehorcht und im Übrigen von der Judenvernichtung nichts mitbekommen habe.

Stalin schlug alle Warnungen seiner Spione in den Wind, die sogar, wie Richard Sorge aus Tokio, den genauen Zeitpunkt des Überfalls gemeldet hatten. Das sei gegnerische Propaganda zur Verwirrung von Dummköpfen, befand Stalin.

Das führte zu Beginn des Überfalls zu ungeheuerlichen Verlusten bei der Roten Armee, von der Zivilbevölkerung ganz zu schweigen. In einigen Teilen der UdSSR begrüssten Teile der Bevölkerung zudem die Nazis als Befreier von Stalins Joch, und Antisemitismus samt Pogromen war dort zuvor auch nicht unbekannt.

Widerstand unter ungeheuerlichen Verlusten

Erst vor Moskau, vor Leningrad und vor allem vor Stalingrad gelang es den Sowjets, unter unvorstellbaren Verlusten den deutschen Vormarsch zu stoppen. Was sie bei der Rückeroberung der von deutschen besetzten Gebiete sahen, erklärt das Verhalten sowjetischer Soldaten, als es ihnen gelang die Grenzen des Deutschen Reichs zu überschreiten.

Glücklicherweise war der Gröfaz, der grösste Feldherr* aller Zeiten, ein unfähiger Heerführer. Der Überfall hatte viel zu spät begonnen, bald schon versanken die deutschen Truppen im Herbstschlamm, anschliessend litten sie unter dem strengen russischen Winter, auf den sie nicht vorbereitet waren, da der Gröfaz gehofft hatte, mit der Sowjetunion ähnlich schnell wie mit Frankreich fertigzuwerden.

Es gibt die Generation 90 Prozent in der UdSSR, nur zehn Prozent überlebten als Soldaten den deutschen Überfall. Insgesamt hatte die Sowjetunion rund 10 Millionen Tote in der Armee und 15 Millionen unter der Zivilbevölkerung erlitten. Bis heute gibt es keine russische Familie, die nicht den Verlust eines engen Verwandten durch die Nazis zu beklagen hätte.

Die Feiern zum «Grossen Vaterländischen Krieg», wie ihn Stalin propagandistisch geschickt nannte, sind ein Erinnern an die letzte und unbestreitbare Grosstat der UdSSR. Obwohl sie nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Einflussphäre auf ganz Osteuropa ausdehnte, zur Atommacht wurde, als erste mit der Eroberung des Weltraums begann, fing gleichzeitig ihr unaufhaltsamer Niedergang an.

Der Sieger wird zum Verlierer

Nicht nur die gewaltigen Zerstörungen durch das Wüten der deutschen Barbaren, auch eine untaugliche Wirtschaftspolitik und die kostspielige militärische Aufrüstung leiteten den Zusammenbruch ein; Anfang der 90er-Jahre löste sich die UdSSR auf. Immerhin ohne durch einen Atomkrieg die Welt mit in den Abgrund zu reissen.

Auch wenn heute das Ereignis von Putin propagandistisch benützt wird. der Grund für die Feier sollte jedem Respekt und Hochachtung abnötigen.

Jedem? Die NZZ berichtet in ihrer Printausgabe kein Wort davon. Eine Gedenkfeier auf dem Friedhof Hörnli in Riehen kann nur unter starkem Polizeischutz stattfinden. Der «Tages-Anzeiger» konzentriert sich weiterhin auf die Ukraine. Der «Blick» referiert lediglich Putins Aussagen zum Ukrainekrieg. CH Media titelt: «Putins perverse Parade» – wenn die Alliteration über den Verstand siegt. «watson» wiederum interviewt einen unparteiischen ukrainischen Propaganda-Experten.

Alles in allem: kläglich, schändlich, respektlos und geschichtsvergessen. Also nichts Neues.

*Nach Leserhinweis korrigiert.

Brandbeschleuniger Putin

Schwarzweiss versperrt den Blick auf die wahren Gefahren.

Präsident Putin verfügt über drei gewaltige Keulen. Die erste ist der militärische Angriff auf die Ukraine. Ob sich dieses militärische Abenteuer zum Fiasko auswächst, in Kriegsgreueln versinkt oder mit einem zumindest teilweisen Sieg Russlands endet: Ausgang ungewiss.

Starker Auftritt eines Schwachen.

Die zweite Keule besteht aus der Abhängigkeit Westeuropas von russischem Gas und Erdöl. Putin wird sicherlich nicht untätig zuschauen, wie sich Europa bemüht, diese Abhängigkeit herunterzufahren oder zu beseitigen. Der Versuch, nur mehr Bezahlung in Rubel zu erzwingen, war nur der erste Schlag. Weitere werden folgen.

Die dritte Keule besteht aus dem grössten Atomwaffenarsenal der Welt. Jeder Potentat, jeder Staat weiss: schon der Besitz einiger Atomwaffen katapultiert das Land in eine neue Liga. Hätte Afghanistan Atombomben und Pakistan keine, wäre Pakistan als Brutstätte und Unterstützer des internationalen fundamentalistischen Terrors angegriffen worden. So beschränkte man sich darauf, den von Pakistan beherbergten Fürsten der Finsternis Bin Laden auszuschalten.

Der deutsche Historiker Jörg Baberowski hält in einem sehr lesenswerten NZZ-Interview fest: «Ich frage mich jedoch, ob die Feldherren, die im Lehnstuhl sitzen und kluge Ratschläge erteilen, eigentlich wissen, was eine Flugverbotszone ist und wie man sie sichert, was man sich unter einem Häuserkampf in einer zerstörten Stadt vorstellen muss und was die Entfachung der Leidenschaften bewirkt.»

Der Buchautor («Räume der Gewalt») und Professor für Geschichte Osteuropas ist ein profunder Kenner Russlands und vor allem als Stalin-Forscher anerkannt. Mit seinen nicht immer dem Mainstream entsprechenden Ansichten ist er bereits in diverse Kontroversen geraten.

Analysen statt Verurteilungen

Aber das ist die Bürde des eigenständigen Denkens, das auf Kenntnissen und nicht moralischen Vorurteilen beruht. Seine Prognose für die Zukunft ist alles andere als rosig. Sollte es Putin nicht gelingen, einen vollständigen militärischen Sieg zu erringen oder zumindest die Neutralität der Ukraine plus die Einverleibung grosser Stücke zu erreichen, vermutet Baberowski: «Es ist wahrscheinlich, dass es dann zu einem verlustreichen Zermürbungskrieg kommt, durch den die Ukraine auf Dauer zugrunde gehen und Putin sein Ziel doch noch erreichen könnte, wenngleich unter grossen materiellen und menschlichen Verlusten. Die Brutalisierung des Krieges kommt aus der Schwäche, nicht aus der Stärke, und sie wird an Dynamik gewinnen, je erfolgloser die Versuche der Angreifer und der Verteidiger sind, den Krieg für sich zu entscheiden.»

Butscha, Ukraine. April 2022.

Baberowski glaubt nicht daran, dass sich Präsident Bidens Stossseufzer, dass dieser Mann doch nicht an der Macht bleiben dürfe, erfüllen wird. Dazu sei die Hierarchie in der russischen Machtsphäre zu vertikal ausgerichtet. Zudem sei es wie damals bei Stalin. Der verschätzte sich gröblich und rechnete zu diesem Zeitpunkt nicht mit einem Angriff Hitlers, weil Stalin einen Zweifrontenkrieg für ausgeschlossen hielt.

Daraus entwickelte sich die historische Mär, dass kurzzeitig im Politbüro mit dem Gedanken gespielt wurde, den Diktator nach dem Überfalls Hitlers auszuschalten. Aber die historische Forschung (und die Anwendung von Logik) habe ergeben, sagt der Geschichtswissenschaftler: «Die Gefolgsleute scharten sich in der Stunde der grössten Gefahr um ihren Anführer, weil niemand das Risiko eingehen wollte, das Regime in Gefahr zu bringen. Mit anderen Worten: Krisen arbeiten für den Herrscher, nicht gegen ihn. So ist es wahrscheinlich auch jetzt.»

Was für vorläufige Schlussfolgerungen kann man daraus ziehen?

  1. Es geht nicht nur um die Ukraine. Sondern um uns alle. Um Europa, gar die Welt, und auch die Schweiz natürlich.
  2. Militärische Sandkastenspiele aus dem Sessel heraus sind völlig unsinnig und überflüssig. Interessant ist höchstens, wie Pazifisten und Kriegsgegner ohne zu zögern wieder kriegerisches Vokabular verwenden, inklusive Helden, von «ruhmreichen Abwehrschlachten und vom nationalen Stolz der Verteidiger» reden. «Vor Wochen noch wären Bekenntnisse dieser Art mit Verachtung gestraft worden», beobachtet Baberowski.
  3. Nach der Fehleinschätzung, die Ukraine militärisch schnell besiegen zu können, kann Putin nur noch die Karte «unberechenbar» ausspielen. Seine Armee, sein Geheimdienst, seine Fähigkeit zur richtigen Lageeinschätzung sind desavouiert.
  4. Dass er durch mögliche Greueltaten der Armee zum Outcast wird, gar vor einen Internationalen Gerichtshof gestellt würde, sind Illusionen. Die vielfach gescheiterte Staatsanwältin Carla del Ponte fordert einen Haftbefehl gegen Putin. Ausgerechnet sie, die nie in ihrer ganzen, langen Karriere eine einzige Angeklagte zur Verurteilung führte.
  5. Natürlich wird man mit Putin verhandeln müssen, was denn sonst? Natürlich wird man einige seiner Forderungen erfüllen müssen, was denn sonst? Beschimpfungen, das Wackeln mit dem moralischen Zeigefinger sind zwar schön fürs Publikum, das ist zwar schön für Sympathiepunkte, aber realitätsfern.
  6. Ein militärischer Sieg gegen Russland in der Ukraine ist illusorisch. Ein Putsch gegen Putin ist illusorisch (ganz abgesehen davon: und dann? Kommen russische Pazifisten und Freunde der Demokratie an die Macht?).

Daraus folgt, dass wir im Westen gut daran täten, uns auf Keule zwei und drei vorzubereiten. Weder mit Putin-Beschimpfen, noch mit Putin-Verstehen ist’s getan. Die Entrüstung über Greueltaten ist verständlich, aber nutzlos. Und scheinheilig, denn finden ähnliche Greuel nicht an diversen anderen Orten der Welt statt? Jetzt und heute? Im Jemen, in Äthiopien, auf so vielen Killing Fields. Nein, das relativiert die Ukraine nicht. Macht aber verständlich, wieso an vielen Orten der Welt die westliche, die europäische, die schweizerische Entrüstung über die Invasion der Ukraine nicht wirklich gut ankommt.

Luftangriff auf Sanaa, Januar 2022.

Denn eine Verurteilung von Taten, vor allem, wenn sie dazu noch moralisch aufgeladen ist, muss universell gelten, nicht fokussiert auf ein Gebiet, das gerade die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Weil Kiew 2000 km von Zürich entfernt ist, Bagdad hingegen 4370 km, und Zürich – Sanaa sind 6440 km. Ach, und Kabul ist wieder 6700 km entfernt …

Es darf gelacht werden: Satire, hilf!

Die Welt als Wahnvorstellung. Schwarz auf Weiss ist vorbei. Heute gilt Brilletragen.

Man muss in Szenarien denken. Das ist mindestens so wichtig wie Resilienz zeigen. Oder eine zunehmende Spaltung der Gesellschaft beklagen. Oder sich über Diskriminierung, Ausgrenzung und männerbeherrschte Sprache beschweren.

Aber vor allem sind Szenarien wichtig. Da gibt es zurzeit eigentlich nur eines, in mehreren Varianten.

Aufgehetzt durch abgefeimte Demagogen, die unsere Meinungsfreiheit missbrauchen, formiert sich eine gewaltbereite Gruppe von Staatsfeinden und Regierungsgegnern. Sie sind undemokratisch, unpatriotisch, unschweizerisch.

Perfiderweise benützen aber ihre Einpeitscher Urschweizer Symbole. Dazu gehört die Schweizerfahne, das Edelweiss – und die Treichel. Als sogenannte «Freiheitstrychler» verkleidete Krawallanten marschieren bei wahren Saubannerzügen vorneweg und peitschen die Massen auf. Neuerdings, als müsste das Unschweizerische noch betont werden, sind auch Dudelsackbläser dabei. Als ob der Dudelsack irgend etwas mit der Eidgenossenschaft zu tun hätte.

Dazu erschallen Rufe nach «Freiheit», als ob nicht alle diese Heuchler wüssten, dass das Wort Freiheit in der Geschichte schwer missbraucht wurde und vor ihm nur gewarnt werden kann. Die Jahrhundertverbrecher Adolf Hitler und Josef Stalin verwendeten es nämlich auch, und wo das hinführte, weiss man ja.

Denn diese Rufer wollen gar keine Freiheit, im Gegenteil sie wollen etwas Totalitäres. Sie akzeptieren nur ihre eigene Meinung und halten alle anderen für bescheuert, für Covidioten, für folgsame Lämmer, für Schafe, die nichts dagegen haben, sich scheren, bzw. impfen zu lassen.

Es ist in Wirklichkeit noch viel schlimmer

Aber eigentlich ist’s noch schlimmer. Treicheln, Rufe nach Freiheit, dann wird aber auch noch der Name «Ueli» skandiert. Sollte dieser Ueli der neue Führer sein, wird bald einmal «heil Ueli» gerufen werden? Oder «Moll Maurer»? Wird dieser Ueli den ersten Schweizer Reichsparteitag einberufen? Stimmen die Gerüchte, dass ein Grashalm das Symbol dieser Bewegung sein soll?

Ist gar zu befürchten, dass im totalitären System der Ueli-Anhänger bald einmal die ersten Umerziehungslager, Gulags, in der Schweiz eingerichtet werden?

Wie könnte es dazu kommen? Die ersten Versuche wurden ja schon gemacht. Verwunderlich, dass niemandem von den Kommentatoren, die weit in die Geschichte und die grossen Verbrechen zurückgriffen, die Parallelen zum Bürgerbräu-Putsch auffiel. 1923, also vor fast hundert Jahren, marschierten da auch aufgeputschte Bürger zur Münchner Feldherrenhalle; ihr Ziel war der Sturz der deutschen Reichsregierung und die Errichtung einer Diktatur à la Mussolini.

Das scheiterte zwar, aber es sollte doch als Menetekel dienen. Denn war es nicht so, dass auch in Bern aufgeputschte Massen zum Bundeshaus zogen? War es nicht so, dass der «Sturm aufs Bundeshaus» nur in höchster Not verhindert werden konnte? War es nicht so, dass bereits einige Schrauben der Absperrgitter gelockert waren, die ersten Umstürzler bereits damit begannen, am Zaun zu rütteln oder ihn gar mit Fusstritten zu malträtieren? Wäre nicht rechtzeitig ein Wasserwerfer aufgetankt und Tränengas bereitgestellt worden, wo hätte das geendet? Wie im US-Kapitol?

Es ist noch schlimmer als 1918

Immer wieder wird da und dort in den seichten Untiefen des Internets zu Widerstand, gar zu Kampf, zur Entscheidungsschlacht aufgerufen. Da muss man sich schon fragen: Wieso wurde noch nicht der Notstand erklärt? Was ist mit einer Generalmobilmachung? Erinnert sich niemand mehr an den Generalstreik von 1918 in der Schweiz?

Dabei ist es diesmal womöglich noch schlimmer. Denn ein Feind sitzt sogar im Bundesrat selbst. In unserer Landesregierung. Und was machen seine Kollegen? Diese Frage muss man in aller Deutlichkeit stellen. Gut, der Gesundheitsminister ist mit anderen Dingen ausgelastet. Covid, Kultur, Kulturförderung, vierhändig Klavierspielen, da bleibt nicht viel Zeit für anderes.

Aber was ist mit der Verteidigungsministerin? War es wirklich eine gute Idee, dieses Amt einer Frau anzuvertrauen? Fehlt es ihr vielleicht an der nötigen Härte, um Zündler und Zeusler Ueli in die Schranken zu weisen, in den Senkel zu stellen, ihn zu warnen, dass er den Frieden im Land gefährde?

Eine Krise in der Krise

So ist es immer, wenn sowieso schon Krise herrscht. Eine unvorhersehbare Krise sogar. Denn wissen wir, wie es mit der Pandemie weitergeht? Kommt die vierte Welle, wie die einen behaupten, oder sind wir über den Berg, wie andere sagen? Sind die Intensivstationen an ihrer Leistungsgrenze oder nicht? Bricht das Gesundheitssystem demnächst zusammen, werden sich Leichen vor den Spitaleingängen stapeln, wird es zu herzerreissenden Szenen in Spitälern kommen, wo überforderte Ärzte Triage machen müssen, also entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss?

Kann man noch guten Gewissens sich nicht freiwillig impfen lassen?

Alle diese Fragen wälzen doch die Medien ständig vor sich hin und her. Warnen unablässig, vergleichen, kritisieren, beschuldigen, beklagen ein gewaltbereites Klima, einen Zerfall der öffentlichen Debattenkultur. Und das alles und ausschliesslich wegen Treichlern, Hetzern, Freiheit-Rufern und eben dem Ueli.

Wann nur, wann wird endlich gefordert, dass mit aller Härte, mit allen Mitteln, ohne falsche Rücksichten durchgegriffen wird? Remedur geschaffen, aufgeräumt, in den Senkel gestellt. Das ist doch überfällig.

 

Ein Chefredaktor sieht rot

Oder braun-rot. Gieri Cavelty, gebeutelter Chef des SoBli (Lachappelle) rempelt Bundesrat Maurer an. Gibt’s diesmal die rote Karte?

Die Höchststrafe hat Cavelty eigentlich schon kassiert. Am Sonntag beschwerte sich der SoBli lautstark über angeblich unanständiges Verhalten des damaligen VR-Präsidenten von Raiffeisen.

Am Montag durfte er – mitsamt der feixenden Öffentlichkeit – im «Blick» eine Entschuldigung des Ringier-Verlags dafür lesen mit der Ankündigung, dass dieser Artikel restlos aus allen Archiven gespült sei und man so etwas nie mehr tun wolle.

Zur allgemeinen Verwunderung blieb Cavelty auf seinem Sessel sitzen. Aber vielleicht reicht es diesmal für einen Abflug. Denn er will sich mit der Generallinie seines Hauses gut stellen und gleichzeitig kräftig nachtreten: «Die Bewegung der Impfgegner zeigt totalitäre Züge», behauptet er in seinem aktuellen Editorial.

Dafür nimmt er den ganz groben Hammer hervor. Denn die «radikalen Impfgegner» missbrauchten einen Begriff, dem wie keinem anderen in «den letzten 200 Jahren derart viel Gewalt widerfahren» sei: der Begriff «Freiheit». In den Beispielen greift er weit in die Geschichte zurück und ganz tief nach unten. So habe die NSDAP 1935 den «Parteitag der Freiheit» gefeiert. Dabei seien hier die Nürnberger Rassegesetze verkündet und die deutschen Juden ihrer bürgerlichen Freiheiten beraubt worden.

Fast noch schlimmer: «Der sowjetische Diktator Josef Stalin beschwor in seinen Reden die «Freiheit der Arbeiter und Bauern»», donnert Cavelty.

Bei den Nazis war allerdings die «Befreiung» von den Bestimmungen des Versailler Vertrags gemeint, und dass der sowjetische Diktator auch nur einmal von deren Freiheit gesprochen haben soll, dafür gibt es keinen Beleg.

Reichsparteitag der Impfgegner?

Offensichtlich beschlich dann Cavelty selbst leiser Zweifel, ob das statthaft sei: «Aber ist es nicht mehr als übertrieben, die paar Tausend radikalen Impfgegner in einem Atemzug mit den finstersten Gestalten der Geschichte zu nennen?»

Nun, die Jahrhundertverbrecher sollen nur illustrieren, dass jemand, der das Wort Freiheit verwende, «noch lange nicht ihr Fürsprecher» sei. Dafür hätte es wohl nicht den demagogischen Zusammenhang mit Hitler-Faschismus und Stalin-Diktatur gebraucht, aber item. Er sei halt erlaubt: «Doch gerade im Hinblick auf ihr Handeln darf sich man bei den radikalen Impfgegnern nichts vormachen. Die Bewegung zeigt erschreckend aggressive und totalitäre Tendenzen.» Solchen Ansprüchen der deutschen Syntax beugt sich Cavelty allerdings nicht.

Gab’s denn schon einen Reichsparteitag der Impfgegner, machen sie Anstalten, Millionen von Menschen zu liquidieren, wie das Stalin tat? Noch nicht, aber das kann vielleicht noch werden, denn: «In den Vorzimmern mancher Bundesräte stapeln sich Drohbriefe, praktisch täglich erhalten sie einschüchternde Anrufe und E-Mails.»

Es gibt auch in der Schweiz immer einen Bodensatz von Verwirrten und Amoks, die ihren Frust ablassen, indem sie anonyme Beschimpfungen oder Drohungen ausstossen. Widerwärtig, aber nichts Neues. Mindestens so widerwärtig ist es, das alleine den Kritikern der Massnahmen zur Pandemiebekämpfung in die Schuhe zu schieben.

Natürlich gibt es auch unter ihnen Verwirrte und Verblendete. Aber die Gewerkschaften und die SP haben es sich zu recht verbeten, dass man ihnen die Taten des Schwarzen Blocks in die Schuhe geschoben hätte, der jeweils nach den 1.-Mai-Demos Saubannerzüge durch Zürich mit beeindruckendem Sachschaden durchführte.

Hemmungslose Anbiederung der SVP

Aber damit bereitet Cavelty nur seinen eigentlichen Schlag vor:

«Hinzu kommt, dass sich die grösste Partei des Landes der Bewegung hemmungslos anbiedert.»

Wie äussert sich diese Hemmungslosigkeit? Bundesrat Maurer schlüpfte doch tatsächlich in ein T-Shirt der «Freiheitstrychler», «einer jener Organisationen, die bei den Demonstrationen der radikalen Impfgegner den Ton angeben», weiss Cavelty. Diese Bezeichnung würden sich wohl 99 Prozent aller Teilnehmer an solchen Manifestationen verbitten, aber auch damit ist Cavelty nur unterwegs zu seinem vermeintlichen Blattschuss.

Denn Maurer hielt auch noch eine Rede, die Cavelty so zusammenfasst: Die Menschen müssten sich «wehren gegen den Mainstream und gegen die Moral», sagte Maurer.

Er verbreitete bei dieser Gelegenheit gleich noch den Unsinn, die Covid-Impfung mache Frauen unfruchtbar.

Mit derlei Darbietungen bestätigt dieser Meister der Doppelzüngigkeit die radikalen Impfgegner in ihrer Haltung und er befeuert sie in ihrem Tun.»

Damit nähert sich Cavelty dem Schluss, dem Höhepunkt und der Climax seines Kommentars. Der verdient es, vollumfänglich zitiert zu werden:

«Unser Rechtsstaat gibt jedermann die Freiheit, Unfug zu erzählen und insbesondere dem Wort Freiheit noch mehr Gewalt anzutun. Ebenso aber gehört es in einem funktionierenden Rechtsstaat zur Aufgabe der Medien, den totalitären Charakter einer Bewegung zu benennen – sowie die Gefahren, die davon ausgehen. Nicht weniger deutlich müssen die Medien darauf hinweisen, dass Politiker wie Ueli Maurer unmittelbar die Verantwortung dafür tragen, wenn das Misstrauen gegenüber unseren Institutionen stärker wird.»

Das nennt man allerdings einen klassischen Schuss ins eigene Knie und in den Fuss zugleich. Cavelty will Bundesrat Maurer unterstellen, der trage die Verantwortung für zunehmendes Misstrauen in Institutionen. Währenddessen es die Aufgabe der Medien sei, aufrecht vor Gefahren zu warnen.

Schön gegeben, nur leider falsch …

Dieses schöne Selbstbildnis hat leider nur zwei Fehler. Denn von dieser Rede, blöd gelaufen für Cavelty, gibt es eine Aufzeichnung. Aus der geht eindeutig hervor, wie jedermann nachprüfen kann, dass Maurer einen solchen Unsinn NICHT gesagt oder verbreitet hat (ab Minute 11.25).

Alleine das ist schon hochnotpeinlich. Aufgrund von Drohungen von ein paar Verwirrten auf den totalitären Charakter «einer Bewegung» zu verweisen und sie mit Hitler oder Stalin zu vergleichen, ist geradezu widerwärtig. Einem Bundesrat etwas in den Mund zu legen, das er nicht gesagt hat, ist für einen Chefredaktor unverzeihlich. In einem ähnlichen Fall musste schon der damalige Chef der «SonntagsZeitung» den Hut nehmen, obwohl er selbst gar kein Falschzitat verwendet hatte. Aber einer seiner Redaktoren.

Schliesslich muss man Cavelty darauf hinweisen, dass solche demagogischen Falschbehauptungen das Misstrauen in die Medien ganz deutlich steigern. Um eine weitere Erosion des sowieso schon angeschlagenen Images zu vermeiden, kann es nur eine Konsequenz geben.

Untauglicher Verteidigungsversuch des Mediensprechers

Cavelty lies den «Mediensprecher der Blick-Gruppe» an seiner Statt antworten. Maurer berichte «von einer Zusammenkunft mit fünf jungen Frauen, die ihm von ihrer Angst erzählen, aufgrund der Impfung «keine Kinder bekommen» zu können. Er widerspricht diesen Bedenken nicht und stellt nichts klar, sondern verweist vielmehr darauf, dass es sich um «gescheite, gut ausgebildete Frauen» handelt.» Wie steht es um den Respekt vor dem Konjunktiv eins? Statt seinen Respekt für alle, die sich impfen lassen, und für alle, die das nicht tun, auszudrücken, hätte der Bundesrat widersprechen sollen?

«So unterstreicht er die vermeintliche Glaubwürdigkeit ihrer Aussage und verbreitet so das von Impfskeptikern in die Welt gesetzte Gerücht, dass eine Impfung Frauen unfruchtbar mache.» Zum Mitschreiben: Maurer referierte eine Begegnung und betonte das Bildungsniveau der Frauen. Er verbreitet damit weder ein Gerücht, noch unterstreicht er die Glaubwürdigkeit einer Aussage. Er referiert als Anekdote diese Begegnung. Wie viele Ringier-Journis braucht es, um diesen Unterschied zu verstehen?

Wie kann nur ein zurechnungsfähiger Fachmann einen solchen Unsinn erzählen: «Es gibt bisher wenige Daten bei jungen Frauen, weil die meisten Frauen nicht so schwer erkranken. Die Studie aus Wuhan zeigt jedoch, dass bei den Frauen mit ganz schweren Infektionsverläufen eine spätere Einschränkung der ovariellen Reserve vorliegt.» Wer verbreitet denn da solche Gerüchte? Hoppla, das tut die von SRF interviewte Abteilungsleiterin für Jugendgynäkologie des Unispitals Zürich. Eine Fachärztin! Am Unispital! Unterstreicht mit dem Wort «Studie» noch die vermeintliche Glaubwürdigkeit dieser Aussage! Ein Fall für Cavelty!

«Zu einer Richtigstellung sehen wir keinen Anlass», fügt his master’s voice noch hinzu. Immerhin: damit bringt er das ganze Elend der «Blick»-Gruppe auf den Punkt.