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Es war einmal …

Adventszeit, besinnliche Zeit. Gedenken an früher.

Es ist schon so lange her, dass es fast nicht mehr wahr ist. Als im deutschen Sprachraum Giganten wie Kurt Tucholsky, Joseph Roth, Karl Kraus, Carl von Ossietzky oder Egon Erwin Kisch schrieben.

Von Ossietzky als KZ-Häftling, bevor er zu Tode gequält wurde.

Für Nachgeborene: googeln hilft. Zu diesen Zeiten legten Grössen wie Upton Sinclair oder Lincoln Steffens in den USA neue Massstäbe des literarischen Investigativjournalismus vor.

Sah harmlos aus, war aber brandgefährlich für die Herrschenden: Steffens.

Dem einen oder anderen Redaktor ist vielleicht Truman Capotes «Kaltblütig» bekannt. Weil er’s nicht gelesen hat (oder vielleicht nur die grossartige Verfilmung sah): beeindruckend langweilig geschrieben.

Tom Wolfe war da schon ein anderes Kaliber. «Fegefeuer der Eitelkeiten» oder «Back to Blood» waren herausragende Faction, also eine Mischung aus Fiktion und Fakten.

Alle tot; lebt noch einer? Ja, ein einziger: Gay Talese. Der ist allerdings schon fast 90. Und der Meister der Langzeitreportage. Wobei Langzeit zum Beispiel sechs Jahre bedeuten kann.

Haben alle diese Grössen ein Geheimnis, zumindest etwas Gemeinsames? Aber ja.

Was ist ihr Geheimnis?

Zunächst: sie lebten in Zeiten, in denen Journalismus noch so honoriert wurde, dass man davon leben konnte, sich auch Zeit nehmen. Und hingehen.

Die wichtigste Eigenschaft ist aber: sie haben ihr Thema durchdrungen. Verstanden und verdichtet. Ihre Schriftwerke strahlten immer aus: das ist nur der Kern, drum herum habe ich recherchiert und mich informiert und mich schlau gemacht. Aber das habe ich dann weggeschnitten.

Die zweitwichtigste: sie konnten schreiben. Nicht holpern. Sondern elegant, souverän, stilistisch auf Niveau, mit gelungenen Anspielungen, scharf geschnittenen Metaphern und Beschreibungen, die Atmosphäre, Raum und handelnde Figuren lebendig werden liessen.

Aber heute? In der Schweiz? Wie heisst es so schön: Wenn die Sonne der Kultur tief steht, werfen auch Zwerge lange Schatten.

Journalismus. Deutsch. Gut.

Ich habe mir «Die Zeit» gekauft. Hätte ich nicht tun sollen.

Was für ein Format. 56,5 auf 39,5 cm. Aufgeklappt gar 79 cm breit. Keine Lektüre in der S-Bahn zur Stosszeit. Aber der Inhalt entspricht dem Format: übergross.

Vielleicht ist die Ausgabe vom 2. September 2021 ein absoluter Höhepunkt des Schaffens der «Zeit»-Redaktion. Auf jeden Fall sind das bestens investierte Fr. 8.50. Wenn man bedenkt, dass für nicht viel weniger Geld beispielsweise die Schweizer Samstags- und Sonntagszeitungen den Leser mit ihrem Flachsinn belästigen, wird’s einem ganz anders.

Schon die beiden Frontkommentare zu möglichen Bündnissen nach den deutschen Parlamentswahlen (was für ein schlanker Titel: «Nein», zu einer Koalition mit den Linken): reines Lesevergnügen. Der zweite ist ein Essay zum Thema «Dummes Geld». Zum Problem, dass immer mehr Firmen als Grossaktionäre Fonds haben, die keinerlei Einfluss auf die Geschäftspolitik nehmen wollen – und können.

Oder wie das der Autor auf den Punkt bringt: «70 gegen 13’000.» An so viel Unternehmen ist der weltgrösste Fondsanbieter BlackRock beteiligt; überwacht wird das von 70 Mitarbeitern.

Es gibt noch etwas zu Afghanistan zu sagen

Dann zwei Seiten zu Afghanistan; wer meinte, hier sei nun wirklich alles gesagt worden, wird eines Besseren, Intelligenteren belehrt. Die nötigen Kontakte zu den Taliban im Zusammenhang mit fundamentalistischem Terrorismus werden ausgeleuchtet. Die interessante Frage beantwortet, wieso Frankreich für ein Mal nicht am «Debakel» in Afghanistan bis zum Schluss beteiligt war. Sondern schon vor Monaten damit begann, eigene Kräfte und afghanische Helfer auszufliegen.

Wofür die Regierung dann von NGOs kritisiert wurde. Die Vorhersagen von einer nahenden Katastrophe seien «ohne Zweifel überzogen», die Gefahr «nicht akut», schimpfte noch am 17. Mai die NGO «Afrane». Der rechtzeitige Rückzug sei «das falsche Signal», die Bevölkerung könne den Eindruck gewinnen, Frankreich gebe das Land auf. So kann man sich täuschen.

Dann eine Seite intelligente Abhandlung der Frage, ob der Westen in Afghanistan wirklich «gescheitert» ist, ob der Abzug nicht auch eine Chance biete, von der «wir können militärisch überall eingreifen und die Demokratie herbeischiessen»-Haltung abzurücken. Nebenbei ist der Essay illustriert mit dem wohl bedrückendsten Foto des Abzugs. Die US-Soldatin Nicole Gee hält ein afghanisches Kind in den Armen und betrachtet es mit so freundlicher Zuneigung, im Widerspruch zu ihrer Kriegsausrüstung. Wenige Tage später stirbt sie beim Terroranschlag am Kabuler Flughafen.

Zwei mal Nicole Gee: Wenn Humanes auf Brutales trifft.

Dann folgen zwei Seiten Artikel zu den Grünen und der CDU. Basierend auf langjährigen Kenntnissen, Wahlkampfbegleitung, fundierter Beschreibung; Analyse statt Meinung. Wenn man vor allem Schweizer Gazetten liest, hält man so etwas gar nicht mehr für möglich. «Historisch wird handlich, und die Klimakrise schrumpft zum technischen Projekt.» Präziser hat kaum jemand das Problem der grünen Kanzlerkandidaten auf den Punkt gebracht.

Und unter all den Verabschiedungen von Angela Merkel ragt «Die Methode Merkel» auch wie ein intellektueller Leuchtturm heraus.

Wer die Probleme Polens mit dem Rechtsstaat und einer unabhängigen oder parteitreuen Justiz verstehen will, muss die Reportage «Nahkampf um den Rechtsstaat» lesen. Weil es noch eine Reportage von vor Ort ist, und weil Kenntnis und Wissen dahinterstecken.

Überragend dann die Aufmacherstory des «Dossier» der «Zeit»

All das verblasst aber gegen den Inhalt des «Dossier». Ein ehemaliger US-Folterknecht von Guantánamo wird mit seinem damaligen Opfer zusammengebracht. Dahinter steckt eine jahrelange Reportage. Die Initialzündung war der Wunsch des ehemaligen Gefangenen Mohamedou Slahi, seinen damaligen Peiniger kennenzulernen – um ihm zu vergeben.

«Die Zeit» spürte diesen Mr. X auf – bis heute ein gebrochener Mann, der nicht verwinden kann, was er als gehorsamer Soldat im Dienst seiner Regierung tat. Er ist heute noch überzeugt, dass sein damaliger Gefangener ein manipulativer Terrorist ist, dem er dennoch Unrecht angetan hat.

Opfer (links) und Täter. Oder Sieger und Verlierer?

Die beiden Schicksale, die Suche nach der Wahrheit, nach Wahrheiten, das sind journalistische Sternstunden auf drei Seiten. Da verschmerzt man leicht, dass im anschliessenden «Schweiz»-Split zwei Klimaforscher interviewt werden.

Im Feuilleton wird die Eröffnung eines Museums in seiner Geburtsstadt Rimini zum Anlass genommen, des gigantischen italienischen Filmemachers Frederico Fellini zu gedenken. Wie das nur ein Autor tun kann, der dessen Werk auswendig kennt, von «Amacord» zu «La Strada» springen kann, natürlich «La Dolce Vita», dabei so vieles weglassen muss im filmischen Schaffen dieses Ausnahmegenies, das wie wohl kein anderer die italienische Seele und ihre Entwicklungen, Verwicklungen verstanden und auf die Leinwand gebracht hat.

Auch wenn man selbst Fellini-Fan ist, bietet der Artikel Neues und Interessantes. Dann noch ein Interview mit Slavoj Zizek. Das ist nun meistens ein Selbstläufer, aber man muss auch beharrlich intelligente Fragen stellen, um den eher mürrischen Geist zu Hochformen auflaufen zu lassen.

Auch darüber, dass man sich bei Veränderungen an eigenen Texten nicht so anstellen soll, denn die sollten «eine solide Grundlage haben» die Eingriffe überlebt. Schlagfertige Frage am Schluss: «Gilt das auch für dieses Interview?» Schlagfertige Antwort:

«Ja, drucken Sie, was Sie wollen. Mir egal, ich will das auf keinen Fall vorher noch mal sehen!»

Es gäbe noch so vieles zu erwähnen

Dabei haben wir den Wirtschafts– und Wissensbund noch gar nicht erwähnt, auch nicht das Special «Entdecken», ein wunderbares Gefäss, dazu noch das «Magazin», neben dem seine schmalbrüstigen Schweizer Namensvetter eigentlich aus Anstand Selbstmord begehen sollten.

Kann man meckern? Aber immer. Die Lektüre hat den halben Arbeitstag kaputt gemacht. Denn statt Nötiges, aber Unwichtigeres zu tun, legte man sich einfach mit der «Zeit» in die Sonne und wurde von ihr erleuchtet, zumindest erhellt. Sicherlich bereichert.

Aber eben, welch schmerzliche Rückkehr in die Niederungen des eidgenössischen Schaffens. Man sollte sich die Lektüre solcher Blätter (auf Englisch gibt es auch noch ein paar) nur in homöopathischen Dosen gestatten. Sonst wird man Opfer einer typisch deutschen Krankheit, die all die nicht befällt, die eher selten von des Gedanken Blässe angekränkelt werden: Weltschmerz.