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Gaga-Geschichte

«NZZ Geschichte» macht Geschichten. Oder eher Geschichte platt.

Wenn gleich die Redaktionsleiterin höchstpersönlich ans Gerät geht, dann kann es nicht um Kleinklein gehen. Sondern es ist gleich die «grosse Geschichte des Antiamerikanismus».

Dafür ist Claudia Mäder fast überqualifiziert: «Studium der Allgemeinen Geschichte und Germanistik an der Universität Zürich, Promotion mit einer Arbeit zu französischer Ideengeschichte. Wissenschaftliche Mitarbeiterin in verschiedenen Quelleneditionen, erste journalistische Erfahrungen durch Praktika («Der Landbote») und Volontariate («Schweizer Monat», «Literarischer Monat»). Von 2015-2017 bei der «NZZ am Sonntag» für «Bücher am Sonntag» zuständig

Also fachlich eher weniger, aber das kompensiert sie wie viele Zunftgenossen mit Selbstbewusstsein, nach der Devise: ich habe zwar keine grosse Ahnung, aber eine Meinung, ausserdem bin ich Journalist, ich darf das.

Allerdings gebricht es ihr doch ein wenig an wissenschaftlicher Herangehensweise an ein grosses Thema. Dazu würde gehören, vielleicht mal den etwas schwammigen Begriff «Antiamerikanismus» zu definieren. Müsste sie nicht mal selbst tun; Christopher Hitchens hat das ziemlich gut erledigt: «Jemand ist anti-amerikanisch, wenn er oder sie andauernd Verachtung für die amerikanische Kultur zeigt und darüber hinaus jeden Gegner der US-Politik unterstützt, wer immer es auch sein mag.»

Ist der Begriff denn auch brauchbar? Zitieren wir dazu Wikipedia: «Nach dem Historiker Darius Harwardt eignet sich der Begriff zwar zur Darstellung wissenschaftlicher Ergebnisse, nicht jedoch als analytische Kategorie, da er die Perspektive bereits durch die Vorauswahl einenge. So werde eine Analyse von Antiamerikanismus weder in komparativer Hinsicht weitere ablehnende Haltungen berücksichtigen, noch die Befunde mit positiven Stereotypen gegenüber den USA gewichten, um zu einer differenzierten Aussage zu gelangen.»

Das alles ist Mäder aber zu kompliziert, sie hat’s mehr mit dem Anekdotischen. Und fängt mit der Beschreibung der Überreste eines Elchs an, denn Thomas Jefferson aus den USA 1787 dem französischen Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon schickte.

Sicherlich amüsant als Einstieg. Nur hätte etwas Einbettung vielleicht nicht geschadet. Aber wenn Mäder hätte darauf hinweisen müssen, dass 1787 die US-amerikanische Unabhängigkeitserklärung mitsamt Erklärung der allgemeinen Menschenrechte bereits 11 Jahre zurücklag, die Französische Revolution aber erst in zwei Jahren stattfinden würde, dann wäre der Elchtest als das demaskiert worden, was er ist: nichts mehr als ein putziger Einstieg, um Mäders merkwürdige These zu untermauern: «den abwertenden Blick auf Amerika aber haben die Europäer seit Buffons Tagen nie mehr verloren. Der Zoologe schrieb gewissermassen das erste Kapitel einer langen Geschichte: jener des antiamerikanischen Denkens.»

Abwertender Blick? Der Blick war so abwertend, dass zwei Jahre nach diesem Elch die französischen Revolutionäre unter Berufung auf die USA und Jefferson in ihrem Land die Monarchie stürzten und ebenfalls eine allgemeine Erklärung der Menschenrechte verfassten. In enger Anlehnung an das US-Vorbild.

Aber das wäre Mäder etwas zu komplex, also hopst sie vom Elch gleich in die Gegenwart: «Antiamerikanismus scheint heute überall zu sein. In Putins Russland ist der Hass auf die USA quasi Staatsräson, in islamistischen Kreisen verkörpert Amerika das radikal Böse, und in Westeuropa staunt man darüber, dass sich die beiden Pole des politischen Spektrums in der Amerikaverachtung treffen: Vertreter der äussersten Linken haben für die «imperialistischen» USA genauso wenig übrig wie Rechtsnationale, die die amerikanische «Gleichmacherei» verdammen.»

Dann geht’s holterdipolter wieder  zurück ins 19. Jahrhundert. In wildem Ritt von diesem zu jenem; Geschichte als Achterbahnfahrt, als Geisterbahnfahrt, wo an der Wegstrecke immer wieder kurz ein Gespenst auftaucht, «hu, hu» sagt – und wieder verschwindet.

Natürlich muss Mäder das Ganze irgendwie auf dem Gleis behalten, also streut sie gelegentlich Abstraktionen ein: «Mit Kulturlosigkeit und Geldgier waren bald die zwei wichtigsten antiamerikanischen Stereotype gefestigt.»

Mäder arbeitet nicht mit Stereotypen, aber mit Auslassungen: «die Vertreter des Antiamerikanismus haderten stets auch mit der Tatsache, dass die USA, ihr «lifestyle» und ihre Produkte, vielen Leuten gefielen. Deutlich zeigte sich das in den 1920er Jahren. In Film, Musik oder Mode faszinierte alles Amerikanische die Menschen, und auch in der Wirtschaft orientierte sich die Avantgarde an den Vereinigten Staaten.» Vielleicht hätte hier der Kontext dazugehört, dass West-Europa nach dem Zivilisationsbruch Erster Weltkrieg und seinen verheerenden Zerstörungen materieller und ideeller Art, dem beginnenden Niedergang der Grossmacht England zu den USA als Heilsbringer und Bollwerk gegen den Kommunismus aufschaute.

Aber eben, Komplexität ist Mäders Sache nicht.

Dafür weiter im wilden Ritt. Internationales Finanzkapital, in vielen Texten «des frühen 20. Jahrhunderts überlappten sich denn auch antiamerikanische und antisemitische Mo­tive». Vom frühen 20. Jahrhundert zum Kalten Krieg nach dem Zweiten Weltkrieg: «Bis 1989 waren es die Kommunisten, die sich von Moskau über Pjongjang bis Ostberlin an den USA abarbeiteten. Zentral war dabei die Gleichsetzung mit dem «Bösen»».

Nun ja, da gab es auch so Kleinigkeiten wie den brutalen und  demaskierenden Vietnamkrieg, einen Präsidenten namens Nixon, die Säuberung des US-Hinterhofs Lateinamerika von jeglicher vermeintlicher kommunistischer Bedrohung, die Unterstützung aller blutrünstigen Diktaturen der Welt, solange sie pro-amerikanisch waren.

Auch hier hat Mäder eine Trouvaille ausgegraben: «In der DDR etwa wurde behauptet, dass die Amerikaner Kartoffelkäfer über dem Land abwürfen, um Ernten zu vernichten und die Bevölkerung auszuhungern.» Wenn man zu faul ist, das nachzuprüfen: im Fall Kubas ist es dokumentiert und erwiesen.

Nun geht’s schon holterdipolter in den Schlussspurt, denn ein Schreckgespenst in der Geisterbahn fehlt ja noch: «Die Amerikaner als geistlose Bösewichte, die alles plattmachen wollen: In dieser Form nistete sich der Antiamerikanismus auch in der muslimischen Welt ein.» Dass die USA im Iran einen liberalen Demokraten stürzten, um den brutalen Schah an die Macht zu bringen, der den Zugriff auf Öl garantierte, Komplexität ist Mäders Sache, aber das sagten wir schon.

Geht noch einer drüber? Da kann es nur einen geben: «Ein solcher Kulturverlust, meinen heute Amerikafeinde wie Wladimir Putin, könnte ans Lebendige gehen. Wenn alle ihre Traditionen aufgäben und den amerikanischen Unsitten folgten, hätte das nämlich verheerende Konsequenzen: «Gender-Ideologie», «Homosexuellen-Propaganda» und ähnliche «Perversionen», die von den USA ausgehend schon ganz Europa befielen, drohen laut Putin zur «Entartung» und zum «Aussterben» zu führen.»

Daraus schliesst Mäder messerscharf, was sie schon am Anfang als These hatte: «Doch anstatt langsam abzuserbeln, haben sich Amerika und die Amerikaner quicklebendig entwickelt. Der Antiamerikanismus dagegen ist seit den frühesten Tiraden im 18. Jahrhundert gedanklich kaum weitergekommen.»

Wer den aktuellen Wahlkampf um die Präsidentschaft in den USA als quicklebendige Weiterentwicklung sieht, sollte mindestens zum Augenarzt. Wer Antiamerikanismus platt auf irgendwelche Tiraden reduziert, hat die geistige Flughöhe einer Stubenfliege.

Aber Mäder, eigentlich studierte Historikerin, macht den schlimmsten aller Anfängerfehler. Sie hat eine These, geht mit der in die Geschichte, sucht und findet dort irgendwelche Bruchstücke und angebliche Belege dafür – und taucht triumphierend wieder auf: seht her, was ich in der Geschichte gefunden habe.

Allerdings ist es bloss das, was sie vorher hineintrug. Mehr als Anekdoten über Elchknochen bleiben da nicht übrig, bei genauerer Betrachtung.

Richtig ärmlich wird’s, weil Mäder Antiamerikanismus nur als etwas Negatives, Dummes, Unverständliches sieht. Das seien eben die ewiggleichen Tiraden seit dem 18. Jahrhundert. Ahistorischer und platter kann man Geschichte nicht plattmachen.

 

Somm salbadert

Was geht ZACKBUM sein dummes Geschwätz von gestern an.

Das war auch ein Lieblingssatz von Lenin. Da Markus Somm in seinem Amoklauf gegen Lenin («Massenmörder, gehört zu den grössten Verbrechern der Geschichte») und Russland («Moskau bombardieren») nochmals nachlegt, wollen wir uns wohl oder übel – eher übel – nochmals mit ihm beschäftigen.

Somm lässt sich jeweils für «Somms Memo» ein paar Zahlen zusammensuchen, die er dann meistens recht zusammenhangslos auf den ahnungslosen Leser niederprasseln lässt. Also auf die paar Leser, die er hat. Leider können wir wohl nicht mit seiner Dankbarkeit rechnen, dass wir ihm hier eine viel grössere Plattform verschaffen.

In seinem neusten Memo arbeitet er sich nochmals am russischen Revolutionsführer Lenin ab. Dabei zeichnet er dessen Herkunft nach und wundert sich, wieso jemand, der in gutbürgerlichen Verhältnissen aufwuchs, zum Revolutionär werden konnte. Lustig, Somm ist doch auch der Sohn eines ehemals hohen Tiers bei ABB und wurde dann Trotzkist und Armeeabschaffer. Für mehr hat’s bei ihm allerdings nicht gereicht. Ausser, dass er sich wie jeder Renegat noch heute an seiner eigenen Biographie abarbeiten muss. Denn wer weiss, vielleicht hing in seiner Studentenklause neben einem Porträt von Trotzki auch der Dreikopf Marx, Engels, Lenin.

Aber zurück zu seiner Schmiere. Um das unselige Wirken Lenins zu illustrieren, stellt er die russischen Zustände vor der Revolution idyllisch dar. Von 1900 bis 1914 habe Russlands Wirtschaft «jährlich um rund 10 Prozent» zugelegt. «Das sind fast chinesische Werte, wie wir sie aus der jüngsten Vergangenheit kennen.» Noch schöner: Lenins Vater sei in «den russischen Adel aufgestiegen». Na also, «das zum Thema soziale Ungleichheit im Zarenreich. Gewiss war sie viel ausgeprägter als im Westen, und doch hatte ausgerechnet Lenin das Gegenteil in seiner Familie erlebt. Ihm ging es gut.» Ob da Somm wieder aus eigenem Erleben schöpft? Wahrscheinlich, aber deswegen macht er den groben Fehler, das damalige zaristische Russland mit seiner Schweiz zu vergleichen.

Damit Lenin der ganz böse Bube wird, müssen die Zustände, die er umstürzte, gut sein, so primitiv funktioniert Somms Pennälerlogik. Dafür schreckt er nicht mal vor einer absurden Aufhübschung der menschenverachtenden zaristischen Diktatur zurück, wo ein letzter degenerierter Romanow zunehmend den Kontakt zur Realität verlor.

Also erklären wir mal dem Historiker Somm die Geschichte der Zarenherrschaft. Obwohl die Bauern 1863 aus der Leibeigenschaft entlassen worden waren, lebten sie weiterhin elend, schlimmer als Vieh. Ihre Lebenserwartung lag bei 40 Jahren, sie waren Analphabeten, medizinische Versorgung oder Schulbildung existierten faktisch nicht. Ganz im Gegensatz zu den adligen Grossgrundbesitzern, die sich an steigenden Getreidepreisen dumm und krumm verdienten und die Muschiks massenhaft von ihren kleinen Schollen vertrieben. Zusammenfassend war die materielle Lage der meisten Bauern 1914 schlechter als in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts.

Wenn sie massenhaft in die Städte flüchteten, wurden sie zum Industrieproletariat in weiterhin elenden Umständen. Mehrere Personen teilten eine Kammer, die Arbeitszeit war nicht geregelt und betrug mehr als 50 Stunden pro Woche, zu einem Hungerlohn.

Währenddessen lebte die Zarenfamilie völlig abgekoppelt von der russischen Realität im schwelgerischen Luxus und hörte auf die Ratschläge eines Irrwisch namens Rasputin. Nach der katastrophalen Niederlage im Krieg gegen Japan zuvor wurden Hunderttausende russische Soldaten von völlig unfähigen adligen Befehlshabern an der Front im Ersten Weltkrieg abgeschlachtet. So wie ihnen das Leben der Bauern völlig egal war, kümmerte sie das Überleben der Soldaten einen Dreck.

Im so grossartig wirtschaftlich performenden Russland «breiteten sich noch mehr Krankheit, Elend und Armut aus». Das sagte nicht etwa Lenin, sondern der damalige zaristische Landwirtschaftsminister. Gegen Demonstrationen verzweifelter Massen kannte die zaristische Polizei nur ein Mittel: hineinschiessen, Dutzende, Hunderte von Toten in Kauf nehmen. Die Zustände in der russischen Marine hat unsterblich und realitätsnah der Film «Panzerkreuzer Potemkin» illustriert.

So sahen die wahren Verhältnisse in Russland aus. Da nur die Bolschewisten unter Lenin einen sofortigen Rückzug aus dem Ersten Weltkrieg, die Enteignung der parasitären Grossgrundbesitzer und eine fundamentale Verbesserung der Lebensumstände der Bauern und des Proletariats forderten, bekamen sie entsprechenden Zulauf.

Wer oder was daran schuld ist, dass sich die Absicht, eine klassenlose Gesellschaft zu errichten, wo das Prinzip «jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen» gelten sollte, scheiterte, das ist ein weites Feld.

Aber was bleibt: Es ist bedauerlich, dass man einem Historiker diesen Titel nicht wegnehmen kann, wenn er völlig ahistorisch, durch eine dicke Brille der Vorurteile, eigene biographische Neurosen abarbeitend hanebüchenen Unsinn verzapft.

Wumms: Markus Somm

Wenn ein Historiker die Geschichte umbiegt.

Da kaum jemand hinter der Bezahlschranke den «Nebelspalter» liest, versucht es Chefredaktor Markus Somm auf anderen Kanälen, zum Beispiel mit seinen «Memos». In Nummer 68 schreibt er unter anderem:

«Gleicht damit die Lage nicht der Situation in Afghanistan? Nachdem die Sowjets das Land 1979 überfallen hatten, um ein kommunistisches Regime in Kabul an der Macht zu halten, unterstützte der Westen den afghanischen Widerstand – mit Waffen, mit Material, mit Geheimdienstinformationen. Zehn Jahre lang bissen sich die Sowjets die Zähne aus, bis sie 1989 abzogen, ohne gewonnen zu haben. Fast 15’000 sowjetische Soldaten waren gefallen.»

Dass Russland die Ukraine überfallen hat, das ist genauso unbestreitbar wie die historische Tatsache, dass damals die UdSSR einem Hilferuf der afghanischen Regierung nachkam. Die Sowjetunion wollte das linke und sekuläre Regime (Bodenreform, Entmachtung der Oberschicht und der Clans, Bildung für alle) gegen die Mudschahedin unterstützen, reaktionäre und fundamentalistische Islamisten.

Durch die Unterstützung dieses «afghanischen Widerstands» züchteten die USA eine Generation von nicht nur fanatischen, sondern bestens ausgerüsteten Gotteskriegern heran.

Die zu Tode gefolterten Leichen des letzten Präsidenten
und seines Bruders wurden öffentlich zur Schau gestellt. 

Die nach dem Rückzug der UdSSR die Regierung massakrierten und unter Führung der Taliban einen grausamen, mittelalterlichen Gottesstaat errichteten. Als Treppenwitz der Geschichte versuchte die CIA später, die von ihnen gelieferten Stinger-Luftabwehrraketen zurückzukaufen – weil sie von islamistischen Terroristen gegen die USA selbst eingesetzt wurden.

Nach der damaligen Logik des Kalten Kriegs war der Feind meines Feindes mein Freund. So unappetitlich der auch sein mochte. Für breite Bevölkerungsschichten in Afghanistan, vor allem Frauen, war der Rückzug der UdSSR keinesfalls Anlass für Triumphgefühle.

Über all das huscht Historiker Dr. Somm hinweg, um sein Bild von der historischen Parallelität – Überfall Ukraine, Überfall Afghanistan – aufrecht zu erhalten.

Dabei ist es ein ahistorisches Zerrbild. Ein völlig untauglicher Vergleich.