Schlagwortarchiv für: Reportagen

Hat sie alles erfunden?

Die NZZ versucht, nicht nur den biographischen Geschichten auf den Grund zu gehen.

Und scheitert, wie Autor Lucien Scherrer unumwunden zugibt. Er hat umfangreich versucht, all die vielen romanhaft wirkenden Anekdoten aus dem Leben der Schriftstellerin Sibylle Berg zu verifizieren – oder zu falsifizieren.

Herausgekommen ist ein interessantes Feuilletonstück über die neue Fluidität, nicht nur, was die sexuelle Ausrichtung betrifft, sondern auch die eigene Biographie.

Einleitend beschreibt Scherrer die wichtigsten Eckpunkte dieser Biographie. Der schwere Autounfall: «Das Scharnier des Cabriodachs bohrt sich in ihren Kopf, bleibt kurz vor der Hirnhaut stecken. Klinisch tot wird Berg geborgen. Ihre Stirnhöhle ist seither weg, ihr Gleichgewichtssinn ebenfalls. Sie muss 19-mal, 20-mal oder auch 22-mal operiert werden, man muss ihr Plastikteile unter das Gesicht ziehen.»

Der Selbstmord der Mutter, Bergs Ausreiseantrag, direkt an den damaligen Staatschef Erich Honecker. Ihr Geburtsdatum im Jahr 1952, 1962, 1966 oder 1968. Zu all dem finden sich Angaben, oftmals von Berg selbst. Die handkehrum zugibt, dass sie das mit dem Brief an Honecker erfunden habe.

Weder für den Autounfall, noch für den Selbstmord der Mutter, noch für viele weitere biographische Anekdoten lassen sich Belege finden. Was nicht beweise, dass es nicht so gewesen sei, relativiert Scherrer vorsichtig.

Allerdings: «Belege für ihre Selbstdarstellung als DDR-Dissidentin gibt es bis jetzt keine.» Da fängt dann das Schräge an. Scherrer fährt fort: «Wer einen schweren Unfall erlebt hat, weiss in der Regel das Datum und die Uhrzeit, weil es ein Leben davor und eines danach gibt. Es gäbe Untersuchungsakten der Justiz, Polizeiberichte, Fotos, in spektakulären Fällen auch Medienberichte. Im Fall von Sibylle Berg gibt es bis dato: nichts, nicht einmal eine eindeutige Jahresangabe.»

Nun darf eine Schriftstellerin auch ihr Leben zur fiktionalen Erzählung machen, warum nicht. Als Scherrer aber Nachfragen stellt, hat Berg zunächst keine Zeit für Antworten. Als er insistiert, meldet sich ein Anwalt:

«Dieser wertet die Fragen der NZZ – gibt es Dokumente zu ihrem Unfall?, hat sie ihre Kindheit nun in Rangsdorf oder Constanta verbracht?, kann jemand ihre DDR-Biografie bestätigen? – als «verstörenden Vorstoss in die intimsten Bereiche eines Menschen» und droht mit juristischen Schritten.»

Sehr schräg wird es, wenn es um den Inhalt von Reportagen geht, die Berg geschrieben hat. 1996 ein Bericht für das damalige Magazin «Facts» über einen polnischen Massenmörder. «Der Text, den Berg schreibt, nennt alle Details aus Pekalskis Leben. Sie weiss, wie es in seinem Haus gerochen hat, was seine Opfer gedacht haben und was er beim Morden gefühlt hat und dass er sich einst eine Gummipuppe gewünscht hat. … Ein Jahr später ist Sibylle Berg für das «Zeit»-Magazin in Kambodscha, dem «Land der frohen Mörder». Zufällig sitzt sie im Strandrestaurant neben einem Anführer der Roten Khmer, der drei Touristen aus einem Zug kidnappen und hinrichten liess. Der Mörder sieht nett aus und hübsch, während des Gesprächs zermalmt er mit einer Hand ganz langsam ein grosses Insekt. … 2016 ist Sibylle Berg zufällig vor Ort, als ein islamistischer Attentäter in Tel Aviv zwei Menschen erschiesst und zehn verletzt. Sie sitzt, so schreibt sie in einem Augenzeugenbericht in der «Welt» und im «Bund», in ihrer Wohnung an der Diezengoffstrasse, rennt auf den Balkon und sieht schreiende Menschen.»

Schliesslich kam sie neulich in die Schlagzeilen, als sie sich beklagte, dass sie vergeblich 62 Wohnungsbewerbungen geschrieben habe, ein Opfer der Zürcher Wohnungsnot. «Ob es die 62 Bewerbungen wirklich gibt? Und wie gross ist die Not einer Schriftstellerin, die bestens im Zürcher Bürgertum vernetzt ist, nach eigenen Aussagen eine Wohnung im Tessin hat und von einer weiteren Wohnung in Tel Aviv schreibt?», merkt Scherrer spitz an.

Allerdings gerät Berg zumindest unter Relotius-Verdacht, was den Wahrheitsgehalt ihrer Reportagen betrifft. Sind es literarische Fiktionen, handelt es sich um Etikettenschwindel.

Aber auch dieses Thema steht natürlich unter Sexismusverdacht. Also eilt Alexandra Kedves von Tamedia der Autorin zu Hilfe:

Bei Tamedia ist man für kleine Werke niemals um grosse Begriffe verlegen. Das sei eine «Analyse», sei der NZZ-Bericht «ein Aufreger? Wir ordnen ein». Kedves, also «wir», ist ansonsten nicht so für Einordnung, eher für backfischartiges Schwärmen. So sülzte sie über die Amtseinführung von Joe Biden: «Zum Heulen schön: Was für eine Biden-Show!» – «Kehle-Zuschnür-Momente, die hier für diese so gespaltene, so wunde Nation geschaffen wurden.» – «Das rote Haarband der schwarzen Poetin und Aktivistin Amanda Gorman – der jüngsten Dichterin, die je zur Vereidigung eines US-Präsidenten auftrat

Also hat auch Kedves etwas Mühe, zwischen Realität und Schwärmerei zu unterscheiden. In ihrem grossen Berg-Verteidigungsartikel zählt sie zuerst die literarischen Meriten auf, die von niemandem bestritten werden. Dann repetiert sie auszugsweise die Ergebnisse der Recherche der NZZ. Dann geht Kedves zur freihändigen Verteidigung des nächsten Idols über: «Bezüglich ihres Privatlebens darf sie sich bedeckt halten, so wie das eine Menge Autorinnen und Autoren vor ihr taten.» Das wäre richtig, wenn nicht fast alle dieser widersprüchlichen Erzählungen über das Privatleben der Schriftstellerin – von Berg selbst stammen würden.

Dann lässt Kedves ein wenig Bildung aufblitzen. Allerdings mit ausnahmslos falschen Vergleichen. Der Verleger von «Gullivers Reisen» habe die Identität des Autors nicht gekannt. Dass es 1726 nicht sehr ratsam war, selbst romanhaft verkleidet scharfe satirische Spitzen gegen die herrschende englische Klasse zu schreiben, mag wohl auch Kedves einsichtig erscheinen. Wenn sie es denn wüsste. Dann führt sie noch die Brontë-Schwestern an, die unter Pseudonym geschrieben haben. Das hat aber nichts damit zu tun, dass sie sich bezüglich ihres Privatlebens «bedeckt halten wollten». Und schliesslich noch «der amerikanische literarische Superstar Thomas Pynchon», der sich den Medien «fast komplett» verweigere. Das ist richtig, damit steht er aber in scharfem Gegensatz zu Berg, die sich niemals den Medien verweigert.

Ausser, wenn sie mit kritischen Fragen konfrontiert wird. Dagegen urteilt Kedves nassforsch: «Die Lesenden haben kein Anrecht auf ihre private Geschichte.» Das mag stimmen, beantwortet aber nicht die Frage, ob und warum Berg bei den vielen Erzählungen über ihre Biographie geflunkert, erfunden, dazugedichtet, umgedichtet hat.

Das mag noch angehen. Sollte das auch bei ihren non-fiktionalen Reportagen der Fall gewesen sein – hier trippelt dann Kedves auf den Zehenspitzen: «Dass da eine Claas-Relotius-hafte Imaginationskraft mitgeschrieben hat, will der NZZ-Journalist nicht ausschliessen» –, gibt es ein gröberes Problem mit Sibylle Berg. Ein Problem der Glaubwürdigkeit.

Denn bei aller Liebe zum Fluiden: Claas Relotius und Tom Kummer sind eine Schande ihres Berufs, da nützt auch keine noch so verschwurbelte Erklärung oder gar Rechtfertigung etwas. Denn was sie betrieben (oder noch betreiben), ist Leserverarschung. Ein Anschlag auf die sowieso schon erschütterte Glaubwürdigkeit der Medien. Mit einem Wort: eine Schweinerei.

 

Relotius: Will man das wissen?

Der Schweizer Zeitschrift «Reportagen» ist zweifellos ein Scoop gelungen. Der erste Interview mit Claas Relotius. Echt jetzt.

Für den «Spiegel» gibt es inzwischen eine dreigeteilte Zeitrechnung. Vor Relotius, während Relotius, nach Relotius.

Der «stern» hatte jahrelang, eigentlich bis heute daran zu knabbern, dass die entdeckten Hitlertagebücher nicht nur mit «FH» aussen signiert waren, weil der Fälscher gerade kein A in Frakturschrift zur Hand hatte. Sondern Ruf, Reputation, Seriosität, Glaubwürdigkeit des «stern» über Jahre, über Jahrzehnte schädigten. Man kann sagen, von diesem Schlag erholte sich der Nannen-«stern» nie mehr.

Der Fall Relotius beim «Spiegel» war eigentlich noch gravierender. Hatte der Star-«stern»-Reporter Gerd Heidemann – nach der Enttarnung des grossen Unbekannten der deutschen Literatur, der nur unter seinem Pseudonym B. Traven auftrat, nicht garantiert, dass er den Jahrhundert-Scoop gelandet habe? Recht schnell stellte sich heraus, dass es der Jahrhundert-Scoop war, aber leider als Fälschung. Letztlich brachte das dem «stern» als mildeste Bestrafung ein paar Jährchen Knast auf Bewährung ein.

Bei Relotius liegt der Fall (leider) bedeutend anders. Wenn man nachverfolgt, wie hier das ganze Elend des modernen Gesinnungsjournalismus zu Tage trat, erschrickt man noch in der Retrospektive. Eigentlich sollte jeder leitende Redaktor fristlos entlassen werden, wenn er diese zwei Sätze sagt:

  1. Was ist unsere These bei diesem Stück, die Storyline?
  2. Was wollen wir für Reportageelemente in dem Stück, worüber und möglichst nah?

Kopf- und Schreibtischgeburten entstanden

Und so entstanden absurde Kopfgeburten wie jene Story, die aus reinem Zufall Relotius schliesslich das Genick brach. Ein «Spiegel»-Reporter begleitet unerkannt eine Mutter mit Kind, arm und allein, Nationalität egal, aus Zentralamerika über Mexiko an die US-Grenze. Und der zweite Reporter sucht nach einer möglichst rabiaten Bürgerwehr, die die andere Seite bewacht.

Ein Auftrag wie für Relotius gemacht; gefährlich, neu für ihn. «Andere machten sich jetzt wohl in die Hose, und ich kann sie sehr gut verstehen.» Das waren Juri Gagarins letzte Worte, bevor die Rakete mit dem üblichen Donnern abhob. Haben Sie’s geglaubt? Ts, ts.

Relotius musste da ran und dort ran und enthüllen und aufdecken, dass es keine Art hatte. Wie er das nur immer wieder schaffte, fragte man sich innerhalb und ausserhalb des «Spiegel». Aber vielleicht sollte man bei einem solchen Wunderknaben gar nicht genauer hinschauen, sagte sich das hier federführende Ressort. Relotius zeigte, dass nichts unmöglich war, auch einem, der in den nächsten Minuten tot gespritzt wird, dabei in die Augen zu schauen und darüber zu schreiben.

Natürlich war das nicht möglich, und der «Spiegel» erwähnt seither viel kleinlauter, dass er dann schon eine ganze Reihe von Kontrollinstanzen zwischen der Abgabe eines Manuskripts und der Publikation habe, die eine Ungenauigkeit oder gar Fälschung verunmögliche. Tat es nicht, weil Relotius – ein geschickter Menschenfänger wie jeder Betrüger — das ablieferte, was das im roten Bereich drehende Ressort «Gesellschaft» von ihm wollte.

Da es bei einer Reportage tatsächlich so ist, dass der Reporter den Ereignissen nach gusto einen Spin geben kann. Durch entsprechende Darstellung von Protagonisten – vor allem aber durch das, was er ihnen entlocken kann. Und verständlich, dass da gerade dem Tonband der Saft ausgegangen war. Selbst dazu war Relotius in einem Fall offenbar zu faul, und so stürzte sein Kartenhaus zusammen, das zuvor bis in die Chefetage hinein verbittert verteidigt und für stocksolide erklärt worden war.

Mit der brutalstmöglichen Aufklärung, neuen Kontrollinstanzen und dem Demontieren der Leitung des Ressorts, in dem Relotius tätig gewesen war, meinte man, das Problem einigermassen eingezäunt zu haben. Zudem schrieb eine der letzten real existierenden Edelfedern des «Spiegel» ein mea culpa, illud mihi culpa, wie es nur Ullrich Fichtner hinkriegt.

Neue Exerzitien für Relotius

Daraufhin meldete sich Relotius ab und war eine Zeitlang in einer psychiatrischen Anstalt versorgt. Zu seinen Exerzitien gehörte offenbar, sich bei allen Abnehmern seiner Lügenstorys dafür zu entschuldigen. So auch beim Schweizer Magazin «Reportagen», für das er fünf Relotius-Stücke, natürlich voller Lug und Trug, einreichte. Nach der Entschuldigung blieb man in Kontakt, und schliesslich durfte der Chefredaktor von «Reportagen» mitsamt Margrit Sprecher ein Interview mit Relotius führen.

Das ist natürlich ein Scoop, der im Medienkuchen dafür sorgt, dass es kräftig staubt. Aber ausserhalb der sozusagen Direktbetroffenen? Interessiert das keinen Menschen mehr. Doch Scoop ist Scoop, also trompetete «Reportagen», die meisten Medien zogen mehr oder minder ehrfürchtig nach; nun dürfte das mit den Buchverkäufen geritzt sein.

Ach, der Inhalt des Interviews? Völlig unerheblich, uninteressant, lausig vorbereitet, ein Trauerspiel, bei dem schon die ersten Zeilen reichen, für leichte Hektik zu sorgen. Nun ist genau der Relotius wieder aus der Versenkung aufgetaucht:

«Mein Verhalten hat diese Verschwörungstheorien scheinbar bestätigt. Ich kann das nicht wiedergutmachen, aber versuchen zu erklären, dass mein Handeln nichts damit zu tun hatte, sondern mit meinen persönlichen Fehlern.»

So spricht ein braver Junge, bei dem die Therapie anschlägt. Nichts beschönigen, nur erklären und entschuldigen, im Ernstfall zurück in die psychiatrische Anstalt. Während alle «Spiegel»-Frauen und -Mannen sich schon salviert haben und Relotius zu – richtig – dem bedauerlichen Einzelfall erklärten, der er nie war, der zudem ohne Wissen seiner Vorgesetzten (was auch nicht völlig der Wahrheit entspricht) eine mission impossible nach der anderen abspulte, bei der er unbeschädigt aus jeder Schlägerei, jedem Schusswechsel mit immer grösserem Gerät hervorging, sozusagen.

Während jeder weiss, dass so ein Gaga nur in Comixheftchen möglich ist, räumte Relotius so ziemlich alle Reportagepreise ab, unter Absingen von Lobeshymnen, die im Nachhinein sehr, sehr peinlich sind.

Dass man ihm nun das Wort erteilt und er es auch ergreift, damit tut er sich keinen Gefallen, tut sich «Reportagen» keinen Gefallen. Denn wen interessieren die seelischen und geistigen Abgründe, die Relotius angeblich zu seinem Tun getrieben haben sollen? Keinen – ausserhalb des Medienkuchens.

«Republik»: Ein Kessel Buntes

Was alles in der Autorenzeile der Plattform für gute Lebensratschläge Platz findet …

Das nenne ich mal eine Bandbreite. In der «Republik» tut sich Daniel Ryser mit Raimond Lüppken zusammen. Um gemeinsam einen offensichtlich psychisch Versehrten, der keine Person des öffentlichen Interesses ist, mit voller Namensnennung in die Pfanne zu hauen. Denn der hat ein paar wirre Schreiben verfasst, in denen er unter anderem die sofortige Verhaftung des Bundesrats fordert.

Aber er ist nicht unbegütert und zudem mit seinen zwei Brüdern Mitbegründer einer erfolgreichen Restaurantkette. In der Abwägung, ob man diesen Menschen nicht vor sich selber schützen muss und der Gier, mal wieder zitiert zu werden, entschied sich die immer klamme Plattform für das Unanständige. Was sie natürlich anderswo lautstark beklagt.

Mit allen Fingern auf andere zeigen

Auch zusammen mit Lüppken, einem «Rechtsextremismusexperten», geht Ryser auf die beiden grossen Buchhandlungen in der Schweiz los. Orell Füssli, Ex Libris. Der Rechercheweg ist klar: der deutsche Grossbuchhändler Hugendubel hält 49 Prozent an Orell Füssli. Und diese Schweinebacken verkaufen doch tatsächlich das wirre Manifest des Massenmörders Anders Breivik, der aus gestört-rassistischen Motiven 77 Menschen ermordete.

Das führte zu einem Boykottaufruf gegen Hugendubel und auch Presseartikeln darüber, das führte die beiden Spürnasen zur Recherche, ob Orell Füssli das Werk in der Schweiz etwa auch verkauft. Und siehe da: Treffer. Verschreckt nimmt OF nach Anfrage der «Republik» das Werk aus dem Sortiment. Mit der laut «Republik» lahmen Entschuldigung, dass man bei 11 Millionen Büchern im Angebot nicht jedes einzelne auf den Prüfstand legen könne.

Treffer, versenkt. Dass OF seinen Sachbuchverlag einstampft, über viele Jahrzehnte die Adresse für Schweizer Themen im Non-Fiction-Bereich, das ist dem Kulturzentrum «Republik» hingegen keine Zeile wert.

Im Recherchierrausch schauen die beiden Investigativjournalisten noch bei Ex Libris rein. Und siehe da: zweiter Treffer. Aber nicht versenkt: Ex Libris zieht ihren Zorn auf sich, weil auch dieser Buchhändler darauf hinweist, dass er nicht jedes einzelne Buch in seinem Millionensortiment bewerten könne.

Ex libris hält sich ans Gesetz, das geht nicht, findet die «Republik»

Deshalb halte man sich ans Gesetz; Bücher, die gerichtlich verboten sind oder auf dem Index der deutschen Prüfstelle stehen, werden nicht verkauft. Alle anderen schon. Das ist natürlich die völlig richtige Haltung. Aber das sehen die Autoren anders; sie plädieren stattdessen für Selbstjustiz und Willkür. Wenn sich schon private Plattformen wie Facebook oder Twitter zum Zensor aufschwingen und missliebige Teilnehmer sperren – was rechtsstaatlich sehr beunruhigend ist –, dann sollten das Buchhändler doch auch tun.

Da gäbe es vielleicht für den «Rechtsextremismusexperten» und den Reporter ein neues Aufgabengebiet: Buchzensor. Kleine Nachhilfe zum Einarbeiten: der «Index librorum prohibitorum». Dieser Index der kirchlichen Inquisition war der letzte Versuch, am Rechtsstaat vorbei Bücher und Autoren aufzulisten, die ein wahrer Christ nicht lesen darf. Leider wurde diese fromme Übung 1965 abgebrochen. Aber ich kann auf Wunsch mit einer der letzten Ausgaben leihweise dienen.

Alleine damit zeigt die «Republik» ein doch sehr fragwürdiges Verhältnis zum Rechtsstaat. Nicht der entscheidet, was erlaubt und was verboten ist, sondern jeder wildgewordene Journalist darf den Daumen senken. Nebenbei warten wir auf die Lancierung einer Initiative, dass der Satz in der Bundesverfassung, «eine Zensur findet nicht statt», gestrichen werden soll.

Denn, horribile dictu, um weiter zu lateinern, selbst «Mein Kampf» ist im Buchhandel erhältlich. Experte und Reporter, übernehmen Sie!

Wo Jutta Ditfurth ist, kann Raimond Lüppken nicht sein

Damit aber sind der Absonderlichkeiten in der «Republik» kein Ende. Denn unter dem geklauten Titel «Eyes wide shut» langweilt die Plattform mit der inzwischen 7. Folge einer Serie über Verschwörungsglauben. Es steht zu befürchten, dass sie nicht kürzer als die unendliche Geschichte über das Haus «Tages-Anzeiger» wird.

Aktuell widmet sich die Allzweckwaffe Daniel Ryser der für die «Republik» durchaus heiklen Frage, wie denn Esoterik und faschistisches Denken, rechter Verschwörungsglauben zusammenhänge. Diesmal allerdings nicht zusammen mit Lüppken, sondern mit einer anderen Fachkraft.

Das ist insofern bemerkenswert, als die Autoren des mit 16’000 Anschlägen eher schlanken Artikels in ihren Recherchen auf Jutta Ditfurth stossen. Für jüngere Leser: die engagierte Sozialwissenschaftlerin gehörte zu den Gründern der «Grünen» in Deutschland und war von 1984 bis 1988 eine der drei Bundesvorsitzenden der Partei. 1990 setzte dann die Degeneration der «Grünen» mit der «realpolitischen  Wende» ein, und Ditfurth verliess mit einigen anderen unter Protest die Partei.

Sie ist bis heute munter und radikal unterwegs; so schaffte sie es vor ein paar Jahren, in einer Diskussionsrunde bei «Maischberger» einen CDU-Politiker dazu zu bringen, unter Protest seine Beteiligung abzubrechen. Als Maischberger sie aufforderte, aus Gründen der Ausgewogenheit nun auch zu gehen, blieb Ditfurth einfach sitzen. Also an der linken, feministischen, um nicht zu sagen linksextremen Haltung von Ditfurth kann kein Zweifel bestehen.

Ditfurth kennt sich bei diesem Thema aus

Zudem hat sie sich in mehreren Büchern mit den Verbindungen von Anthroposophen, Esoterikern und Umweltschützern, sowie Grünen, beschäftigt. Daher weiss sie: «Diese Leute, viele von ihnen Impfgegner, stören sich ganz offensichtlich nicht an den Nazis, die da mitlaufen», wie sie der «Republik» sagt.

In diesem Zusammenhang ist das Fehlen von Lüppken hochinteressant. Denn vor etwas mehr als einem Jahr twittere Ditfurth diese Warnung:

Ditfurth und Lüppken haben sich gar nicht lieb.

Das hätte möglicherweise ihre Gesprächsbereitschaft etwas gefährdet, wäre dieser Lüppken als Mitautor hier aufgetaucht. Leider antwortet weder er noch die hochwohllöbliche Chefredaktion der «Republik» auf mehrfache Anfragen. Soweit geht dann die Transparenz des «transparentesten Medienunternehmens» (Selbstlob) auch nicht. Dabei haben wir den Dritten im Bunde, Dario Veréb, noch gar nicht erwähnt. Auch er spannt ab und an mit Lüppken zusammen, um beispielsweise die Leser von «audiatur» mit dem gleichen Thema zu beschallen: «Corona-Proteste: Neuer Anzug für rechte Narrative?»

Leider wollte auch Jutta Ditfurth nicht auf die Frage antworten, was genau sie damals zu dieser Warnung motiviert hat. Aber, ums positiv zu sehen: Ditfurth, Lüppken, noch ein paar andere, wäre das nicht mal eine eigene Recherche in dieser Reihe wert? Oder macht das Organ der moralischen Urteilsfähigkeit davor die Augen weit zu?