Richter Ratlos
Ungeheuerliches im Zürcher Obergericht.
Thomas Hasler vom «Tages-Anzeiger» ist ein sehr erfahrener Gerichtsreporter. Als solcher braucht er eine Akkreditierung am Gericht. Das ist der einzig vorstellbare Grund, wieso er nicht mit scharfen Worten eine Ungeheuerlichkeit kritisiert, die im Obergericht stattfand. Das gilt auch für Tom Felber von der NZZ, der ebenfalls schon im Titel ein skandalöses Zitat bringt: «Ein «Drittklass-Freispruch»».
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Seien Sie nicht allzu stolz auf diese Urteilsbegründung …
Darum geht es: Das Bezirksgericht Meilen hatte im September 2020 über einen Mordfall geurteilt. Eine 73-jährige Ärztin war im August 2016 in ihrer Villa in Küsnacht zu Tode gekommen. Viele Indizien wiesen auf Mord hin, allerdings wurde die Obduktion der Leiche durch eine Schlamperei der Zürcher Rechtsmedizin viel zu spät durchgeführt, so dass Zweifel blieben.
Aber es gab genug Indizien, um einen heute 39-Jährigen wegen Mordes zu 19 Jahren zu verurteilen. Der aber schweigt bis heute eisern und teilte dem Gericht nur mit, dass er es nicht gewesen sei. Als Auftraggeberin des Tötungsdelikts geriet schnell die heute 48-jährige Tochter der Ärztin in Verdacht. Sie war damals drogenabhängig und stand in Gefahr, enterbt zu werden. Das brachte ihr vier Jahre Untersuchungshaft ein, in der auch sie immer ihre Unschuld beteuerte.
Sie war in der ersten Instanz freigesprochen worden und hatte eine Entschädigung von 200’000 Franken für die U- und Sicherheitshaft erhalten. Die Staatsanwaltschaft wollte das nicht so stehen lassen und forderte auch vor dem Obergericht eine Freiheitsstrafe von 18,5 Jahren wegen Anstiftung zum Mord. Die Tochter soll dem damals mit ihr Liierten 300’000 Franken dafür versprochen haben.
Aber auch die zweite Instanz erkannte auf Freispruch. Im Zweifel für den Angeklagten, und die Indizien reichten nicht aus, um über jeden vernünftigen Zweifel erhaben den Mordauftrag zu beweisen. Das ist gerichtlicher Alltag.
Dann aber wurde es aschgrau: «Seien Sie nicht allzu stolz auf den 3.-Klass-Freispruch», zog der Gerichtspräsident Christoph Spiess vom Leder. Das Urteil sei auf Messers Schneide gestanden, was sich in einem 2:1-Mehrheitsentscheid für Freispruch ausgedrückt habe. Einmal in Fahrt, fuhr Spiess fort:
«Sie sind in den Fall verstrickt und haben mit dem Tod der Mutter zu tun. Aber wir wissen nicht wie.»
Es habe ein dichtes Indiziennetz gegeben, aber das sei leider nicht eindeutig gewesen.
Damit nicht genug der Philippika: Die Tochter habe eindeutig ein Motiv gehabt: «Sie werden freigesprochen, auch wenn Sie nicht sauber sind», donnert der Richter, als wolle er eine moderne Fassung des «zerbrochnen Krugs» geben. Deshalb sei es dem Gericht «schwergefallen», der Tochter 200’000 Franken Genugtuung zuzusprechen. Zustände wie am Dorfgericht von Richter Adam. Nur nicht so lustig.
In unserem Rechtsstaat gibt es für einen Angeklagten nach der Gerichtsverhandlung zwei Zustände. Schuldig oder nicht schuldig. Es gibt keine Schuld- oder Freisprüche erster, zweiter oder dritter Klasse. Laienbeobachter möchten gerne zwischen einem Freispruch wegen erwiesener Unschuld und seinem kleinen Bruder «aus Mangel an Beweisen» oder wegen «im Zweifel für den Angeklagten» verschiedene Klassen unterscheiden.
Richter Spiess führt nebenbei das Sekretariat der «Schweizer Demokraten» und blödelte auch schon auf Tiktok herum:
Letztes Jahr erhob sich die Frage, ob Spiess sich damit der Würde seines Amtes angemessen verhalten habe. Hier kann man noch sagen, dass im Privaten schlechter Geschmack nicht strafbar ist. Auch etwas abseitige politische Orientierung ist von der Meinungsfreiheit gedeckt. Aber einen Freispruch mit dieser Begründung eigentlich in einen Schuldspruch verwandeln, das ist ein starkes Stück.
Denn eigentlich sagt Richter Gnadenlos: Sie sind’s gewesen, aber leider können wir’s Ihnen nicht nachweisen und müssen Sie contre coeur freisprechen. Dass Sie auch noch Geld kriegen, tut uns weh, als käme es aus unserem Portemonnaie.
Wildwest im Rechtsstaat – und keiner protestiert.