«Der Grundsatz des Gegenlesens ist wichtig»

Was einen erfahrener Mediensprecher an der Journalistenzunft gefällt, was ihn nervt und warum er das Gegenlesen sinnvoll findet.

Pio Sulzer*, Sie sind seit fast 19 Jahren Mediensprecher in der Stadtverwaltung Zürich. Was ist Ihnen lieber: agieren oder reagieren?

Um gut dazustehen, müsste ich jetzt behaupten, dass ich selbstverständlich viel, viel lieber agiere. Aber wenn ich in mich hineinhorche, dann finde ich es spannender, wenn etwas Überraschendes eintritt und eine Reaktion mit schnellem Denken, kühlem Kopf, konzentriertem Handeln und intensivem Teamwork gefragt ist. Da steckt wohl immer noch der Radiomann in mir.

Was war Ihre bisher kommunikativ heikelste Situation bei der Stadt Zürich?

Sobald ein einzelner Mensch in den Fokus rückt, ist der kommunikative Weg mit Fallstricken ausgelegt. Das war so, als Stadträtin Ruth Genner (Grüne) Anfang 2013 erkrankte oder als der damalige ERZ-Direktor Urs Pauli im Jahr 2017 entlassen wurde. Bei persönlichen Angelegenheiten gleichzeitig transparent zu sein und respektvoll zu bleiben, ist heikel.

Und Ihr Highlight?

Die Bepflanzungsaktion auf dem Münsterhof im Sommer 2019 war eine Wohltat. Bevölkerung, Politik und Medien waren so gut wie ausnahmslos begeistert, die positiven Kommentare auf Facebook nahmen lange kein Ende. Obwohl ich Kontroversen bevorzuge, war diese fast einhellige Freude eine schöne Abwechslung.

Wie sieht Ihr Wunschprofil an einen Journalisten aus?

Die ideale Journalistin geht vorurteilsfrei an ein Thema heran. Sie arbeitet in einem Team, in dem Anfänger auf alte Häsinnen zählen können. Und sie bekommt von ihrem Medienhaus genügend Zeit und Wertschätzung für ihre Arbeit. Ausserdem hat mein Wunsch-Journalist den Ehrgeiz, gutes Deutsch zu verwenden.

Und das Horrorprofil?

Jemand, der nicht wissen will, was ist. Oder noch schlimmer: Der es weiss, aber trotzdem etwas anderes erzählt.

Wie hat sich der Durchschnittsjournalist während Ihrer Tätigkeit bei der Stadt verändert?

Er hat weniger Zeit für seine Recherchen.

Sind Onlinemedien ein Fluch oder ein Segen für Sie?

Ein Segen. Online-Journalismus sehe ich als Bereicherung. Natürlich stellen sich spezifische Probleme, aber das ist bei jedem Medium so.

Was sind das für spezifische Probleme?

Die Kostenwahrheit ist noch nicht hergestellt, und der befriedigende Umgang mit unzutreffenden und hetzerischen Behauptungen in den Foren ist auch noch nicht gefunden.

Was nervt Sie am meisten an Journalisten?

Die Kombination von Ahnungslosigkeit und Überheblichkeit ist äusserst unangenehm. Das findet sich zum Glück selten.

Wie gross ist die Freude, wenn Ihre Medienmitteilungen 1:1 abgedruckt wurden?

Die Freude ist gering. Unsere Medienmitteilungen sollten Ausgangspunkte für Recherchen, Reportagen oder Kommentare sein, nicht Fertignahrung.

Wie finden Sie das ungeschriebene Gesetz in der Schweizer Medienszene, dass Interviews, aber auch Statements inkl. Kontext gegengelesen werden?

Dieser Grundsatz ist wichtig. Durch die Verschriftlichung, die Übersetzung ins Hochdeutsche und die Kürzungen, die die Redaktion vornehmen muss, können Aussagen verfälscht werden. Das braucht nicht mal absichtlich zu geschehen. Deshalb ist es ganz einfach fair, dass Interviewte die Zitate und deren Einbettung gegebenenfalls korrigieren können. Im Gegenzug darf das Gegenlesen nicht dazu führen, dass die ursprünglichen Aussagen zu blutleerem Image-Gewäsch degenerieren.

Sie waren vorher Journalist, zum Beispiel beim damaligen Radio Z. Was sind für Sie die grössten Unterschiede zwischen den beiden Gebieten?

Heute arbeite ich in einer komplexeren Struktur und muss wesentlich mehr Gesetze und Regeln beachten als damals, auch was die Ausdrucksweise anbelangt. Zudem konnte ich als Redaktor persönliche Kommentare abgeben, das ist in meiner heutigen Funktion tabu. Dieses Interview mit Ihnen ist eine Ausnahme, da ich hier für mich selber spreche, nicht für die Stadt.

Wie finden Sie es, dass beim ZHAW-Studium der Kommunikation die Grundausbildung in PR und Journalismus gemeinsam stattfindet?

Da bin ich unschlüssig. Beide Berufsfelder sind wichtig und haben Schnittmengen wie Wahrheit, Exaktheit, verständliche und korrekte Sprache sowie eine ansprechende Aufbereitung von Informationen. Deshalb ist eine gemeinsame Vermittlung der Grundlagen wohl vertretbar. Trotzdem möchte ich als Staatsbürger, der ich ja auch bin, die beiden Berufsfelder lieber weniger als mehr vermischen. Behördenkommunikation ist nochmals etwas anderes. Staatliche Stellen sollten zurückhaltend mit PR sein.

Haben Sie noch eine Bitte an die Journalisten, die Sie via ZACKBUM.ch veröffentlicht haben möchten?

Journalistinnen und Journalisten sind keine homogene Gruppe. Deshalb kann ich keine Bitte an den ganzen Berufsstand äussern. Stereotype sind mir ein Gräuel.

*) Pio Sulzer (57) leitet seit 2001 die Medienstelle des Tiefbau- und Entsorgungsdepartementes der Stadt Zürich. Seine bisherigen Chefs waren Kathrin Martelli (FDP), Martin Waser (SP), Ruth Genner (Grüne), Filippo Leutenegger (FDP) und aktuell Richard Wolff (AL).

 

Karl Lüönd (Copyright: Christian Lanz)

Karl Lüönd: «Zackbum ist ein fürchterlicher Name»

Der Doyen des Journalismus sieht nicht alles schwarz. Vor allem Fachzeitschriften hätten eine Zukunft, da der Streuverlust gering ist. Aber: Ohne Fachkompetenz funktioniert ist es nicht. Im Gespräch mit einem der letzten grossen Journalisten.

Karl Lüönd, Sie haben die Spezialzeitschrift «Jagd & Natur» gegründet und geleitet: Wie erlegt man am besten einen Hirsch?

Den Hirsch muss man ersitzen, nicht erlaufen. Stundenlang warten, bis er kommt; dann genau prüfen, ob er den Vorschriften entspricht, und abdrücken, wenn er breit steht.

Die Tätigkeit für eine Fachzeitschrift setzt Fachkenntnis voraus. Ist das so?

Sicher. Erfolgreiche Macher von Fach- und Spezialzeitschriften sind in ihrem Bereich sattelfest, zugleich sollen sie journalistische Reflexe haben und mit dem Besteck des Blattmachers umgehen können.

Angenommen, damals hätten sich auf ein Inserat nur ein Jäger und ein Journalist beworben. Beide gleich sympathisch – wer hätte bei Ihnen mehr Chancen gehabt?

Sympathie hat bei meinen Personalentscheiden immer nur eine untergeordnete Rolle gespielt. Im Zweifel habe ich mich häufig für Kandidatinnen oder Kandidaten entschieden, die neben der Kernkompetenz noch auf einem zweiten, dritten Gebiet qualifiziert waren.

Man hat den Eindruck, den Fachzeitschriften gehe es besser als den übrigen gedruckten Medien. Stimmt das?

Wir sollten unterscheiden zwischen Fachzeitschriften – für beruflichen Gebrauch und wirtschaftliche Sparten – und Spezialzeitschriften – grob gesagt: für Hobbies aller Art. Unter diesen Oberbegriffen sehen wir in der Schweiz über 2500 Titel. Es gibt für diese Gattung kaum verlässliches Zahlenmaterial. Wir haben es mit einem ganzen Höhlensystem von Marktnischen zu tun. Einen generellen Trend für alle abzuleiten wäre mir bei dieser Datenlage zu gewagt. Was man aber sicher sagen kann, ist: Die Entwicklungen verlaufen in diesem Bereich weniger dramatisch als in den exponierteren Bereichen der gedruckten Medien. Dies vor allem, weil die meisten Titel weniger an Inserenten abhängig sind als zum Beispiel Tageszeitungen und weil viele Inserenten die Fach- und Spezialzeitschriften brauchen, um ihr Zielpublikum mit möglichst wenig Streuverlusten zu erreichen.

Haben Sie ein konkretes Erfolgsbeispiel?

Tatsächlich gibt es erstaunlicherweise immer wieder Platz für neue Nischen. Das wohl prominenteste Erfolgsbeispiel ist die «Landliebe» von Ringier, der die uralten Ratgeber-Themen Kochen, Wohnen, Einrichten, Basteln, Handarbeit usw. unter einer zeitgeistig genialen neuen Dachmarke versammelt und mit schöner Sinnlichkeit abhandelt.

Die Tageszeitungen haben in den letzten Jahren manche Spezialinteressen (Reisen, Auto, Wissenschaft etc.) entweder abgebaut oder an andere ausgelagert. Ein Fehler?

Manche sind halt in einer verzweifelten Lage und haben keine andere Wahl. Sie müssen inhaltlich abbauen und zugleich von den Leserinnen und Lesern immer mehr Geld verlangen, weil die Anzeigenerträge fehlen. Noch schlimmer als den Abbau finde ich den faktischen Verkauf dieser redaktionellen Inhalte. Eine direkte negative Rückkoppelung dieses Abbaus auf die Fach- und Spezialzeitschriften sehe ich nicht.

Laut WEMF-Zahlen haben 2019 auch die Fachzeitschriften in der Auflage abgegeben. Warum trifft’s nun auch diese?

Weil immer mehr Firmen ihre Marketingkommunikation umstellen, d.h. digitalisieren. Was die WEMF nicht erfasst hat, sind die Nutzerzahlen und Einkünfte aus den vielen kleinen, zum Teil tagesaktuellen digitalen Angeboten, die manche Fach- und Spezialtitel aufgebaut haben, und aus den mannigfachen Nebengeschäften, die manche Anbieter im Fach- und Spezialbereich erfolgreich betreiben. Hier werden nach wie vor gute Geschäftsfelder bespielt, ja, sogar mit Stellenanzeigen, aber auch mit allen erdenklichen anderen Angeboten: Kursen, Ferien, Reisen, Produkten.

Wie sehen Sie den heutigen Journalismus im Vergleich zu einige Jahrzehnte zurück?

Auch kleine Objekte sind vom Einprodukte-Unternehmen Zeitschrift zu Gemischtwarenläden geworden. Sie bieten Internet-Portale, Podcasts, Apps, Bücher, Sonderhefte an sowie viele nahe beim Fachbereich angesiedelte Produkte und Dienstleistungen. Journalisten und Verleger, die in diesem Umfeld bestehen wollen, müssen bereit sein, immer Neues auszuprobieren und gnadenlos wegzuwerfen, was nicht funktioniert («Kill your darlings!») Marktforschung gibt es nur im Massstab 1:1 auf dem Markt und vor den Augen der Konkurrenz.

Was halten Sie von der Kompetenz heutiger Journalisten?

Ich liebe solche zur Verallgemeinerung verführende Fragen nicht. Zur Kompetenz gehören auf alle Fälle Begeisterung für sein Spezialgebiet, Neugier und eine hohe Frustrationstoleranz.

Wird man ein Modell finden, mit dem man Internet-Auftritte finanziell lukrativ macht?

Viele haben es schon gefunden, aber sie hängen es nicht an die grosse Glocke, und, wie gesagt: Die Branchenstatistik ist in diesem Bereich besonders schwach. Auf der Suche nach Ideen würde ich mich mal intensiv im internationalen Markt der wissenschaftlichen Zeitschriften umschauen, zum Beispiel bei der RELX-Group (früher Reed Elsevier).

Welche Chancen geben Sie Zackbum.ch?

Da sich unsere Branche gern mit sich selbst beschäftigt, wird es an Beachtung nicht fehlen. Aber davon leben wird man wohl nicht können. Mich freut, dass die bisher gezeigte inhaltliche Qualität bedeutend besser ist als der Name, den ich fürchterlich finde.

Zur Person: Karl Lüönd (geb. 1945) hat nach einer bewegten Karriere als Journalist, Chefredaktor und Verleger («Blick», «Züri Leu», «Züri Woche») auch Spezialzeitschriften gegründet (z.B. «Jagd & Natur») und etwa ein halbes Dutzend Fach- und Spezialzeitschriftenverlage z.T. über Jahre hinweg als Berater und Coach begleitet. Heute beschäftigt er sich vor allem mit Sachbüchern zu wirtschaftshistorischen Themen. Im Schweizer Bibliothekskatalog (www.nebis.ch) sind unter seinem Namen ca. 60 Buchtitel in Deutsch, Englisch, Französisch, Italienisch, Spanisch und Chinesisch verzeichnet.