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Mulmiger Sonntag

Verdampfen die Hirne in der Hitze?

Niemand mag eine Kassandra. Das war bei der mythischen Figur so, das ist heute so. Der Sommer ist fast da, das Wetter lockt zum Bade, es darf endlich grilliert werden, die Ferienreise ist gebucht, die Maske weg, die nächste Corona-Welle auch. Also wollen wir uns doch nicht die gute Laune verderben lassen.

Gute Laune ist gut und nötig, ein sehr mulmiges Gefühl in der Magengrube aber auch.

Dieses Gefühl hat seine Ursache nicht in schlechter Verdauung, sondern in guter Analyse. Und die ergibt zwangsläufig, dass wir uns mal wieder einem perfekten Sturm nähern. Mal schauen, ob wir auch so seelenvoll wie George Clooney schauen werden, wenn das Boot untergeht.

Wieso sollte denn das geschehen? Worin besteht denn der perfekte Sturm? Und könnte auch die Schweiz absaufen, denn alles andere interessiert uns – Hand aufs Herz – doch nicht so wirklich?

Bitte, die Bestandteile des perfekten Sturms. Über Jahre hinweg wurde Neugeld geschöpft wie verrückt und wie noch nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Rekordhalter ist unsere Schweizerische Nationalbank (SNB) mit einem Bilanzvolumen von einer runden Billion (1000 Milliarden). Mehr als unser BIP. Diese Geldmenge muss man sich ungefähr so vorstellen:

Denn bislang, seit der Finanzkrise eins von 2008, segelten wir locker über dieses Geldmeer, ohne dass stattfand, was laut angeblichem Sachverstand hätte passieren müssen: Inflation. Rieseninflation. Keine weitere Krise hat das ausgelöst. Aber die Pandemie und die Ukraine haben es nun geschafft: wir haben Inflation.

So über den Daumen gepeilt 8 Prozent, Tendenz steigend. Tendenz rasch steigend. Teil eins des perfekten Sturms.

Normalerweise bekämpft der Staat eine ins Galoppieren geratende Inflation mit ein, zwei bewährten Mitteln. Er wird knausrig, kauft keine Anleihen mehr auf, gibt weniger Geld aus und schraubt vor allem den Leitzins nach oben. Steil nach oben. Anfang 80er-Jahre überschritt der US-Leitzins sogar mal 20 Prozent. Brutal, aber damit kam eine Inflationsrate von über 15 Prozent wieder runter. Das geht heute aber nicht. Teil zwei des perfekten Sturms.

Das geht deswegen nicht, weil vor 40 Jahren die Staatsverschuldung noch eine Kleinigkeit war im Vergleich zu heute. Damals hatten die USA eine läppische Billion Staatsschulden, heute sind es über 20 Billionen, mehr als das BIP der grössten Volkswirtschaft der Welt. Daher profitieren die Staaten von den Nullzinsen und haben sich weiter bis über die Haarspitzen verschuldet. Würde nun der Leitzins entsprechend der Inflation hochgesetzt, also auf mindestens 10 Prozent, würden viele EU-Staaten vor dem Konkursrichter Schlange stehen.

Wenn die Zinsen hochgehen, gehen die Börsen runter – und der Immobilienmarkt knirscht und kracht. Denn viele stolze Hausbesitzer sind das, auch in der Schweiz, nur deswegen, weil die Zinsen nahe null liegen. Natürlich gibt es theoretisch Belastungsregeln und Blabla. Aber im harten Konkurrenzkampf um die Vergabe der Hypotheken wurde das links, rechts, oben und unten umgangen. Teil drei des perfekten Sturms.

Hier türmen sich folgende Wellen aufeinander. Steigt der Zins deutlich, müssen die Hypotheken angepasst werden. Werden sie das, können viele Hausbesitzer das nicht mehr stemmen. Zwangsversteigerung, Welle eins. Dadurch geraten die Immobilienpreise ganz allgemein unter Druck. Nun verlangt die Bank aber Nachschuss, wenn der Hypokredit nicht mehr durch den Verkehrswert der Hütte gedeckt ist. Das können viele Häuslebesitzer nicht, Zwangsversteigerung. Welle zwei. Trotz allem Bemühen bleiben Banken auf faulen Hypotheken sitzen – und geraten selber in Schieflage. Denn eine Bank darf kein negatives Eigenkapital haben. Ist sie in den roten Zahlen, muss sie die Bücher deponieren. Welle drei, Teil vier des perfekten Sturms.

Das hat verheerende Auswirkungen auf alle Schuldner, die Hypotheken bei dieser Bank haben. Sie müssen sich andere Geldinstitute suchen, und die verlangen natürlich ganz andere Eintrittspreise für eine Hypothek. Teil fünf.

Immer noch munter und optimistisch? Na, wir haben noch gar nicht davon geredet, was passieren könnte, wenn die Inflation ausser Kontrolle gerät. Also so galoppiert, dass kein Zaumzeug mehr etwas bewirkt. Wenn der Preis für ein Abendessen am Anfang und am Ende verschieden ist. Wenn Banknoten gleich zum Heizen verwendet werden; das ist billiger, als damit zuerst Kohle zu kaufen. Wenn auf die Banknoten immer längere Reihen von Nullen draufgestempelt werden.

Kann sich der inflationsverschonte Schweizer nur schwer vorstellen? Da sollte er mal einen etwas älteren Deutschen (oder Italiener oder Franzosen oder Spanier) fragen, wie sich das anfühlt.

War’s das? Fast. Gibt es also einen Weltuntergang?

Nein, einen Weltuntergang gibt es ausserhalb der Bibel eigentlich nicht. Ausser, es gibt einen Atomkrieg, aber das ist ein anderes Thema. Was passiert also, wenn die Inflation so richtig in Galoppieren gerät? Da versucht der Staat, so lange wie möglich zuzuschauen und Optimismus zu versprühen. Etwa so:

Aber dann, im psychologisch richtigen Moment, wird der Staat sagen: liebe Gläubiger, liebe Sparer, liebe Rentner, liebe Anwärter von Sozialleistungen wie Pensionen. Es gibt nun leider nur noch zwei Möglichkeiten. Entweder, Euer Geld ist ganz futsch. Währungsreform, Neustart, Schulden weg, Guthaben weg. Kann heilsam sein, für Griechenland wäre es sicher die beste Lösung gewesen.

Oder aber, fährt der Staat fort, wir machen eine sanftere Währungsreform. Wir tauschen im Verhältnis von zwei zu eins in Neugeld um. Wer also 1000 Franken hatte, hat nun noch 500. Ist doch immer noch besser als nix, oder?

Schlimme Aussichten? Aber nein, das ist die bestmögliche aller Lösungen; ein geordneter Schuldenschnitt. Ohne Aufruhr, ohne Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung, ohne das Auftauchen eines begabten Rattenfängers, der klar Schuldige benennt und einfache Lösungen anbietet. Oder den Ersatz von Rechtsstaat und Ordnung durch Willkür und Faustrecht.

Denn das, daher das mulmige Gefühl, ist durchaus möglich.

Rollt der Rubel oder nicht?

Pleite oder rosige Zukunft für Russland. Was darf’s denn sein – oder wohl oder doch.

Väterchen Stalin hätte versucht, auch dieses Problem in seiner Holzhackerdialektik abzuhandeln. Er hätte angehoben: Wie verhält es sich mit dem Rubel? Dann hätte er die Frage mittels Dreisprung-Dialektik und historischem Materialismus beantwortet.

Wir wollen ihn nicht nachahmen, aber einfache Tatsachen bleiben eigentlich einfach. Was allerdings den meisten Journalisten nicht wirklich auffällt. Denn die sind mehrheitlich der Auffassung, dass Russland demnächst Staatsbankrott erklären müsse. Oder aber einen Default einräumen, also das Nichtbedienen von Schulden.

Naturgemäss sieht das Russland etwas anders. Wie schaut’s denn nun aus? Beginnen wir bei den Tatsachen, über die noch Einigkeit herrscht. Die Staatsverschuldung Russlands hat im Prozentbereich eine Null weniger als die der meisten westlichen Staaten. Sie beträgt, immer vorausgesetzt, man kann russischen Statistiken vertrauen, rund 14 Prozent des BIP. Das ist ziemlich super.

Russland verfügt über Devisenreserven von 640 Milliarden Dollar. Das wäre auch ziemlich super. Aber hier wird’s schon tricky. Wie der Name sagt, sind das Devisen, keine Rubel. Und der Herr des Dollar sind die USA. Also hat die russische Notenbank, wie alle anderen Banken der Welt, ihre Dollarreserven nicht in Form von Cash im Tresor, sondern sie sind bei Korrespondenzbanken im Ausland gelagert.

Meins ist meins – oder eben nicht

Normalerweise ist das kein Problem, denn es ist ja unbestritten, dass der russische Staat der legitime Besitzer dieses Geldbergs ist. Aber es gibt leider auch im Kapitalismus illegale Verhaltensweisen. Nehmen wir als Beispiel die Devisenreserven von Afghanistan. Die belaufen sich auf rund 7 Milliarden Dollar. Genauer: beliefen sich. Denn nach der neuerlichen Machtergreifung der fundamentalistischen Wahnsinnigen in Kabul froren die USA diese Gelder zunächst ein.

Um anschliessend die Hälfte (!) zurückzugeben und die andere Hälfte einzusacken. Für Entschädigungen von Opfern des islamistischen Terrors. Ist das legal? Natürlich nicht. Ist das legitim? Noch viel weniger. Kann man etwas dagegen tun? Nein, denn niemand kann die USA zu irgend etwas zwingen, nicht mal dazu, sich an internationales Recht und die primitivsten Regeln des Umgangs mit Besitz zu halten.

Ähnlich verhält es sich nun mit den 640 Milliarden Dollar Russlands. Denn nicht nur die Vermögenswerte von reichen Russen werden in Wildwestmanier arretiert. Sondern auch die Reserven der russischen Notenbank. Gleichzeitig bleibt es weiterhin erlaubt, dass Russland für die Erlöse von Rohstofflieferungen, in erster Linie fossile Brennstoffe, die erhaltenen Devisen auch ausgeben kann. Denn sonst würde das Land ja gratis liefern.

Russland ist allerdings – wie die USA – Besitzer einer Währung. Der Rubel hat natürlich nicht die Bedeutung, die die Weltwährung Dollar hat, mit der bis heute über 60 Prozent aller weltweiten Zahlungen abgerechnet werden.

Woher kommt die Sonderstellung des Dollar?

Dazu muss man kurz in die Geschichte zurückgehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg etablierten die USA den Dollar als Weltwährung. Als vertrauensbildende Massnahme koppelten sie ihn fix an Gold und versprachen, das Papiergeld jederzeit auf Verlangen in Gold umzutauschen. 1973 wurde das nach seinem Gründungsort Bretton Woods genannte System aufgegeben. Der Vietnamkrieg verschlang dermassen viele Ressourcen, dass die USA nicht mehr länger den Goldumtausch garantieren konnten.

Das bedeutete auch, dass es keine fixen Wechselkurse mehr gab und der Dollar in der Folge zu einem unaufhaltsamen Niedergang im relativen Wert zu anderen Währungen überging. An die Stelle des Golddollars trat dann der sogenannte Petrodollar. Die USA vereinbarten mit den damals bedeutendsten arabischen Erdölländern, dass die den Handel ausschliesslich in Dollar abwickelten – gegen die Zusicherung militärischer Unterstützung durch die USA.

Seither wurden alle Länder oder Diktaturen streng bestraft, die aus diesem System ausbrechen wollten. Die blutigsten Beispiele sind der Irak und Libyen. Auch der Iran fakturiert nicht in Dollar und ist dafür strengen Sanktionen ausgesetzt. Abgesehen von seinem Irrwitz-Projekt, sich in Besitz von Atomwaffen zu setzen.

Wie verhält es sich nun mit russischen Deviseneinnahmen?

Nehmen wir zur Illustration den Umweg über den Euro, um zu erklären, ob Russland demnächst pleite geht oder nicht. Solange die Lieferungen noch fliessen, zahlen die EU-Staaten in Euro. Auch die landen aber nicht physisch in den Tresoren der russischen Notenbank. Sie ist zwar legal und formell Besitzer, darf die auch im Westen ausgeben – aber auch die EU könnte jederzeit beschliessen: was bei reichen Russen Brauch ist, wenden wir auch hier an. Das Geld ist nicht weg, aber beschlagnahmt.

Also verlangte Russland die Bezahlung in Rubel. Das bedeutet konkret, dass die EU mit ihren Euro Rubel kaufen müsste. Das nähme die Gefahr von den Einnahmen, dass sie beschlagnahmt werden könnten. Um aber im Westen einzukaufen, muss Russland seine Rubel wieder in Devisen wechseln. Gleiches Spiel. Einziger Vorteil: mit diesen Käufen wird der Rubel-Wechselkurs gestärkt. Nachdem er kurzzeitig ins Bodenlose sank, bewegt er sich heutzutage wieder auf Vorkriegsniveau.

Bleiben die beiden Fragen: bringt das Russland was? Wird es nun die Staatspleite erklären müssen oder nicht? Formal ist’s einfach: sagen wir, Russland muss per Ende April einen Kredit über 100 Millionen Dollar bedienen. Normalerweise werden noch 30 Tage eingeräumt, und wenn dann die Kohle nicht auf dem Konto des Gläubigers liegt, ist der Schuldner im Default, Pleite.

Das heisst, dass Russland aus eigenen Reserven oder mit eingetauschten Rubel 100 Millionen Dollar aufbringen muss. Es kann die entsprechende Menge Rubel in Dollar wechseln. Oder Euro. Oder jede andere konvertible Währung, von der es Reserven hat. Oder aber, die älteste Reservewährung der Welt, indem es Gold verkauft.

Russland ist noch lange nicht pleite. Ausser …

Dazu sollte Russland noch eine ganze Weile in der Lage sein, also ist ein Staatsbankrott eher ausgeschlossen. Ausser, Russland dreht den Spiess um und sagt: da der Westen unsere Devisen beschlagnahmt hat, zahlen wir nun in der Währung, die uns gehört. In Rubel. Ist dann euer Problem, wie ihr die in westliche Devisen wechselt. Schliesslich ist der Rubel ja konvertibel, hat also einen Marktpreis bei euch.  Und wenn ihr den nicht akzeptiert? Dann gehen wir halt zu einem Zwischenhändler. Zum Beispiel China.

Wie verhält es sich mit dem Rubel? So verhält es sich mit dem Rubel, hätte Väterchen Stalin geschlossen.