Alex Baurs Replik
Ganz oder gar nicht sei sie zu publizieren, verlangt Freund Baur. Bitte sehr.
Von Alex Baur
Wenn Kollega Zeyer nichts besseres mehr einfällt, als mich persönlich zu beschimpfen, fehlen ihm offenbar die Argumente. Doch wenn ich seine etwas wirre Argumentationslinie richtig verstehe, baut seine Definition von Kriegsverbrechen primär auf der Zahl der zivilen Opfer. Als liesse sich das Problem mit einer mathematischen Formel lösen. Und das ist vom Ansatz her schon falsch.
Es gehört zu den grossen Errungenschaften der Aufklärung, dass nicht das Resultat eines Verbrechens (Erfolgsprinzip), sondern der Vorsatz dahinter (Verschuldensprinzip) bei der Einordnung einer Straftat und deren Schweregrad entscheidend ist. Um ein Beispiel zu nennen: Wer fahrlässig die Explosion eines mit Brennstoff beladenen Eisenbahnzuges verursacht, die hunderte von Toten fordert, kann mit einer milden Strafe rechnen; wer jedoch mit Tötungsabsicht gezielt auf einen Menschen schiesst, muss mit der Höchststrafe rechnen, unbesehen davon, ob das Opfer die Attacke überlebt. Kriegsverbrechen sind von diesem Prinzip nicht ausgenommen.
Nun ist der Vorsatz ein innerer Vorgang, den wir aufgrund äusserer Indizien und Verhaltensweisen nur deuten können. Und diese Deutung ist, wie es der Begriff schon verrät, keine präzise Wissenschaft. Eine mathematische Formel gibt es nicht, auch wenn uns Zeyer dies mit populistischen Verkürzungen vorgaukeln will.
Die Frage nach dem Verlauf eines Konfliktes und dessen Motivation ist daher wichtig: Wer hat den Krieg provoziert? Wer verfolgt welche Interessen und Ziele? Wer hat welche Möglichkeiten? Was wären die Alternativen? Es geht dabei ebene gerade nicht um die Frage einer allfälligen moralischen Rechtfertigung, wie Zeyer insinuiert. Ob die Anliegen der Palästinenser oder jene der Zionisten im Kern gerechtfertigt sind, spielt bei dieser Auslegeordnung keine Rolle.
Fakt ist: Die Israeli hatten sich vor einem Jahr, als die Terror-Milizen des Irans ohne jeglichen Anlass die Grenze überquerten, um in der Nachbarschaft ein Blutbad anrichten bzw. Geiseln nahmen, längst aus Gaza und aus dem Südlibanon zurückgezogen; Israel erhebt keinen Anspruch auf diese Gebiete; und wenn es einem Juden in den Sinn käme, sich dort anzusiedeln, er würde nicht lange überleben; Netanjahu mag der Konflikt gelegen kommen oder auch nicht (man wird es nach den nächsten Wahlen sehen), doch Israel hat kein Interesse an diesem Krieg, der allein durch die Araber bzw. den Iran ausgelöst wurde.
Über 20 Prozent der Bevölkerung Israels sind Araber, Drusen oder Beduinen, die meisten von ihnen Muslime, rund 2 Millionen an der Zahl, die alle Bürgerrechte geniessen und heute sogar in der Armee dienen; wenn ein Palästinenser in der Westbank ein ernsthaftes gesundheitliches Problem hat, lässt er sich in Israel behandeln, gratis notabene; vor den Terror-Angriffen auf Israel vom Oktober 2023 galt das auch für die Bevölkerung von Gaza; Israel versorgt Gaza nicht nur mit einem grossen Teil seines Wasserbedarfes, sondern auch mit Energie. Israel hat 2006 israelische Siedler gezwungen, Gaza zu verlassen. Es war gleichsam der Test für die famose «Zweistaaten-Lösung». Wäre die Entvölkerung oder die Annexion von Gaza das Ziel, würde sich Israel ganz anders verhalten. Die militärischen Mittel, um die Bevölkerung von Gaza auszulöschen, hätte die israelische Armee auf jeden Fall.
Zum Glück haben Israels Gegner diese militärischen Mittel nicht (an denen sie sie Jahren fieberhaft arbeiten). Das erklärte Ziel von Iran und seinen Vasallen (Hamas, Hisbollah) ist die Vernichtung von Israel und die Vertreibung der Juden, from the river to the sea. Die israelische Armee hat daher nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, seine Bevölkerung, ob jüdisch, muslimisch oder christlich, zu schützen und die Angreifer aus der Nachbarschaft unschädlich zu machen. Da weder die Bevölkerung von Gaza noch jene vom Libanon Willens oder in der Lage ist, die Terror-Milizen des Iran von ihrem Land fernzuhalten, muss es die israelische Armee an ihrer Stelle tun. Eine vernünftige Alternative gibt es nicht. Konzessionen gegenüber Terroristen, das hat die Erfahrung gezeigt – nicht nur im Nahen Osten, sondern auch etwa in Südamerika, wo der Autor dieser Zeilen lebt – verlängern das Blutvergiessen und das Leiden bloss. Das Ziel von Terror-Milizen ist niemals ein Frieden, und wenn sie dies vorgeben, meinen sie die ungeteilte Macht.
Iran und seine Vasallen verschanzen sich systematisch und gezielt hinter menschlichen Schutzschildern und zivilen Institutionen, ein klarer Verstoss gegen das Kriegsrecht. Sie sind daher die Hauptverantwortlichen für die zivilen Opfer und Verwüstungen. Das entbindet Israel zwar nicht von der Pflicht, zivile Opfer nach Möglichkeit zu vermeiden oder so tief wie möglich zu halten. Doch der Schutz der eigenen Bevölkerung vor den Angriffen aus der Nachbarschaft und die Vernichtung der Angreifer hat für die israelische Armee Priorität.
Selbstverständlich kann man die israelische Strategie kritisieren. Ob die israelische Armee wirklich alles tut, um zivile Opfer nach Möglichkeit zu vermeiden, ob ihre Strategie wirklich die klügste ist, wage ich als militärischer Laie allerdings nicht zu beurteilen. Das kann auch der Deutsche René Zeyer nicht. Doch hier geht es um die Frage, ob die israelische Armee Kriegsverbrechen oder gar einen Genozid zu verantworten hat. Und das ist nach dem aktuellen Stand des Wissens bzw. nach dem oben gesagten ganz klar nicht der Fall.
Was der Altmarxist René Zeyer hier durchexerziert, ist die verlogenene klassenkämpferische Taktik von Lenin und Konsorten: Man provoziert einen bewaffneten Konflikt, beschwört Menschenrechte und Demokratie, doch gemeint ist Unterdrückung und Parteidiktatur.
P.S.: Ich wage übrigens an dieser Stelle noch die Prognose, dass es dem in Israel äusserst unbeliebten Benjamin Netanjahu ergeht wie weiland Winston Churchill: Er wird den Krieg gegen die Barbarei gewinnen und danach vom eigenen Volk demokratisch abgewählt. Die meisten Israeli wollen keinen Krieg, doch wenn man ihnen einen solchen aufzwingt, dann ziehen sie die Sache durch bis zum bitteren Ende.
Zum Nachschlagen und Nachlesen:
Baurs Replik in der «Weltwoche»
Zeyers Duplik auf ZACKBUM