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Gottesdienst, nicht stören

Gluck, gluck, gluck. Mal wieder Untergang bei der WeWo.

Nehmen wir an, das Interview zwischen Tucker Carlson und Urs Gehriger habe stattgefunden. Leichte Zweifel sind bekanntlich erlaubt.

Wie auch immer, hier gibt es 22’000 Anschläge zum Thema Journalist interviewt Journalist. Das ist zunächst einmal Ausdruck davon, dass sich Journalisten unnatürlich wichtig nehmen. Nicht die Botschaft, der Bote ist die Message. Das ist zwar Unsinn, wird aber gerne wiederholt.

Zunächst einmal singt Carlson das Loblied auf den Diktator der VAE: «Die interessanteste und weiseste Führungspersönlichkeit, mit der ich je gesprochen habe, ist der Herrscher von Abu Dhabi, MBZ. Ich habe noch nie eine bescheidenere Führungskraft getroffen [als Scheich Muhammad bin Zayid, d. Red.].»

Blutiger Krieg im Jemen, enge Verbindungen mit dem brutalen Herrscher Saudi-Arabiens, der auch mal einen Oppositionellen in seiner Botschaft ermorden und zerstückeln lässt: sicher ein weiser Mann. Vor allem ein sehr, sehr reicher Mann.

Carlson ist überhaupt für saftige Storys gut: «Das [Joe Bidens Duschen mit der Tochter, d. Red.] ist ein Sexualverbrechen. Ich habe drei Töchter, ich kann Ihnen versichern, dass es nicht normal ist, dass ein Vater mit seinen Töchtern duscht. In ihrem Tagebuch schrieb Ashley: «Ich glaube, ich bin sexsüchtig, weil mein Vater mit mir geduscht hat.»»

Das ist nun ziemlich unappetitlich, aber Carlson kann noch einen drauflegen: «Larry Sinclair hat meiner Meinung nach auf sehr glaubwürdige Weise gesagt, dass er Sex mit Barack Obama hatte.» Sinclair ist ein verurteilter Hochstapler.

Seinen ersten grossen Coup nach seinem Rausschmiss bei Fox News landete Carlson mit einem Interview mit dem ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump. Er (und die «Weltwoche») sieht das sicher anders, aber dieses Interview zeigt jedem, der es schafft, es durchzustehen, dass Trump ein seniler alter Mann ist, der ständig den Faden verliert, wenn man ihn einfach quatschen lässt.

Zwei Höhepunkte aus diesem Interview:

«Und der Grund dafür ist, dass ich glaube, dass sie mich mögen, und ich weiss, dass sie meine Politik lieben. Ich hoffe, sie mögen mich auch. Wissen Sie, viele Leute sagen, sie mögen mich nicht, aber sie mögen meine Politik, ich glaube, sie mögen mich. Aber ich habe noch nie so eine Stimmung erlebt wie jetzt. Und der Grund dafür ist, dass der korrupte Joe Biden so schlecht ist.

Nun, er (Präsident Biden, Red.) kann nicht durch den Sand laufen. Weisst du, Sand ist nicht so einfach zu durchlaufen. Aber wo geht man denn hin, wenn man nicht durch den Sand laufen kann?»

Eine tolle Ausgangslage in den USA. Ein seniler Präsident und ein nicht minder seniler wahrscheinlicher Herausforderer. Und ein Interviewer, der schlimmer als Larry King seine Gäste einfach alles sagen lässt. Dass er damit Millionen von Zuschauern erreicht, sei ihm gegönnt. Aber das als Qualitätsmerkmal hochzuschreiben und Tucker zum «erfolgreichsten Journalisten der Welt» zu ernennen, das ist – nun, auch etwas senil.

Gibt es noch etwas, wo die WeWo zwanghaft gegen den Strom schwimmen muss? Richtig geraten: «Verteidigung der katholischen Kirche», so hebt Roger Köppel fromm in seinem Editorial an: «Niemand stellt sich vor die katholische Kirche. Niemand verteidigt die älteste und erfolgreichste Organisation der Welt. Wehrlos taumelt sie in den Seilen

Wir bekreuzigen uns bestürzt. Köppel versucht’s mit etwas Dialektik: «Die Absicht, Missbräuche zu rechtfertigen, habe ich nicht. Im Gegenteil. Ich verurteile sie. Aber ich beobachte einen Missbrauch des Missbrauchs

Aber wieso verteidigt der selbst ernannte Calvinist Köppel denn die katholische Kirche, die älteste Verbrecherorganisation der Welt? Kennt er Karlheinz Deschners zehnbändige «Kriminalgeschichte des Christentums» nicht? Mag sein, aber schnell kommt Köppel zum Punkt: «Ziel der Angriffe ist die Schwächung der Kirche als Bollwerk gegen den Zeitgeist. Der konservative Katholizismus steht, unter anderem, für Familie, für Tradition, für Freiheit vom Staat, für die klare Unterscheidung zwischen Mann und Frau. Den ersatzreligiösen Klimakult machen viele Katholiken nicht mit

Familie? Abtreibungsverbot, Wiederverheiratungsverbot, Mittelalter? Freiheit vom Staat? Von dem die Kirche in der Schweiz gerne die Kirchensteuer eintreiben lässt? Was für ein Bullshit. Aber wenn Köppel mal in Fahrt ist, hält ihn in seinem Lauf weder Ochs noch Esel auf: «Die Schauprozesse gegen die Katholiken und ihre Kirche erinnern an den Tugendterror der Französischen Revolution.» Gleich stalinistische Schauprozesse mit der Terreur des entfesselten Bürgertums vermischen? Wo finden denn diese Schauprozesse statt, wo arbeiten die Erschiessungskommandos, wo stehen die Guillotinen? Was für ein Bullshit.

Und wo Köppel wie Don Quijote gegen imaginäre Drachen reitet und dabei viel Wind macht, braucht er auch einen willigen Adlatus, sozusagen seinen Sancho Pansa. Den gibt Giuseppe Gracia. Der hyperaktive Kommunikationsberater stösst ins gleiche Horn. Natürlich sei jeder Fall in der katholischen Kirche einer zu viel. «Aber die entrüstete Berichterstattung zur aktuellen Missbrauchsstudie ist heuchlerisch

Weil: «Die säkulare, moralisch entgrenzte Gesellschaft von heute bringt jeden Tag so viele Opfer sexueller Gewalt hervor wie keine religiöse Gruppe in Jahrzehnten.» Moralische entgrenzte Gesellschaft, sozusagen die moderne Fassung von Sodom und Gomorra, Sittenverluderung, furchtbar. Keine Zucht mehr, keine Ordnung. Perversion und Promiskuität. Pfui.

Denn es ist doch schrecklich: «Jeder weiss, dass allein Hollywood jährlich Tausende Opfer produziert und in fast allen westlichen Metropolen täglich mehrere tausend Frauen und Kinder missbraucht werden

Auch in Bern, Zürich, Basel und St. Gallen? Wahnsinn.

Weiss das jeder? Nun, zumindest einer. Nun noch ein Sprutz Dialektik: «Wenn nun die Medien für ihre Stimmungsmache gegen die Kirche den Hauptort sexueller Gewalt ausblenden, dann schützen sie indirekt die Mehrheit der Täter, deren Verbrechen und deren Opfer nicht öffentlich aufgeklärt werden.»

Stimmungsmache, Schutz der Mehrheit der Täter? Was für ein Bullshit. Aber auch Gracia kann sich noch steigern: «Dass der Zölibat zu Missbräuchen in der Kirche führe, ist falsch.» Das habe ein Professor an der Charité mit einer Studie nachgewiesen. Ach, die widernatürliche Unterdrückung sexueller Bedürfnisse hat keine ungesunden Auswirkungen? Unglaublich, was in der WeWo für ein Stuss erzählt werden darf.

Aber auch Gracia geht’s natürlich um das Grundsätzliche: «Der Missbrauch des Missbrauchs ist Teil des gegenwärtigen Kulturkampfs. Im Zeitalter von Konsumismus und Totalverwertung muss alles verfügbar gemacht werden. Auch der Katholizismus soll durchlässig werden für die Wünsche einer Erlebnis- und Optimierungsgesellschaft, die als obersten Massstab nur noch sich selber akzeptiert. Eine Kirche, die es wagt, Unverhandelbares und Unverfügbares zu verkünden – etwa die Unauflöslichkeit der Ehe, die Priesterweihe mit Zölibat nur für Männer oder überhaupt den Anspruch der Zehn Gebote –, so eine Kirche gehört abgeschafft. Finden ihre Gegner.»

Wer hat den Missbrauch des Missbrauchs wem abgeschrieben? Der Hirte Köppel dem Schaf Gracia oder umgekehrt? Aber Gracia ist doch eher resigniert: «Gegen die machtvollen Dynamiken dieser Gesellschaft können die Hirten der Kirche wenig ausrichten.» Oh Herr, gibt es denn keine Hoffnung hienieden? Doch: «Die Liebe ist stärker als der Tod und als alle Mächte des Bösen

Wunderbar, da braucht es in dieser Ausgabe den wiedergeborener Katholiken Matthias Matussek gar nicht, der sogar aus dem finster-fanatischen Gottesmann Ratzinger eine Lichtgestalt erdichtet.

Aber so wollen wir hier auch eingedenken, milde werden und sowohl Köppel wie Gracia einen Bruderkuss auf die Wange hauchen. Denn auch sie sind doch nur Sünder vor dem Herrn, wie wir alle.

 

 

Das Repetitive

Der Mensch ist ein Gewohnheitstier. Nur vertiert er dabei.

Jeder Demagoge weiss: das wirksamste Mittel, um eine Botschaft unters Volk zu bringen, ist die Wiederholung.

Ja keine Locken auf der Glatze drehen, bloss nicht intellektuelle Übungen am Hochreck. Das ist alles für die Katz, bzw. für die verschwindend kleine Minderheit von Kopfmenschen, die sich seit Jahrhunderten der Illusion hingeben, ihr diskursives Geschwurbel über poststrukturalistische Verwerfungen im kognitiv-transzendentalen Raum würden irgend jemand interessieren – ausser sie selbst.

In der mehrheitsfähigen Meinung, bei der Eroberung der Lufthoheit über den virtuellen Stammtischen, da braucht es den Mut zur Wiederholung. Zur unablässigen, ins Schlafwandlerische absinkenden Wiederholung. Sag’s, sag’s nochmal, dann sag’s schon wieder, und wenn du denkst, es kommt allgemeiner Brechreiz auf, wenn es nochmal gesagt wird, dann tu genau das.

Das zweite entscheidende Kriterium, an dem die meisten Intellektuellen scheitern: sag’s einfach. Schäm dich nicht dafür, als terrible simplificateur beschimpft zu werden. Das halsen sowieso nur Intellektuelle, und wer kümmert sich schon um deren Geschwätz.

Wiederholung ist gut, die Wiederholung eines einfachen Aussagesatzes – Subjekt, Prädikat, ein Objekt, maximal ein Adjektiv, allerhöchstens noch ein Adverbiale – ist besser. Natürlich im Indikativ Präsens, alles andere würde zu weit führen. Und bitte, bitte, ja keine Fremdwörter. Auch keine Wörter, die aus mehr als drei Silben bestehen.

Noch eine letzte Kochanweisung, und die üble Suppe ist fast fertig: bloss keine Begründungen oder Erklärungen. Das lähmt, macht es weitschweifig, stört den eingängigen Verständnisprozess. Fatal sind auch Abwägungen. Tödlich die Darstellung von Widersprüchlichkeiten. Disqualifizierend ist ebenfalls das Äussern von Zweifeln oder Nichtwissen. Das brauchen wir nicht, das verunsichert nur.

Einfache Sätze, eingängige Sätze, die dann ad nauseam wiederholen. Pardon, bis zum Erbrechen. Keine Fremdwörter. Keine Nebensätze. Keine Differenzierungen. Deine Rede sei ja, ja und nein, nein. Nie «vielleicht», nie «könnte sein». Oder sagten wir das schon? Na und, dann sagen wir es nochmal.

Naheliegendes Beispiel

Ein Beispiel? Sicher, liegt doch auf der Hand: «Putin ist ein Verbrecher.» Subjekt, einfaches Prädikat, leicht verständliches Objekt, der Satz rauscht wie ein Zug durchs Auge oder Ohr ins Hirn. Nun muss man sich die Wirkung der Repetition so vorstellen: ihr ist Genüge getan, wenn niemand mehr eine Begründung für diese Tatsachenbehauptung braucht. Dann wird sie zur unbezweifelbaren Tatsache.

Manchmal braucht es allerdings doch eine Begründung; vor allem, wenn eine Behauptung neu ist oder noch leise Zweifel beseitigt werden müssen. Der Klassiker hier ist: «Die Juden sind an allem schuld.» Begründung? Einfach: «Weil sie Juden sind

Intellektuelle Besserwisser mögen nun einwenden, dass das doch keine Begründung sei und der erste Satz reiner Schwachsinn. Davon darf sich der geschickte Demagoge aber keinesfalls verunsichern lassen. Den grössten Fehler würde er begehen, wenn er sich in einen argumentativen Schlagabtausch einliesse. Ganz abgesehen davon, dass dadurch der Nonsensgehalt seiner Aussage offenkundig würde.

Personalisieren statt argumentieren 

Hier kommt nun der nächste Kniff aus dem Nähkästchen des Demagogen. Statt inhaltlich zu argumentieren, muss persönlich auf den Kritiker losgegangen werden. Zum Beispiel: «Wer bezweifelt, dass Juden an allem schuld sind, ist ein Judenversteher.» Da die Juden per Definition schuldhaft sind, ist einer, der sie versteht, selber ein Schädling an der Gesellschaft.

Oder der Kritiker könnte selber Jude sein. Oder von ihnen gekauft. Oder einfach ein Idiot. Indem er Zweifel daran äussert, dass die Juden an allem schuld seien, drückt er zudem nicht einfach eine abweichende Meinung aus. Nein, er zeigt damit eine Haltung. Eine Gesinnung. Natürlich eine falsche Haltung, ein üble Gesinnung. Eine zersetzende Gesinnung. Deshalb muss ihm, bei aller Liebe zur Meinungsfreiheit, das Maul verboten werden. Sonst schädigt er die Gesellschaft der Gutmeinenden, sät Zweifel in unschuldige Köpfe. Verwirrt sich zuvor auf sicherem Boden befindende Mitmenschen.

Immer nahe an der Kernbotschaft bleiben

Damit das Repetitive nicht zu langweilig wird, kann man leichte Varianten dazustellen, aber immer ganz nahe an der Kernbotschaft bleiben. Also zum Beispiel: «Putin ist ein gemeingefährlicher Verbrecher.» Oder: «Putin ist ein verrückter Verbrecher.» Hier kann man dann auch bestens die Denunzierung von Zweiflern anwenden: «Wer Putin verstehen will, ist selber ein Verbrecher.» Oder: «Nur Verbrecher können Verbrecher verstehen.» Natürlich ergänzt durch: «Für Putinversteher ist in der öffentlichen Debatte kein Platz

Wiederholung mit Personalisierung ist immer das Beste. Aber es geht auch mit etwas abstrakteren Begriffen. «Die Ukraine muss siegen. Russland muss geschlagen werden.» Der Einsatz eines Modalverbs verkompliziert die Sache ein wenig, aber das lässt sich leicht mit einer nachgeschobenen Begründung flicken. Dazu braucht es den Aufschwung ins Persönliche des Wirgefühls: «Die Ukraine kämpft für unsere Freiheit. Russland bedroht die Freiheit von uns allen.»

Letzte Lektion: die Verknüpfung. Ebenfalls ein einfaches Schema zwecks Erledigung von störenden Einwänden: «Wer den Einmarsch in die Ukraine nicht eindeutig verurteilt, der ist …» Hier kann man nun ein beschränktes Feld von abqualifizierenden Bezeichnungen verwenden. «Unmensch, selber Verbrecher, blind, gekauft, uneinsichtig, feige, Opfer russischer Propaganda», usw. Wichtig ist auch hier, bei zwei, maximal drei Begriffen zu bleiben.

Mit dieser Handlungsanleitung – und natürlich mit Hilfe der grossen Multiplikatoren, der Mainstream-Medien, der grossen Lautsprecher – ist es problemlos möglich, die öffentliche Debatte zu beherrschen. Und gleichzeitig die Illusion der Meinungsfreiheit aufrecht zu erhalten.

Hilfe, mein Papagei onaniert

Niveau: liefergelegt. Denkapparat: ausgeschaltet. Banalyse statt Analyse.

«Mörderischer Diktator. Kriegsverbrecher. Wahnsinniger. Potentat. Diktator. Cäsaren-Wahn. Kreml-Herrscher. Machthaber. Kriegsverbrecher. Wahnwelt. Kriegshetzer. Amok. Irrer. Verrückter. Verbrecher. Stalin. Alleinherrscher. Vor Machthunger irr. Super-Macho. Rasend vor Wut.»

Blütenlese eines Tages.

Der US-Politologe Francis Fukuyama hat ein Thesenpapier mit 12 Punkten zum Überfall auf die Ukraine veröffentlicht. Er behauptet eine Niederlage der russischen Truppen und den Machtverlust für Putin sowie die Wiedergeburt der Freiheit.

Deshalb werden diese Thesen weitherum positiv gewürdigt. Dazu muss man wissen, dass sich Fukuyama 1992 unsterblich lächerlich machte, als der das «Ende der Geschichte» verkündete. Damit meinte er, dass nach dem Zusammenbruch des sozialistischen Lagers und der Auflösung der UdSSR nun ein nicht mehr weiterzuentwickelnder weltweiter Zustand einer liberalen kapitalistischen Gesellschaftsordnung ausgebrochen sei.

Die Sammlung der abwertenden Qualifikationen eines Tages und der begeisterte Zuspruch zu den Thesen eines krachenden Versagers widerspiegeln aufs schechteste den Zustand der modernen Massenmedien.

Wenn wir noch ergänzen, dass die Westentaschenphilosophin Barbara Bleisch im Hause Tamedia über Banalitäten dilettieren darf, die sie unter den umwerfend originellen Titel stellt «Frieden ist mehr als die Abwesenheit von Krieg», dann wird es schwer vorstellbar, wie das publizistische Niveau weiter gesenkt werden könnte.

Aber: Es wird möglich sein. Garantiert.

Putin und ich

Seit dem Angriff auf ein ukrainisches AKW ist’s persönlich. Denn ich möchte nicht radioaktiv verstrahlt werden, nur weil ein Mächtiger Macht ausübt.

Es ist lächerlich, wenn sich ein Schweizer Journalist an den russischen Präsidenten Wladimir Putin wendet. Das wird er nicht zur Kenntnis nehmen, und selbst wenn, das geht ihm sehr schwer an einem bestimmten Körperteil vorbei.

Aber obwohl das für ihn so ist, ist mir mein Leben durchaus wichtig. Nicht nur meins, natürlich, aber doch in erster Linie. Und seit russische Truppen das AKW Saporischja in der Ukraine angegriffen und erobert haben, ist auch mein Leben direkt gefährdet.

Laut einem Video soll das technische Personal der Anlage die Angreifer angefleht haben:

«Hört auf zu schiessen, ihr gefährdet die Sicherheit der ganzen Welt.»

Bei der Eroberung des grössten AKW-Komplexes der Ukraine sollen russische Truppen auch Artillerie eingesetzt haben. Dabei sei ein Schulungszentrum zerstört worden, Artilleriegeschosse hätten zudem ein Reaktorgebäude beschädigt.

Laut Messungen sei aber kein Austritt von Radioaktivität festgestellt worden. Saporischja ist das grösste von insgesamt 5 ukrainischen AKW. Dasjenige von Tschernobyl haben russische Truppen schon erobert. 1986 ereignete sich hier ein katastrophaler Unfall, mehrere Trillionen Becquerel wurden in die Erdatmosphäre freigesetzt. Es ist der bislang grösste bekannte Unfall, der in einem AKW stattfand. Der damalige sowjetische Präsident Gorbatschow schrieb später, diese Katastrophe sei vielleicht noch mehr als seine Öffnungspolitik die wirkliche Ursache für den Zusammenbruch der UdSSR.

Der aktuelle Kremlherrscher hat nichts mit Glasnost am Hut

Welche Ironie der Geschichte, dass ein Denkschemata des kalten Krieges verhafteter russischer Präsident, der nichts, aber gar nichts mit Glasnost und Perestroika am Hut hat, nun riskiert, dass es zu einer weiteren nuklearen Katastrophe kommen könnte.

Kleiner Mann an grossem Schreibtisch mit zu vielen Telefonen.

Denn ein altes AKW mit sowjetischer Technologie ist schon gefährlich genug, auch wenn es nicht beschossen wird. Eine neuerliche radioaktive Verseuchung, die sich über grössere Teile von Europa ausbreiten könnte, wäre eine Menschheitskatastrophe.

Alle nach 1945 Geborenen waren bis vor Kurzem der Illusion verhaftet, dass sie in ganz besonderen Zeiten leben. Nämlich in Europa und im Frieden. Dass wir als erste Generation seit Jahrhunderten in den Frieden hineingeboren wurden und wohl auch in friedlichen Zeiten uns verabschieden werden.

Natürlich war das realitätsfern, dafür musste man die Katastrophe beim Zusammenbruch von Jugoslawien ausklammern. Dabei musste man übersehen, dass damals die NATO ohne UNO-Mandat und somit völkerrechtswidrig militärisch eingriff und nicht nur bei der Bombardierung von Belgrad viele Zivilisten starben.

Natürlich gilt auch, was die deutsche Regisseurin und Schauspielerin Katharina Thalbach sagt: «Wir wollen nur mal eins feststellen: Krieg war in den letzten Jahren ständig auf der Welt. Es ist jetzt nur für uns sehr nah.»

Alles so weit weg …

Aber so ist der Mensch. Irak, Jemen, die gesamte arabische Welt, Somalia, Äthiopien, die afrikanische Landkarte ist überzogen von Herrschaftsgebieten von War Lords. In Asien finden an unzähligen Orten grössere oder kleinere Schlachtereien statt. In weiten Gebieten von Lateinamerika herrscht Rechtlosigkeit, Faustrecht.

Aber das ist alles weit weg. Die Ukraine liegt, wie viele erstaunt feststellen, in Europa. Also haben wir einen europäischen Krieg. Als der schmutzige Vietnamkrieg der USA eine ganze Generation politisierte, war das auch ein ferner Krieg. Die Achsen des Guten und des Bösen, was hatten wir eigentlich damit zu schaffen.

Der Friedensnobelpreisträger Obama, der in der Tradition seines Vorgängers Kill Lists abarbeiten liess, Todeslisten von wirklichen oder vermeintlichen Terroristen und Fundamentalisten, die überall auf der Welt und unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft von US-Kommandos oder Drohnen umgebracht wurden, Kollateralschäden inbegriffen: auch das war weit weg. Der bis heute als Elder Statesman bewunderte Henry Kissinger, der mutmasslich ein Kriegsverbrecher ist, alles weit weg.

Unerträglicher Flachsinn in den Gazetten

Auch die Ukraine, Hand aufs Herz, ist ziemlich weit weg. Was ganz nahe ist, ist Heuchelei und Maulheldentum. Teilnahme der Schweiz an den Olympischen Spielen in Peking? Aber sicher. Ausschluss von russischen Behindertensportlern an den Paralympics in Peking? Aber sicher. Scharfe Zurechtweisungen und Forderungen Richtung Moskau und Bern, gepöbelt vom sicheren Schreibtisch aus im mit russischem Erdgas wohlbeheizten Büro? Aber sicher.

Differenzierung, Hintergründe, Erklärungen, praktische Hilfe? Sicher nicht von diesen Schreibtätern und Schreikräften. Das alles erfüllt einen mit tiefem Elend. In Russland ist nach den neusten Gesetzen keine sinnvolle Berichterstattung mehr möglich; immer mehr westliche Korrespondenzen werden geschlossen. In der Schweiz wäre differenzierte, Qualitätsansprüchen genügende Berichterstattung von keinem Gesetz untersagt.

Findet dennoch nicht statt. Selbst ein Randgruppenorgan wie der «infosperber» feuert einen langjährigen Mitarbeiter, weil der es unterlassen habe, «die Politik von Putin auch kritisch zu analysieren».

All dem ist der Einzelne hilflos ausgeliefert. Ein kleiner Lichtblick in dieser Düsternis ist die gelebte Menschlichkeit und Hilfsbereitschaft von erstaunlich vielen. In erster Linie von angeblich fremdenfeindlichen, rassistischen, kaltherzig gegen die Aufnahme von Flüchtlingen vorgehenden Staaten wie Polen, Ungarn, Slowakei.

Was bleibt: Ich möchte nicht verstrahlt werden, weil ein atomar bewaffneter grosser Töter ein anderes Land überfällt, weil er’s kann und weil ihn niemand dran hindern kann. Nein, ich fordere Putin nicht zum sofortigen Rückzug aus der Ukraine auf. So lächerlich will ich mich nicht machen. Aber ich kann sagen: Herr Präsident Putin, Sie sind ein verbrecherisches Arschloch, und hoffentlich haben sie noch ein kurzes Leben.

Napoleon-Komplex?