China-Missversteher, Teil 2
“In China gibt es aber immer nur alles oder nichts”
Von Felix Abt
Hier geht es zum Teil eins.
Thomas Baumann schreibt in seinem Artikel, dass Peking «praktisch jedes einzelne Viruspartikel bekämpft«. Und dass die Partei “paranoid” ist und es für sie nur eine Politik des «alles oder nichts» gibt. Das bedeutet deshalb zwangsläufig eine totale Abriegelung während der Covid-Pandemie! Ich gebe zu, dass ich kein China-Experte bin, aber ich kenne einige, die es wirklich sind. Einer von ihnen ist mein Freund Jerry Grey, der ein britischer Polizeioffizier war, dann Chef des größten Sicherheitsunternehmens in Australien und jetzt seit 20 Jahren mit seiner chinesischen Frau in China lebt. Seine Leidenschaft ist das Radfahren durch das Land. Der rüstige Rentner, der fließend Mandarin spricht, hat Zehntausende von Kilometern auf seinem stählernen Drahtesel zurückgelegt und war zum Beispiel mehrmals in Xinjiang und der Inneren Mongolei unterwegs.
Zu Covid schrieb er mir folgendes: “Es stimmt, die Covid-Politik wurde zentral festgelegt, die Umsetzung erfolgte auf kommunaler Ebene, die nicht einheitlich war – während fast drei Jahren. Ich reiste an viele Orte und erlebte viele verschiedene Situationen, aber es gab kaum Abriegelungen nach dem ersten Februar 2020 bis Ende 2022, als die Welt die Abriegelung Shanghais sah – zur gleichen Zeit gab es Abriegelungen in Guangzhou, aber ich reiste in und aus Guangzhou, trotz Abriegelungen, zum Beispiel war Liwan vielleicht offen, aber Yuexie war abgeriegelt, Huadu war vielleicht offen, aber Baiyun nebenan war abgeriegelt. Zwei Jahre lang gab es so gut wie keine Einschränkungen. Meine Frau und ich sind im März, April und Mai 2021 sieben Wochen lang mit dem Fahrrad von Zhongshan in Guangdong aus durch die ganze Provinz und nach Guanxi gereist und haben wahrscheinlich mehr als 50 Städte ohne jegliche Einschränkungen besucht. Ein Beweis dafür sind meine WeChat-Momente, in denen ich fast jeden Tag gepostet habe.”
Neben der Aussage von Jerry Grey habe ich ähnliche Aussagen von anderen in China lebenden Ausländern und von Chinesen gehört.
Eine weitere steile These von Herrn Baumann ist diese: «Die WHO musste erst die chinesische Regierung bitten, informiert zu werden, während halb Asien bereits nervös flüsterte.» Er erwähnt nicht, dass die USA (dank Donald Trump) die Pekinger Niederlassung der CDC einige Monate vor dem Covid-Ausbruch geschlossen hatten und dass sie aktiv in den Prozess eingebunden gewesen wäre, wenn sie noch geöffnet gewesen wäre. Es gibt auch eine Covid-Zeitleiste, aus der klar hervorgeht, dass die CDC in den USA am 31. Dezember 2019 benachrichtigt wurde und die DNA-Sequenz am 11. Januar 2020, also nur 12 Tage später, von China veröffentlicht wurde. Während dieser Zeit war es noch möglich, im benachbarten Vietnam ein- und auszureisen, und ich konnte nirgendwo ein «Nervenflattern» feststellen. Sicherlich wurden in Wuhan Fehler gemacht (z. B. wurden Großveranstaltungen nach Bekanntwerden des Virus nicht abgesagt), was zur Entlassung von hochrangigen Partei- und Stadtverwaltungsbeamten führte.
Gulag-ähnliche Bedingungen?
Herr Baumann schreibt von «Xinjiang-spezifischen Internierungslagern«. Die Provinz Xinjiang hat 25 Millionen Einwohner, so viele wie Australien, das über 100 Gefängnisse hat. Natürlich gibt es auch in Xinjiang Gefängnisse. Viele der Erziehungsstätten und Berufsschulen (im Westen oft «Internierungslager» genannt), die nach jahrelangen Terroranschlägen uigurischer Islamisten eingerichtet wurden, stehen jedoch auch allen anderen ethnischen Gruppen offen. Wer sich informieren will, was sich genau abspielt, kann das hier, hier und hier tun.
Chinesischer Überwachungswahn?
Herr Baumann schreibt von Nachbarschaftskomitees, «alten Vierteln, die verschwinden, um neue zu bauen«, – «riesigen Wohnkomplexen, die auf dem Lande gebaut werden – unter perfekter Überwachung.» Mit anderen Worten: Es wird alles getan, damit die drangsalierten Chinesen auf Schritt und Tritt von der Kommunistischen Partei überwacht werden können.
Zunächst einmal gibt es auch in Vietnam Nachbarschaftsausschüsse. Dort, wo ich wohne, kümmert sich das Nachbarschaftskomitee nicht darum, wer in meinem Haus ein- und ausgeht. Sie kümmern sich eher darum, dass es weniger Stromausfälle gibt, dass die Straßen repariert werden und dass das Internet schneller wird. Wenn es denn das Komitee nicht gäbe, würde ich vorschlagen, eines zu gründen.
Jerry Grey erklärte mir, dass in China die Nachbarschaftskomittees die Grundlage der chinesischen Demokratie sind, da sie den lokalen Behörden Vorschläge unterbreiten, die schließlich zu neuen Gesetzen führen können. Sie sind keine «neugierigen» Nachbarn, sondern Freiwillige, die sich für die Bedürfnisse ihrer Gemeinschaft einsetzen. “Ein weiterer kleiner Mythos über den Social Credit Score stammt ebenfalls aus diesem Bereich: Menschen, die sich ehrenamtlich engagieren, können für ihre guten Taten Punkte sammeln und erhalten früher Zugang zu Eintrittskarten für Veranstaltungen, können ihre Kinder auf bessere Schulen schicken und können diese Punkte sogar als Nachweis dafür verwenden, dass sie gute Bürger sind, wenn sie sich um eine Parteimitgliedschaft bewerben wollen. Aber niemand ist verpflichtet, einem Nachbarschaftskomitee beizutreten.” Oder zusammenfassend: Wer freiwillig anderen hilft, wird dafür belohnt.In diesem Artikel stellt und beantwortet Jerry Grey die Frage, ob das vermeintlich allumfassende Sozialkreditsystem, das im Westen als repressives Instrument gebrandmarkt wird, überhaupt existiert.
Jerry Grey erklärt: “Was das Verschwinden alter Stadtviertel angeht, so ist das absolut richtig – man darf nicht vergessen, dass China vor 70 Jahren wirtschaftlich zu den fünf schwächsten Nationen der Welt gehörte. In vielen Regionen ist die Wirtschaft immer noch unterentwickelt, und Xinjiang ist da keine Ausnahme. Oft reden die Leute über Kashgar, wenn sie über das Thema sprechen, und ich habe das auch in einem Video auf Substack behandelt.”
Auch in Vietnam werden alte, dicht gedrängte Stadtviertel, die teilweise überfüllt sind und nicht einmal genug Platz für die Müllabfuhr haben und in denen oft keine Autos geparkt werden können, durch großzügigere Viertel ersetzt. Ich kenne vietnamesische Stadtplaner, die sich nicht so sehr um die Sicherheit der Regierung kümmern, sondern viel mehr darum, sichere Straßen für ihre Nutzer und Orte zu schaffen, an denen Kinder in Sicherheit spielen können.
Fortsetzung folgt