Phantom-Journalismus
Tomas Avenarius berichtet aus 1001 Nacht. Äh, aus Damaskus.
Normalerweise fällt Avenarius mit krachenden Fehlprognosen auf. So sah er schon das baldige Ende Putins nahen. War dann nix. Als Spezialist für alles hatte er auch die definitive Analyse für die Zukunft des Gazastreifens zur Hand: «Knallharter, unparteiischer Druck auf Israelis, Palästinenser und Iraner – das ist das Einzige, was vielleicht noch Aussicht auf Erfolg hätte.»
War dann auch nix. Nach so vielen Fehlschlägen verlegt er sich nun auf einen Bericht aus der Twilight Zone. Er will sich in Damaskus mit einem ehemaligen «Offizier des Militärnachrichtendiensts» getroffen haben.
Der will nichts Besseres zu tun haben, als sich an einem öffentlichen Ort mit einem unauffälligen ausländischen Journalisten zu treffen und ihm ins Hemd zu heulen.
Gerd Heidemann ist tot, Avenarius lebt: «Der Mann schaut sich um im leeren Café, setzt sich an einen der hintersten Tische, scannt den Raum mit unruhigen Augen. Er steht auf, setzt sich um, nun mit dem Rücken zu der winzigen Kamera, die er in einer Ecke unter der Decke entdeckt hat. Der Mann zieht die Kapuze über den Kopf.»
Wow, was für ein konspirativer Einstieg. Dann geht’s los: «Da sitzt Rami Habib und erzählt mit leiser Stimme. Vielleicht ist es das schlechte Gewissen, vielleicht auch nur die Angst vor Mithörern.» Natürlich heisst er nicht so, natürlich konnte er nichts dafür:
«Rami Habib, Hauptmann beim gefürchteten Militärgeheimdienst in Damaskus, konnte nicht anders. Er musste mitmachen. Eigentlich wollte er all das nie.»
Einfühlsam, aber dennoch mit kritischer Distanz beschreibt Avenarius die Lage: «Eine Woche nach dem Sturz des Assad-Regimes sucht er Verständnis. Die Welt müsse doch verstehen, wie das System funktioniert habe. Für einen Alawiten wie ihn gab es keinen Ausweg. Dem Täter geht es um Gerechtigkeit. In erster Linie für sich selbst, nicht für die Opfer.»
Nach der üblichen Suada, die alle Schuldigen nach dem Zusammenbruch ihres Systems absondern, hat sich Avenarius noch einen besonderen Schlussknaller ausgesucht. Denn der Geheimdienstmann kennt nix; er habe das berüchtigte Gefängnis Saidnaya besucht:
«Als er durch die Haftanstalt gelaufen sei, habe er Angst bekommen: Die Besucher, viele auf der verzweifelten Suche nach Spuren zu ihren vermissten Angehörigen, hätten alle Alawiten verflucht beim Blick in die Verliese, Vergeltung angedroht. Dann schweigt Rami Habib einen kurzen Moment und sagt: «Das war ein Schlachtplatz für Menschen.»»
Das ist ungefähr so realistisch, wie dass ein ehemaliger KZ-Wächter oder ein Angehöriger der SS kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs mal einen Augenschein in einem solchen Vernichtungslager genommen hätte. Dabei Gefahr laufend, von einem der anderen Besucher oder ehemaligen Insassen erkannt zu werden.
Hanebüchen, das Ganze. Wie er sich der wahren Identität seines Gesprächspartners versicherte, wieso der solchen Mitteilungsdrang hat, als angeblich ganz einfacher Mensch ausgerechnet mit dem Korrespondenten der «Süddeutschen Zeitung» ein wenig plaudern will, der sich von Istanbul nach Damaskus begeben hat und dort offensichtlich gleich Zugang zu Geheimdienstmitarbeitern fand, die ja zurzeit nichts lieber täten, als sich öffentlich zu zeigen – scheunentorgross offene Fragen.
In der SZ erscheint die gleiche Räuberpistole unter dem Titel «Ich wusste alles» und ist um ein Drittel länger.
Tamedia, gesegnet mit einer hochkompetenten Auslandredaktion, übernimmt diesen Stuss auch noch und holzt ihn auf die ihr passende Länge zusammen.