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Wo sind sie geblieben, wer hat sie versteckt?

Es war ein guter Plan. ZACKBUM kauft die «SonntagsZeitung» und die «NZZamSonntag», haut sich mit ihnen in die besonnte Wiese und liest.

Allerdings muss es da zu einer fiesen Guerilla-Aktion gekommen sein. Für stolze 6.40 Franken wurden 62 Seiten eines Look-Alike ausgehändigt. Eine Imitation der SoZ, von irgendeinem C-Team zusammengeschustert. Auf der Front, in täuschend ähnlicher Aufmachung, unter dem Original-Logo, ein Riesenschwarzweissfoto von Dutti. Vorwand: «100 Jahre Migros. Erfolge und Skandale».

Autor der mehrteiligen Serie ist der unermüdliche Arthur Rutishauser, dessen Text irgendwie den Weg in diese Nachahmung fand.

Aber sonst? «In der Badi daheim. Bei den Stammgästen am Beckenrand». Wie verzweifelt muss man sein, das eine «Reportage» zu nennen? Und daraus fast eine Doppelseite mit anmächeligen Riesenfotos zu machen?

«An der Sonne. Wann ist es zu viel? Tipps der Ärztin». Wie verzweifelt muss man sein, daraus eine Doppelseite mit einem Riesenriesensymbolfoto zu machen? Und das dann noch «Sonntagsgespräch» zu nennen?

Fast eine Doppelseite, wie der Ortsbildschutz den Neubau eines Hauses blockiert. Wie verzweifelt muss man sein, oder sagten wir das schon?

Riesenfoto von Blocher Vater und Blocher Tochter, auf Heuhaufen sitzend. Kleine Story, dass die SVP mit Bauernverbänden über Kreuz liegt, die die EU-Verträge gut finden. Hätte man in besseren Zeiten eine Meldung, allerhöchstens eine halbe Spalte draus gemacht.

Dann beginnt nach den Badistammgästen das grosse Blättern.

Wirtschaft? Geschichtsstunde über Dutti, und sonst nicht viel.

«Leben & Kultur» und der ganze Rest? Aufmacher: «Während unserer Ehekrise war Chat-GPT wie eine Schulter zum Anlehnen». Der Text könnte von einer KI geschrieben worden sein, hat aber angeblich eine Autorin.

Andreas Vollenweider. Ja, der Harfengott lebt noch und greift auch noch rein.

Dann durfte eine Journalistin auf Kosten des Hauses ein Luxus-Ferienressort in der Provence besuchen. Das sei ihr gegönnt. Allerdings: «Suiten ab 1100 Euro». Pro Nacht, versteht sich, Verpflegung extra. Genau die Preisklasse für den SoZ-Leser.

Rätsel, Rätsel, Rätsel, TV-Programm und ein erschütternder Bericht, wie die Kultur der absaufenden Insel Tuvalu gerettet werden soll.

Dann die Erlösung: das war’s. Bleibt die Frage: wer war das? Die Überreste der «SoZ»-Redaktion oder wurde ausgesourct? Oder hat sich hier jemand einen üblen Scherz erlaubt?

Die gleiche Frage stellt sich bei der «NZZamSonntag». Schlappe 52 Seiten für stolze 7.10 Franken. Die Look-Alike Front:

Wenn der angeblich neue Körperkult sprechen könnte, würde er uns vielleicht etwas sagen. So aber wird eine nichtssagende Doppelseite mit schwellenden Muskelfotos draus.

Zuvor Turnübungen am Sprachreck von Chefredaktor Beat Balzli (mitsamt Bauchlandung beim Abgang) und Zahlensalat zum Dichtestress.
Dann ein Kriminal-Tango-Foto vom Gottseibeiuns Björn Höcke von der AfD. «Wolf im Wolfspelz»; für einen solchen Titel ist nicht mal ein Hitzschlag eine Entschuldigung.

Dann beginnt auch hier das Blättern. Kurzer Zwischenhalt beim Kampffeministen Peer Teuwsen, der die «Debatte» eröffnet mit: «Der Frauenfussball braucht keinen Artenschutz». Gegenteiliges hat auch niemand behauptet.

In der Wirtschaft hat der Chef der Schweizerisch amerikanischen Handelskammer seinen grossen Auftritt. Auch er wird dem Sommerloch dankbar sein dafür.

Der Dilettantenstadl zwischen Klaus Schwab und dem WEF profitiert auch von «und sonst haben wir wirklich nichts?»

«Wissen» droht: «Tod aus Schlafmangel». Die «Kultur weiss Abhilfe: «Museum der Langweile». Also das Zürcher Kunsthaus besuchen, schon schnarcht man friedlich. Dann noch die Sommerquälserie: «Postkarte aus Vaduz». Ein Kaff, das man nie besuchen möchte. Ausser, man will dort seine Stiftung streicheln. Wenn sie einem noch nicht geklaut wurde.

Auch hier endet endlich die Qual. Und auch hier bleibt die Frage: wer war das? Sogar das «Magazin» der NZZaS schlägt fotografisch nach unten alles, was es sich sonst schon leistet.

Wurde auch hier ein Dummy hergestellt und versehentlich ausgeliefert?

Es gäbe auch noch den SoBli? Also bitte, es gibt Grenzen.

So war die Lektüre auf der besonnten Wiese in ungefähr 15 Minuten vorbei. Fast ein Stutz pro Minute für nix. Gut, dass ZACKBUM vorausschauend den Riesenwälzer «Permafrost» von Viktor Remizov dabei hatte. Das sorgt nicht nur wegen des Titels für Abkühlung. Sondern ist ein Riesenstück Literatur, Liga Grossman oder Tolstoi.

Wie 15 Minuten zur Ewigkeit werden

Nora Zukker von Tamedia ist noch im Amt. Manche mögen das bedauern.

Die ehemalige Literaturchefin (jetzt ist sie nur noch «Literaturredaktorin») lässt die Verfasser von Werken weitgehend in Ruhe. Die Literatur dankt es ihr.

Nun hatte Zukker Gelegenheit, 15 Minuten mit Otto Waalkes zu verbringen (ja, den gibt es auch noch, und er malt). Sie melkt aus dieser Begegnung einen ellenlangen Text. Wie man das macht? Na klar, man beginnt mit einem Gespräch mit dem Taxifahrer (immerhin muss sie trotz Sparmassnahmen keinen ÖV verwenden).

Dann braucht es eine  Ortsbeschreibung: «Man betritt das Haus und ist sofort in der Ottifanten-Mania. Auf der Toilette gibt es Ottifanten-Taschentücher, vor fast jeder Tür eine Ottifanten-Fussmatte, alle Gläser, Tassen und Teller: Ottifanten-Geschirr.»

Die Einordnung darf nicht fehlen:

«Loriot, Helge Schneider und Otto haben die deutsche Komik zu einem guten Ort gemacht

Dabei vergisst Zukker ungefähr ein Dutzend andere, von Harald Schmidt abwärts. Aber fundierte Kenntnisse waren noch nie ein Kriterium, um bei Tamedia was zu werden.

Dann ein offenes Wort, womit sie sich zufrieden gibt: «15 Minuten bekommt, wer sich angemeldet hat, vielen Journalistenkollegen war das zu wenig.» Aber he, ist doch genug, wenn man mal auf Spesen aus dem Glashaus an der Werdstrasse raus darf.

Dafür kann sie die Kunst, aus 15 Minuten für den Leser eine gefühlte Ewigkeit zu machen.

Sie mäandert zum Gespräch mit dem Künstler: «In wenigen Wochen wird er 77, also müssen wir ihn ansprechen: The Ottifant in the room (nur einmal, versprochen!) – das Alter. Das ist ja so eine Sache mit den berühmten Männern, die in aller Öffentlichkeit älter werden und manchmal lustige Dinge tun, um nicht vergessen zu gehen. Aber Otto sieht einfach immer noch aus wie Otto, das fliehende Haar, die wachen Augen, er spricht schnell und präzise und hat sich das Kindliche bewahrt, einer seiner grössten Schätze vielleicht.»

Routiniert spult Otto ein Best-of seiner Interviewantworten ab, schliesslich hat er sein neustes Werk zu verkaufen. Er malt berühmte Gemälde nach, eine Hammeridee. Aber herrje: «Gleich sind die 15 Minuten vorbei, letzte Frage: An welches Kunstwerk haben Sie sich bis jetzt noch nicht herangetraut, Otto? «Ich möchte irgendwann ‹Die Nachtwache› von Rembrandt malen, aber es sind so viele Leute auf dem Bild.»»

Heissasa, es gab noch einen Nachschlag: «Nach dem Interview sitzen wir zusammen am Tisch, essen Fruchtsalat von Ottifanten-Tellerchen und trinken Kaffee aus Ottifanten-Tässchen. «In der Schweiz gab es noch nie eine Otto-Ausstellung. Haben Sie dort gute Kontakte?», fragt er.»

Cleveres Kerlchen, das muss man ihm lassen. Auch clever von Zukker, dieses 15-minütige Interview (plus Fruchtsalat) zur Selbstvermarktung Ottos zu benützen, um sich einen netten Ausflug zu gönnen.Das sei ihr gegönnt.

Daher ersparen wir ihr die Frage, so als Kulturredaktorin, was sie eigentlich von «Permafrost» von Viktor Remizov hält. Gerade auf Deutsch erschienen und auf der Flughöhe von Wassili GrossmanLeben und Schicksal»), der wiederum in der Liga Tolstoi schrieb.

Aber he, das Werk hat 1253 Seiten, der Schinken könnte einem beim Lesen auf den Kopf fallen, was für Zukker durchaus ein literarisches Kriterium ist. Und dann müsste man ihr erklären, wer Grossman und wer Tolstoi war, die haben auch gewaltige Schinken geschrieben.

Also dann doch lieber Otto Waalkes, dem man wohl nicht zu nahe tritt, wenn man ihn als begabten Volkskomiker bezeichnet, der aufs Alter die Malerei entdeckt hat. Die wiederum, Kultur ist halt komplex, hat eigentlich wenig mit Literatur zu tun.

Womit sich der Kreis zur Literaturredaktorin Zukker schliesst: sie auch nicht.

Hass und Lügen

In die heiligen Hallen des NZZ-Feuilletons hat es eine selten demagogische Schmähschrift geschafft.

Im grossen, grossen «Wir hassen Putin und die Russen»-Chor ist eine Stimme fast untergegangen. Ihr Werk trägt den dialektischen Titel «Putin hat den Westen längst besiegt» und erschien in grosser Aufmachung am 30. April 2022.

Die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko behauptet darin: «Mit ihrer blinden und ahnungslosen Begeisterung für die russische Literatur haben sich westliche Intellektuelle zu Komplizen des Despotismus gemacht.»

Bei Sabuschko ist zunächst sozusagen das Somm-Phänomen zu konstatieren. 1961 geboren, trat sie 1987 in die KPdSU ein, offenbar im Rahmen ihrer Promotion am Philosophischen Institut der Ukrainischen Akademie der Wissenschaften.

Von dort hat sie den weiten Weg zur Denunziantin und Polemikerin ohne Grenzen oder Hemmungen zurückgelegt. Ihr Thema ist die über Literatur und intellektuelle Blindheit erfolgte angebliche «Komplizenschaft westlicher Intellektueller».

Die äussere sich zum einen ganz praktisch: «So handelte Sartre, wie man inzwischen weiss, im Dienst des KGB, so wurde Hemingway vom KGB bereits in Spanien rekrutiert – was ihn letztlich psychisch fertigmachte.»

Beide Behauptungen sind höchstens von Gerüchten gestützt. So soll sich der bekennende Antifaschist und Unterstützer der spanischen Republik Ernest Hemingway 1941 beim KGB erkundigt haben, ob er in irgend einer Form helfen könne. Nach dem Überfall von Hitler-Deutschland auf die UdSSR, notabene. Ein abtrünniger KGB-Agent publizierte 2009 in den USA ein Buch, dass er entsprechende Einträge 1990 in KGB-Archiven gesehen hätte. 1941 war die spanische Republik längst vom Faschisten Franco besiegt worden.

In diesem angeblichen KGB-Archiv sei aber auch vermerkt gewesen, dass der Schriftsteller ein «dilettantischer Spion» sei, der «keinerlei nützliche Information geliefert» habe. Sein Ansinnen war offenbar so erfolgreich wie seine Patrouillen vor Kuba mit seinem Fischerboot, wo er feindliche Nazi-U-Boote ausmachen wollte.

Dass ihn das «psychisch fertigmachte», ist reine Erfindung, ebenso wie das Handeln Sartres im «Dienst des KGB». Auch Suzanne Massie, Beraterin des US-Präsidenten Ronald Reagan, Bestellerautorin und Besitzerin eines russischen Passes, erregt den Hass von Sabuschko. Die 1931 in New York geborene Wissenschaftlerin hatte im Mai 2021 öffentlich um die Staatsbürgerschaft nachgesucht, um an ihrem «siebten Buch über Russland weiterarbeiten zu können». Oder in den Worten von Sabuschka: «Der Guru der amerikanischen Slavistik» habe das getan, «da sie offensichtlich dachte, dass es angenehmer sei, den Lebensabend in einer eigenen Wohnung in St. Petersburg zu geniessen als wegen Hochverrats im eigenen Land im Gefängnis».

Worin dieser Hochverrat bestehen soll, weswegen die 91-Jährige ins Gefängnis geworfen gehörte – das erklärt die von tiefem Humanismus durchtränkte Sabuschko leider nicht.

Schliesslich erregt natürlich auch der Exil-Russe und Nobelpreisträger Josef Brodsky ihren Hass. Gegen einen kritischen Essay von Milan Kundera sei der «mit wehenden Fahnen herbeigeeilt, um die russische Literatur zu verteidigen, und verkündete im Tonfall eines sowjetischen Agitators «Warum Milan Kundera in Sachen Dostojewski falschliegt». Er geiferte seinen Opponenten an wie ein heutiger Bot in den Social Media.» Also auf einem ganz anderen Niveau als diese geifernde Hasstirade vom ehemaligen Mitglied der kommunistische Partei der Sowjetunion Sabuschko. Allerdings schrieb Brodsky damals: «Soldaten repräsentieren nie die Kultur, geschweige denn die Literatur – sie tragen Knarren, keine Bücher.» Ist das Gegeifer?

Natürlich kann sie Brodsky auch sein Gedicht über die Ukraine nicht verzeihen, obwohl das eigentlich nur für Insider verständlich ist

Die «wahre Scholastik der Moderne»

Aber das sind nur Einzelbeispiele für ein viel grundlegenderes Problem, das Sabuschko entdeckt haben will: «Die unzähligen, verzweifelten Anstrengungen kartesianisch geschulter Hirne, zu dechiffrieren, «was Putin will» – das ist die wahre Scholastik der Neomoderne!»

Scholastik war das Gegenteil der Aufklärung, die sich darum bemühte, mittels Erkenntnis die Welt besser zu verstehen – und zu verbessern.

Dann in einem atemberaubenden Salto hierher: «Mit der Folge, dass, als an der Spitze Russlands schliesslich ein KGB-Offizier stand – Angehöriger einer Organisation, die seit 1918 direkt für die meisten und grössten Verbrechen gegen die Menschlichkeit über eine einzigartig lange Zeitspanne der modernen Geschichte verantwortlich war –, niemand im Westen mehr erschrecken wollte, so wie das etwa bei einem Gestapo-Offizier der Fall gewesen wäre.»

Den Boden dafür bereitet – nun turnt sie wirklich im faktenbefreiten Raum der reinen Demagogie – haben russische Autoren wie Tolstoi, der postuliert habe, dass es «keine Schuldigen auf der Welt» gebe. Wer diesen «russischen Humanismus akzeptiere», «– dann herzliche Glückwunsch: Sie sind auch bereit für den Einmarsch der russischen Armee. Und vor diesem Hintergrund ist es Zeit, die russische Literatur unter einem anderen Blickwinkel zu lesen, denn sie hat fleissig an dem Tarnnetz für die russischen Panzer mitgeknüpft.»

Lew Tolstoi beim Knüpfen eines Tarnnetzes für Panzer.

Was zur Folge habe: «Inzwischen lässt sich wohl kaum leugnen, dass Putins Angriff am 24. Februar pures Dostejewskitum im Sinne Kunderas war, und genau unter dieser Perspektive lässt sich der Feldzug richtig verstehen: Unberührt vom Denken Kants oder Descartes, aber auch von Clausewitz, handelte es sich um die Explosion reiner destillierter Bösartigkeit, eines lang unterdrückten historischen Neids und Hasses, verstärkt durch das Gefühl absoluter Straflosigkeit.»

Wie in biblischer Verdammnis gibt es laut Sabuschko das reine Böse, das nicht verstanden werden kann, dem man sich nicht mit «Scholastik» nähern sollte.

Sie steigert sich dann in einen erschreckenden Ausbruch, den wohl nicht einmal der tiefe Kenner der menschlichen Seele Dostojewski hätte beschreiben können: «Diejenigen, die in Butscha eine Mutter an den Stuhl fesselten, damit sie zusehen musste, wie man ihren elfjährigen Sohn vergewaltigte – das sind auch die Helden der wunderschönen russischen Literatur, die ganz normalen Russen, die gleichen wie vor hundert und vor zweihundert Jahren.»

Das sind die Helden von Turgenew, Puschkin, Tschechow, Gorki, Scholochow, Ehrenburg, Pasternak, Majakowski? Welch ein Wahn.

 

Was kann man gegen diesen Wahnsinn tun? Nein, nicht gegen den von Sabuschko. Sie empfiehlt: «Der Weg der Bomben und Panzer wird immer auch von Büchern geebnet, und wir sind zurzeit Augenzeugen davon, wie die Wahl der Lektüre das Schicksal von Millionen beeinflusst. Es ist höchste Zeit, unsere Bücherregale langen und strengen Blickes durchzusehen

Bücherregale durchsehen – und dann?

Wenn wir sie richtig verstehen, sollten wir also neben der gesamten russischen Weltliteratur auch Sartre, Hemingway, Massie, dazu den angesehenen Politwissenschafter John J. Mearsheimer, auch Exil-Autoren wie Josef Brodsky aus unseren Bibliotheken entfernen. Ob es mit der Übergabe ins Altpapier getan ist, oder ob es doch besser wieder zu Bücherverbrennungen kommen sollte, das lässt die Autorin offen.

Im Unterschied zur vollständigen Zensur in der Ukraine oder in Russland ist es im Westen, in der Schweiz, glücklicherweise möglich, dass auch solche Stimmen publiziert werden. Keine These sollte zu absurd sein, um nicht auf die öffentliche Schlachtbank geführt zu werden.

Allerdings gibt es hier zwei Probleme. Ob es wirklich dem Niveau des NZZ-Feuilletons entspricht, einen solchen mit hasserfüllten Denunziationen erfüllten Artikel unkommentiert zu übernehmen? Das zweite: es hat sich bislang keine Stimme erhoben, um auf die unzähligen Ungereimtheiten, demagogischen, unbelegten Behauptungen zu entgegnen. Und vor allem darauf hinzuweisen, dass es nicht angehen kann, die Weltliteratur eines ganzen Kulturkreises dermassen bösartig, undifferenziert als schuldhafte Vorbereitung eines Angriffskriegs zu beschimpfen.

Das ist ungefähr so abgründig dumm, wie wenn man Goethe, Schiller, Lessing, Heine und viele andere leuchtende Sterne der deutschen Literatur als Wegbereiter von Hitler-Deutschland mit seinen Jahrhundertverbrechen denunzieren würde. Traute sich das einer, massive Gegenwehr wäre gewiss. Aber Russland? Da ist alles erlaubt. Selbst das Infame.

Nts, nts, nts, bum

Wer nicht verurteilt, wird verurteilt.

Das Suworow-Denkmal im Kanton Uri erinnert an 1799 und wurde 1899 von einem russischen Fürsten errichtet. Seit einem Farbanschlag in Blau-Gelb ist es in Sippenhaft genommen. Wegputzen sollen die Sauerei übrigens die Russen selbst, denn denen gehört das Denkmal.

Russische Künstler, Komponisten, Schriftsteller aus längst vergangenen Zeiten, die zur Weltkultur gehören: weg damit. Selbst im kältesten Kalten Krieg, als sich die Sowjetunion und die USA atomar bis an die Zähne bewaffnet gegenüberstanden und überall auf der Welt Stellvertreterkriege führten, las man Tolstoi, hörte man Tschaikowski, betrachtete man Malewitsch, analysierte man Reflexionen von Bucharin, bewunderte man das wohntemperierte Klavier von Richter, und staunte man über Gagarin.

Schlimmer als die christliche Kirche in ihren finstersten Zeiten, als sei die Eigenschaft russisch gleichbedeutend mit des Teufels, satanisch, verderblich, böse, unerträglich, wird nun tabula rasa gemacht.

Schlimmer als Inquisition und Islam

Schlimmer als der Islam, der das Zeugnis abfordert, dass Allah der einzige Gott sei und Mohamet sein Prophet, besteht die einzige Salvation für jeden Russen darin, sich mit Abscheu, deutlich und öffentlich vom Ukrainekrieg und seinem Regime zu distanzieren.

Halbheiten werden nicht geduldet. Behauptungen von im westlichen Ausland lebenden Russen, sie wollten ihre Verwandtschaft in der Heimat nicht gefährden, werden als faule Ausreden zurückgewiesen.

Der einzige Unterschied zu mittelalterlichen Bräuchen: der Putin-Leugner, der Nicht-Verurteiler landet nicht auf der Streckbank oder auf dem Scheiterhaufen. Da sind wir im 21. Jahrhundert immerhin etwas zivilisierter geworden. Die Vernichtung der sozialen Existenz reicht uns. Auch der Entzug der Einkommensgrundlagen. Ob Opernstar, Dirigent, Maler, Künstler: Bekanntheit, gar Prominenz war früher erstrebenswert, weil geschäftsfördernd. Inzwischen ist es zum Fluch geworden. Für Russen.

Und der Irrwitz feiert Urständ.

«Es ist eine Problematik, die bisher eher im Bereich der klassischen Musik zu finden war, wo ein Dirigent wie Waleri Gergijew oder eine Sängerin wie Anna Netrebko nach dem Einmarsch der russischen Truppen in die Ukraine nach ihrer Haltung zum Krieg und zu Wladimir Putin befragt wurden. Doch warum sollten in der Techno-Szene andere moralische Kriterien als in der Klassik gelten?»

«Moralische Kriterien»? Der «Spiegel» weiss wirklich nicht mehr, was er schreibt. Auf jeden Fall hat es jetzt auch die Russin Nina Kraviz erwischt. Die 34-jährige DJane ist eine grosse Nummer in der Techno-Szene, genauer Acid Techno, Minimal Techno und Deep House. Da produziert sie das für Nicht-Kenner ewiggleiche nts, nts, nts.

Damit begeistert sie die Fans – wenn man sie lässt. Denn auch sie stolperte über die inquisitorische Frage, wie sie es denn mit Putin und dem Ukrainekrieg halte. Seit sie es an der geforderten klaren Verurteilung mangeln liess, verliert sie Engagement auf Engagement, wird ausgeladen, ihre Plattenfirma distanziert sich. Keiner zu klein, Grossinquisitor zu sein. Ihre vergangenen und aktuellen Meldungen auf den Social Media werden seziert. Gewogen und für zu leicht befunden.

Verurteilung mit Inbrunst und aus voller Kehle

Ihre Verurteilungen des Krieges und des Regimes in Moskau erreichen leider nicht die geforderte Punktzahl, durchgefallen. Ihre Behauptung, ein unpolitischer Mensch zu sein: feige und untauglich. Auch bei ihr und an ihr muss ein Zeichen gesetzt werden. Denn die Verurteilung des verbrecherischen Putin-Kriegs hat in vorgeschriebener Lautstärke, mit vorgegebenen Worten, aber natürlich auch mit spürbarer innerer Beteiligung zu erfolgen.

Dem Sünder wurde von der heiligen Inquisition nicht einfach vergeben, wenn er ein paar laue und oberflächliche Worte des Bedauerns über seine Sünde verlor. Inbrunst ist gefordert, «ich mag den Teufel nicht», das ist ja nichts.

«Ich hasse ihn aus tiefster Seele, ich bereue abgrundtief, ihn nicht schon früher als solchen erkannt zu haben, ich leiste Abbitte, wandle in Sack und Asche, schultere das Kreuz, umwickle meine Taille mit einem Dornenkranz, kasteie mich und lobpreise den wahren Herrn, den freien Westen, den Helden Selenskij, alle heldenhaften Ukrainer, inklusive ukrainische Oligarchen.»

Das ist ja wohl das mindeste, was man heute von einem anständigen Russen verlangen darf.