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Alain Finkielkraut nervt

Auch die NZZ ist geschichtsvergessen.

Man kann den französischen Intellektuellen Finkielkraut interviewen. Man könnte sich kritisch mit seinen Behauptungen auseinandersetzen. Man sollte dann aber auch seine kurvenreiche Vergangenheit erwähnen, oberhalb des kurzen Schlenkers «Sie selbst waren einmal Maoist», auf den Finkielkraut salopp antworten darf: «ein paar Wochen», um dann das Thema zu wechseln.

Man hätte in seiner Biographie – oder zumindest in Form einer Frage – nicht auslassen dürfen, dass sich der Nationalist Finkielkraut auch schon so äusserte: «die einzige Partei, die die Franzosen mit ihrer verunsicherten Identität ernst» nehme, sei der «Front National», schwurbelte er 2013. Einwanderung führe zu einem Niedergang Frankreichs, seiner Kultur, ja seine «Identität» sei gefährdet.

Aber wie seinem Kollegen bei Tamedia geht es Benedict Neff von der NZZ mehr darum, einen Gleichgesinnten abzufragen, als sich seines Handwerks als kritischer Journalist zu besinnen. So rutscht Neff bereits auf einer Schleimspur ins Interview:

«Sie haben die woke Ideologie an den amerikanischen Universitäten schon früh kritisiert. Gelegentlich hielt ich Ihre Warnungen für übertrieben. Nach dem 7. Oktober und den Pro-Hamas-Demonstrationen an verschiedenen Unis dachte ich: Er hatte recht. Was ging Ihnen durch den Kopf? – Ich war schockiert. Ich war fassungslos. Ich war überwältigt. Sagen wir, um den französischen Autor Jean Racine zu paraphrasieren: Mein Unglück übertraf meine Hoffnung.»

Sozusagen als negative Ergänzung zu Lüscher stellt Finkielkraut dann die steile These auf: «Nach dem Massaker vom 7. Oktober scheint es, als sei der Antisemitismus das höchste Stadium des Wokeismus. Der Wokeismus reduziert die Komplexität menschlicher Konstellationen gnadenlos auf die Konfrontation von Herrschern und Beherrschten, Unterdrückern und Unterdrückten.»

So wie Lüscher den Antisemitismus vor allem rechts verortet, lebt er für Finkielkraut links: «Die Partei von Jean-Luc Mélenchon, La France insoumise, ist sehr explizit zu einer antisemitischen Bewegung geworden.» Da könnte ein Interviewer vielleicht nachfragen, woran konkret der Philosoph das festmache. Aber nachhaken war gestern, heute ist labern lassen.

So darf Finkielkraut ungebremst einen wahren Rachefeldzug starten: «Die humanitären Organisationen, die heute gegen Israel hetzen, verlieren kein Wort, um das Verhalten der Hamas anzuprangern.» Und: «Selbst der 7. Oktober wird wie der Eintrag in einer Buchhaltung behandelt. Es gab 1200 Tote und einige tausend Verletzte, während die israelischen Bombardements und Angriffe in Gaza viele, vielleicht 19 000 Tote gefordert haben. Viele Menschen verstehen nicht mehr, was Krieg ist. Sie wollen von der tödlichen Taktik der Hamas nichts mehr hören.»

Spätestens hier hätte Neff vielleicht auf die Berichterstattung im eigenen Blatt eingehen können:

Und haben während der illegalen und völkerrechtswidrigen Besiedelung der Westbank bis heute Hunderte von Palästinensern umgebracht, meistens ohne dafür zur Verantwortung gezogen worden zu sein. Auch das ist kein Eintrag in einer Buchhaltung. Aber ein Hinweis darauf, dass der Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis vielleicht etwas komplexer ist, als ihn Finkielkraut als terrible simplificateur darzustellen beliebt. Und was die extra hingereiste «NZZ-Reporterin» Andrea Spalinger zu erwähnen vergisst. Front National, woke ist Antisemitismus und der Feind im Inneren unserer Gesellschaft. Israelische Kriegsverbrechen? Wer davon spricht, verstehe nicht, was Krieg sei, behauptet der Philosoph.

Papierdünne Thesen, geeignet für ein kritisches Gespräch, in dem der wendige Debattierer Gelegenheit hätte, seine rhetorischen Fähigkeiten und intellektuellen Saltos in der Manege vorzuführen. Aber weil er nur abgefragt wird, kommen sein Antworten merkwürdig flach, matt, unanimiert daher. Dabei hat er im Gegensatz zu Lüscher durchaus intellektuelle Potenz, ist gestählt an der lebhaften Kultur der Auseinandersetzung in Frankreich, wo ihm allerdings schon lange Michel Houellebecq vor der Sonne steht, der noch radikaler und skandalträchtiger kantige Thesen vertritt.

Aber vielleicht fühlte sich Neff einem Interview mit dem nicht gewachsen und zog es vor, etwas gelahrter mit dem Mitglied der altehrwürdigen Académie française zu parlieren …

Die Krise der Intellektuellen

Gerade wenn man sie bräuchte, verlieren sie ihre wichtigste Fähigkeit.

Für manche ist es ein Schimpfwort, für andere eine Auszeichnung. Eine richtige Definition gibt es eigentlich nicht; ein Intellektueller ist wohl ein gebildeter, kompetenter Mensch mit allgemeinen oder speziellen Kenntnissen, der sich meistens öffentlich kritisch oder zustimmend äussert.

Vor allem aber sollte es jemand sein, der zu Differenzierungen fähig ist. Also das Gegenteil vom «terrible simplificateur», der sich in der Lage sieht, auch komplexeste Zusammenhänge auf ein einfaches Schwarzweiss runterzuhacken. Die Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und Israelis. Die Wirtschaft. Der Umweltschutz. Der Krieg in der Ukraine. Der Simplizist hat die einfachen, daher eingängigen Antworten.

Er braucht nicht mal ein Narrativ, Schlagwörter reichen. Wertungen laden sie zusätzlich und zwecks noch deutlicherer Erkennbarkeit auf. Als weiteres Mittel aus dem Nähkästchen der furchtbaren Vereinfachung kommt die Personalisierung zum Einsatz. Womit wir im Ukrainekrieg ein Erklärungsmodell gebastelt hätten, das hermetisch dicht, einfach, verständlich, für jeden überblickbar ist.

Mach’s einfach, mach’s falsch

Hier kämpft der böse Putin, der Schlächter, Wahnsinnige und Kriegsverbrecher, gegen den guten Selenskij, der Held, Staatsmann, der mutige Krieger.

Eigentlich wäre es nun die Aufgabe des Intellektuellen, dieses holzgeschnitzte, unzulängliche Abbild der Realität zu hinterfragen. Denn wenn etwas aus vielen tausend Jahren der betrachteten Geschichte und Gegenwart klar ist: es gibt nie Schwarzweiss. Die Wirklichkeit ist immer bunt, kompliziert, widersprüchlich, verwirrend.

Nun könnte man einwenden, dass es doch nicht jedem hirnwindungsmässig gegeben ist, nicht jeder Zeit für komplizierte Erklärungen komplexer Zusammenhänge hat. Schliesslich müsse auch ein ganzes Schlachtfeld wie die Ukraine in einem dreiminütigen Beitrag in der «Tagesschau» Platz finden. Eine Antwort in einem Soundbite von 15 Sekunden. Alles andere würde doch zu weit führen.

Man könnte eine Schwarzweiss-Welt für die Massen durchaus neben einer bunten Welt für freischwebende Intellektuelle unkommentiert lassen. Wenn solche Holzschnitzereien eben nicht immer zu gefährlichen Fehlschlüssen führen würden. Die Bewohner dieser einfach gestrickten Weltbilder nicht immer wieder ratlos zurückliesse, wenn es sich herausstellt, dass die Wirklichkeit eben nicht so einfach ist.

Die umgekehrte Beweisführung 

Das Dasein eines Intellektuellen sollte sich eigentlich – neben herausragender Wissensakkumulation und Fähigkeit zur Analyse – dadurch auszeichnen, dass er Fragen viel interessanter als Antworten findet. Dass Schwarzweiss spontan Allergie auslöst. Dass der Intellektuelle auch nicht davor zurückschreckt, unbequeme Frage zu stellen, gegen den Strom zu schwimmen. Dabei auch durchaus bereit ist, Irrtümer auf dem Weg zur besseren Erkenntnis in Kauf zu nehmen.

Zu diesem Besteck gehört so etwas Banales wie die in der Mathematik heimische umgekehrte Beweisführung. Also statt zu beweisen, dass etwas so ist, beweist man, dass das Gegenteil nicht sein kann. Die indirekte Beweisführung.

Das könnte zum Beispiel als Denkanlage sein: mal angenommen, Putin ist nicht ein wahnsinniger Schlächter, der im Blutrausch Länder überfällt, sie zerstört und von der Wiederherstellung eines zaristischen Imperiums träumt. Wenn er das nicht wäre, was ist er dann? Was will er? Was wäre für ihn ein Triumph?

Dagegen könnte man einwenden: was soll das, wozu soll das nützen, das ist doch einfach sinnlose Gedankenspielerei, überflüssig wie ein zweiter Kropf. Aber auch dieser Einwand ist krachend falsch. Wenn es gelingt, die wirkliche Motive und Gründe des Handelns von Putin aus ihm heraus zu erklären, kann man sich sinnvoll überlegen, mit welchen Angeboten man die Katastrophe in der Ukraine möglichst schnell beenden kann.

In Krisenzeiten werden Intellektuelle schwach

Denn es gibt ja nicht umsonst den Begriff des Pyrrhus-Sieges. Wenn also der Krieg, die Schlacht gewonnen wird, aber der Frieden, die Folgen sind schlimmer als eine Niederlage. Ein handliches und aktuelles Beispiel, wie sich Intellektuelle nützlich machen könnten.

Es ist aber auch aus der Geschichte bekannt, besonders hässlich und widerlich in den beiden Weltkriegen sichtbar, dass sich viele Intellektuelle in Krisenzeiten den Simplifizierern anschliessen. Statt Nachdenklichkeit und Analyse Hurrapatriotismus. Statt Zweifel und Fragen gebrüllte Antworten.

Natürlich gab es immer Widerstandsnester von Intellektuellen, die sich der allgemeinen Hysterie nicht anschlossen. Sie wurden immer beschimpft und niedergemacht, nicht zuletzt als Vaterlandsverräter, Helferhelfer des Feindes, Versteher und Schönredner. Erst im Nachhinein wurden sie gelegentlich als aufrechte Kämpfer rehabilitiert.

Auch heute steigt die Hysterie stündlich, schwindet der Platz für um Erkenntnis ringende Debatte. Auch kleine Würstchen spüren plötzlich den Mantel der Geschichte um sich wehen, blubbern von Zeitenwende, historischem Bruch und tun so, als wäre noch nie geschehen, was gerade geschieht. Das gibt ihnen den Anschein von Bedeutung, von Wichtigkeit. Ein Trugbild wie Schatten an der Wand.

Besonders widerlich sind dabei die Zeitgeist-Surfer, die gelenkig gängige Narrative bedienen und sich damit eine Position als «Spezialist», «Koryphäe», «Soziologe», «Russland-Kenner» erobern. Denn schlimmer als Schwarzweissschnitzer sind Intellektuelle, die mitschnitzen, statt ihre eigentlich Aufgabe wahrzunehmen. Nachzudenken, Fragen zu stellen, Erkenntnisse gewinnen, im Steinbruch der Wirklichkeit, die alles ist. Ausser schwarzweiss und simpel.