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Der klare Blick

Wollen wir es mal mit etwas Verrücktem probieren? Mit Zweckrationalität.

Die Zukunft ist nicht vorhersehbar, aber es gibt wahrscheinliche Szenarien. Dass Aliens landen oder ein Meteor alles Leben auf der Erde auslöscht, gehört zu den unwahrscheinlichen.

Im Fall der Ukraine gibt es drei Möglichkeiten.

  1. Russland bringt seine «militärische Spezialoperation» zu Ende. Das heisst, das Land wird erobert und in Kiew eine Marionettenregierung installiert, die Moskaus Interessen vertreten wird.
  2. Russland scheitert mit diesem Plan, es entwickelt sich ein Partisanen- oder Guerillakrieg, wo es wie in Afghanistan oder Vietnam keinen Sieger und keinen Verlierer gibt. Bis Russland des Aderlasses überdrüssig wird und sich zurückzieht.
  3. Es gibt einen Verhandlungsfrieden, bei dem Russland ein gesichtswahrender Rückzug erlaubt wird. Die Krim bleibt russisch, die östlichen Republiken auch oder werden einer Volksabstimmung unterstellt. Ebenfalls behält Russland einen Landzugang zur Krim.

Welche der drei Varianten wird’s wohl sein? Logischerweise ist Variante 3 vorzuziehen. Denn Russland erleidet zwar militärische Verluste und Schäden an seinen Hauptexportprodukten. Aber in der Ukraine sind bereits heute geschätzte Schäden von über 600 Milliarden Dollar an der Infrastruktur entstanden, vom menschlichen Leid ganz zu schweigen.

Kurzer Ausflug. Präsident Putin muss sich vorwerfen lassen, dass er sich ohne Not in eine Situation manövriert hat, aus der er nur als Verlierer herauskommt. Sollte es ihm gelingen, die Ukraine ganz unter Kontrolle zu bringen, lasten auf Russland die Kosten des Wiederaufbaus, eine gewaltige Hypothek.

Entwickelt sich ein langjähriger Abnützungskrieg, sind die wirtschaftlichen Folgen für Russland ebenfalls exorbitant. Man darf nicht vergessen, dass der Vietnamkrieg die USA zwang, von der Goldbindung des Dollar Abstand zu nehmen, so teuer wurde der.

Gibt es eine Verhandlungslösung, hat Putin dennoch die Beziehungen zum Westen so nachhaltig beschädigt, dass es wohl eine Generation brauchen wird, um zu einer wie auch immer gearteten Normalität zurückzukehren. Währenddessen wird sich Europa unabhängig von russischen Rohstofflieferungen machen; ob China diese Nachfrage ersetzen kann, ist fraglich.

Martialisch blökende Kriegsgurgeln behaupten, dass die Gefahr eines Atomkriegs klein oder vernachlässigbar sei. Oder wie das der «Auslandchef» von Tamedia so unnachahmlich formulierte: «Waffenlieferungen an die Ukraine führen nicht einfach so zum Atomkrieg, sondern nur dann, wenn sich der Kreml zum Tabubruch entscheidet und eine Nuklearwaffe einsetzt.»

Das ist Unfug. Sollte der Kreml zur Überzeugung kommen, dass der Westen oder die NATO dermassen massiv auf Seiten der Ukraine in den Krieg eingreift, dass Russland militärisch schwer in die Bredouille gerät, liegt es nahe, dass er mit einer atomaren Option zumindest drohen wird. Sein Aussenminister hat bereits das Terrain vorsondiert und die Möglichkeit eines atomaren Schlagabtauschs in den Raum gestellt.

Bislang haben lediglich die USA Atombomben als Kriegswaffe eingesetzt. Das war zu einer Zeit, als sie gegen Ende des Zweiten Weltkriegs das Monopol auf diese Waffe hatten. Seither stand die Welt einige Male am Rande einer nuklearen Auseinandersetzung, am nächsten bei der Kuba-Krise im Oktober 1962.

Seither bewahrte die Verrücktheit MAD alle Atommächte vor dem Einsatz der Waffe. Mutual Assured Destruction, Gleichgewicht des Schreckens, oder einfach: wer zuerst Atomwaffen einsetzt, stirbt als Zweiter.

In Sandkastenübungen spielen die Militärs aller Atommächte schon lange mit der Option eines begrenzten Atomkriegs. Dabei dürfte es sich allerdings um eine Illusion handeln. Oder auch hier konkret: Putin setzt in der Ukraine Atomwaffen ein, weil er mit konventionellen Waffen nicht mehr weiterkommt. Das bedeutet, das grössere Landstriche verstrahlt und auf lange Zeiten unbewohnbar werden. Was soll ein solcher Pyrrhussieg bezwecken?

Oder aber, Putin setzt Atomwaffen gegen ein NATO-Mitglied ein. Das hat sofort einen Gegenschlag zur Folge, Weltuntergang.

Letzte logische Schlussfolgerung: da die Ukraine, so bedauerlich das für ihre Bewohner auch sein mag, nicht das Auslösen eines weltweiten Atomkriegs wert ist, muss es eine Verhandlungslösung geben, die es Putin zumindest ermöglicht, seine Invasion als Erfolg der eigenen Bevölkerung zu verkaufen.

Umso länger der Krieg andauert, umso mehr Opfer er auch auf russischer Seite fordert, umso spürbarer die westlichen Sanktionen werden, desto mehr wird er sich in die Ecke gedrängt fühlen. Es wäre wohl zu viel von der Geschichte verlangt, die Hoffnung darauf zu setzen, dass ja auch die Atommacht UdSSR untergegangen ist, ohne in letzter Verzweiflung die Welt mit in den Abgrund zu reissen.

Was man über Putin weiss, macht es eher unwahrscheinlich, dass er sich geschlagen auf einen seiner luxuriösen Landsitze zurückziehen und dort seine Memoiren schreiben wird. Abgesehen davon, dass er weiss, dass er einen solchen Rückzug von der Macht nicht überleben würde. Also wird er wohl alles daran setzen, sie zu behalten.

Wer eine Fachmeinung zur Möglichkeit und den Folgen eines atomaren Schlagabtauschs verträgt, kann das Interview mit dem emeritierten MIT-Professor und Atomkrieg-Experten Theodor A. Postol nachlesen.

Das alles macht die Option «gebt Putin Saures» zur schlechtesten aller denkbaren.