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Erregungsmaschinen

These: die Menschen waren schon immer so dumm. Man hat’s nur weniger gemerkt.

Schon der grosse Egoshooter Immanuel Kant wusste:

Damit meinte er, dass auch Zwang, Erziehung, Beratung, gutes Zureden nicht wirklich nützen. Aber er konnte wenigstens eine Richtschnur definieren, die das menschliche Handeln bestimmen soll.

Davon gibt es verschiedene Versionen, die wohl universellste lautet:

«Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»

Das ist unter dem etwas pathetischen Begriff «kategorischer Imperativ» in die Geschichte eingegangen. Mehr ist nicht, da Kant nicht zu Unrecht lange Jahre auf dem Index der für Katholiken verbotenen Bücher stand. Weil er Setzungen der Bibel oder angeblich geoffenbarte göttliche Worte dahin verwies, wo sie hingehören: ins Reich des Glaubens, des nicht rational Begründbaren.

Fällt das als Handlungsanleitungen weg, fehlt die unbezweifelbare Letztbegründung, muss akzeptiert werden, dass alles, was wir unter Moral, Ethik, Anstand, Sitte verstehen, höchstens einsichtige Konventionen sind.

Ethik als Sammlung von Aussagen über das gute und gerechte Handeln des Menschen; Moral als Summe der geltenden Normen und Regeln, Tugend als Fähigkeit der richtigen Abwägung zwischen gut und böse, richtig und falsch. Alles schöne Begriffsturnereien, aber letztlich ohne viel praktische Brauchbarkeit.

Ich kann, weil ich will, was ich muss

Knackiger ist die Formulierung: «Ich kann, weil ich will, was ich muss.» Die wird Kant zugeschrieben, nur: hat er so nie gesagt. Aber das hier wäre der wahre Steinbruch der Erkenntniserweiterung, das wären eigentlich Fragen, mit denen sich der Mensch, der nicht mehr alle Energie darauf verwenden muss, sich am Leben zu erhalten, beschäftigen könnte.

In den (wenigen) zivilisierten Gegenden der Welt ist der Aufwand zur Selbsterhaltung, vulgo Arbeit oder Wertschöpfung genannt, überschaubar geworden. Schon mit einer Halbtagsstelle kann man sich über Wasser halten; mit genügend Konsumverzicht. Das vor Betreibung geschützte Existenzminimum beträgt in der reichen Schweiz bescheidene Fr. 1200. Plus Krankenkasse und Wohnung.

Also Zeit wäre genug vorhanden, sich mit bewusstseinserweiternden Fragen zu beschäftigen. Nur: dafür ist das krumme Holz offenbar nicht gemacht. Freizeit löst bei vielen Menschen Panik aus, wenn sie nicht irgendwie gefüllt werden kann. Womit auch immer. Ablenkungen jeder Art, sozial Depravierte verlieren sich in Videospielen, andere versuchen es mit Hobbys oder übermässigem TV-Konsum.

Neu entwickelte Zeitvernichtungsmaschinen

Seit rund 15 Jahren gibt es aber vorher unbekannte Zeitvernichtungsmaschinen, die mit grossem manipulativen Geschick durch Dauererregung die Menschen in ihrem Räderwerk behalten. Sie heissen soziale Plattformen.

Sie arbeiten mit der Illusion, dass der Vereinzelte in Kontakt mit vielen Menschen stünde, eigentlich Zugang zu Milliarden von Nutzern hätte. Auf diese Weise nicht nur soziale Kontakte knüpfen und pflegen könne, sondern auch Gedanken und Ansichten austauschen, sich damit bereichern solle.

Trotz allen Beteuerungen war das natürlich niemals die Absicht der Erfinder von Facebook, Twitter, Instagram usw. Sie haben sich damit Profitgeneratoren geschaffen, die unvorstellbare Prozentsätze von Reingewinn ermöglichen. Beliebig skalierbar, das funktioniert bei 10 Millionen Nutzern genauso wie bei 100 Millionen, genauso wie bei einer Milliarde.

Gleichzeitig richten diese transnationalen Monster, die sowohl fiskalisch wie juristisch kaum zu fassen sind, unvorstellbare Schäden auf dem Gebiet der öffentlichen Auseinandersetzung an. Sie können manipulativ verwendet werden (Cambridge Analytica), sie werden zum Tummelfeld von Trollen, bösartigen Kampagnen, computergenerierten Bewegungen.

Verdumpfung der Debatte

Aber sie sorgen vor allem für eine Verrohung, Versimplung, Verdummung der Debatte. Wer sich daran gewöhnt hat, auf maximal 280 Zeichen eine Meinung zu formulieren, ist geistig auf das Niveau eines Dreijährigen zurückgefallen, womit keine aufgeweckten Dreijährigen beleidigt werden sollen.

Differenzierung, Diskursfähigkeit, das Erfassen komplexer Zusammenhänge, das Durchdringen komplexer Situationen, das Suchen nach adäquaten Erklärungen für interagierende Kraftfelder, in denen sich Gesellschaften normalerweise bewegen – all das übersteigt den geistigen Horizont der Teilnehmer.

Wer nicht spielsüchtig ist, wundert sich, wie Menschen stundenlang vor Slotmachines sitzen können und die unablässig mit Münzen füttern. Das liegt auch daran, dass diese Maschinen mit grosser Ingenieurskunst und psychologischen Beeinflussungsmechanismen so gebaut sind und funktionieren, dass alle Suchtmechanismen im Hirn getriggert werden.

Genau gleich sitzen Hunderte von Millionen von Menschen vor den Slotmachines der sozialen Plattformen. Und füttern sie unablässig mit ihren Daten, in der irrigen Annahme, dass die Benutzung gratis sei. Das funktioniert dann am besten, wenn sie in einen Erregungszustand versetzt und in ihm gehalten werden.

Soziale Plattform, aus der Sicht des Betreibers.

Dann greift die fundamentale Erkenntnis von Gustave Le Bon, die er in seiner Untersuchung über die «Psychologie der Massen» festgehalten hat. Bei Massenveranstaltungen sinkt der durchschnittliche IQ der Teilnehmer auf den der dümmsten.

Genau das geschieht hier, im 21. Jahrhundert. Das Ausmass der menschlichen Dummheit ist nicht grösser geworden. Allerdings auch nicht kleiner. Zudem viel hör- und sichtbarer.

Talibanisierung: streiten verboten

Die Überlegenheit freier Gesellschaften lässt sich mit einem gefährdeten Wort erklären: offen debattieren.

Die grösste Gefährdung für eine der ältesten Demokratien der Welt geht weder von der grummeligen SVP, noch von linken Maulhelden aus. Schon gar nicht von Taliban, und auch nicht von einem Virus. Nicht einmal von fundamentalistischen Genderschützern. Sondern von der Gefährdung der freien Debatte.

Wobei alle diese Fanatiker auf ihre Art einen Beitrag zu dieser Gefährdung leisten. Denn die Gefahr erhebt überall ihr hässliches Haupt. Am deutlichsten ist diese Fratze auf den sogenannten sozialen Plattformen sichtbar.

Es ist ein Beweis dafür, dass zu grenzenlose Freiheit in Willkür, Übergriffigkeit, Verblödung und Elend ausartet. Eigentlich könnten auf Facebook, Twitter & Co. Debatten wie noch nie in der Geschichte der Menschheit stattfinden. Über alles und mit allen. Tabufrei, offen, dank Anonymität auch angstfrei vor Repressionen.

Man könnte mit allen kommunizieren oder mit Gleichgesinnten. Man könnte Stärke durch Zuspruch, Erkenntnisgewinn durch Widerspruch gewinnen. Man könnte Welterklärungen abrufen, dank Universalsprachen wie Englisch oder dank Simultanübersetzungsprogrammen mit Menschen kommunizieren, die tausende von Kilometern entfernt in ganz anderen Lebensumständen denken und sprechen.

Man könnte sich selbstbewusst und mit Respekt vor den Ansichten des Andersdenkenden begegnen. Man könnte jeden Tag eine Bereicherungsstunde abhalten, in der man versucht, Einblicke in alle fast 200 Länder dieser Erde zu gewinnen. In Traditionen, Kulturen, Mentalitäten, ins Andere.

Stattdessen sind diese Plattformen, allen voran Twitter, versumpft, verschlammt, unerträglich geworden. Der Stammtisch, die Rechthaberrunde zu später Stunde und mit durch Alkohol gelösten Zungen, die «jetzt rede ich, und du gibst mir recht»-Monologe haben sich ins Digital-Virtuelle erhoben. Dort verpesten Ego-Shooter die Luft, rotten sich Quadratschädel zu Mobs zusammen.

Wer ist stolz darauf, Teil eines Shitstorms zu werden?

Debatte und Widerspruch als einzige Möglichkeit zum Erkenntnisgewinn ist ihnen fremd, geradezu widerwärtig. Ihre Denkperversion zeigt sich darin, dass sie sogar heimlich oder offen stolz darauf sind, Bestandteil eines Scheissesturms zu werden. Ohne eine Sekunde darüber nachzudenken, was diese Bezeichnung aus ihnen selbst macht.

Ihre bedingten Reflexe funktionieren besser als beim pavlowschen Hund. Läutet irgendwo in ihrer Nähe das Glöcklein einer artfremden, abweichenden Meinung, sabbern und kläffen sie los, verbellen den Eindringling, empfinden es als grössten Erfolg, wenn er von der Meute weggebissen wurde.

Leider beschränkt sich dieses Phänomen des Rückfalls in voraufklärerische Zeiten nicht nur auf das geistige Prekariat, das in den asozialen Medien die Klowände des Internets vollschmiert.

Auch in den sogenannten Qualitätsmedien herrscht inzwischen ein Groove, an dem Torquemada seine helle Freude hätte (Kindersoldaten: Namen googeln). Selbsternannte Klein- und Grossinquisitoren verteidigen hier den rechten Glauben gegen Ungläubige. Mit einer Verve, die erschauern lässt. Denn von den fundamentalistischen Irren in Afghanistan unterscheidet sie eigentlich nur, dass sie ausser Maulheldentum und Beherrschung der veröffentlichten Meinung keine Macht haben.

Moderne Worttaliban fäusteln auch in der Schweiz

Hier geht es gegen «Impfgegner», «Coronaleugner», mit einem Wort: verantwortungslose Volldeppen. Selbst das halbstaatliche Portal «blue news» entblödet sich nicht, hier eine immerhin «nicht ganz ernstgemeinte» Typologie aufzublättern, von «Die Fiebrigen»  bis zu den «Verschwörungstheoretiker*innen». Nebenbei: alleine am Gebrauch des Sprachverhunzungswerkzeugs Gendersternchen entfachen sich Sprachkriege, moderne Kreuzzüge gegen Unmenschen und Sexisten.

Wie es sich für ein Boulevardblatt gehört, packen «Blick» und «SonntagsBlick» gleich die grobe Keule aus. Der SoBli-Chefredaktor entblödet sich nicht, Impfgegnern zu unterstellen, sie unterstützen damit die Pandemie («Die Impfgegner machen mit dem Virus gemeinsame Sache».) Der Vergleich zum Mittelalter, wo Seuchenzüge auch damit erklärt wurden, dass Juden die Dorfbrunnen vergiftet hatten, liegt nahe.

Deswegen:

«Der Freak» nach «Blick». Karikatur zum Kotzen.

Das ist so ziemlich das Übelste, was seit «Juden canceln»-Simone Meier in letzter Zeit in der Schweiz verbrochen wurde. Diese Karikatur soll den «Freak» zeigen. Der sonst für alles Gute und Edle kämpfende «Blick»-Journalist Reza Rafi schreibt mit der Klosettbürste als Erklärung:

«Hier reden wir von einem Sammelbecken für Outlaws, Aussteiger und Abgedriftete: Der völkisch denkende Arzt, die radikalisierte Kapitalismusgegnerin und der Goa-Veteran mit halluzinogenen Spätfolgen sind nur drei Beispiele. Typischerweise ist der Angehörige dieser Kategorie männlich, bewegt sich in einer weltanschaulichen Käseglocke und hat sich die vorherrschende Gesellschaft, ihre Politiker und Medien zu Feinden erklärt. Auch pathologische Fälle werden beobachtet.»

Man soll mit der Nazi-Keule vorsichtig hantieren, aber das unter eine Karikatur zu schreiben, die eine Kreuzung zwischen dem «Stürmer»-Juden und dem Komiker Marco Rima darstellt, das ist schon unerhört. Dass es diesen «Freaks» gelungen ist, innert kürzester Zeit mehr als 100’000 Unterschriften unter ein Referendum gegen die Corona-Gesetzgebung zu sammeln, erweckt offenbar den Ingrimm der staatlich subventionierten Medien der Schweiz.

Wieso bleiben Sanktionen, ein Aufschrei aus?

Bedenklich: der Aufschrei aller sonst immer schnell Empörten und Erregten blieb aus. Wählt die SVP ein schwarzes Schaf zur Illustration ihrer Absichten, kriegt sich eine Empörungsmeute kaum mehr ein. Aber hier? Wird der durchdrehende Chefredaktor eingefangen, korrigiert? Wird der verantwortliche Redaktor sanktioniert, entlassen? I wo, sie stehen doch auf der «richtigen» Seite, da ist dann alles erlaubt.

So stirbt die Freiheit scheibchenweise. Die Denkfreiheit, das Salz in der Suppe, der Motor jedes Fortschritts. Wo Aberglaube und Glaubensdoktrinen herrschen, herrscht Mittelalter, Elend und Dumpfheit. So wie in allen islamisch kontrollierten Ländern. Sie mögen dank Rohstoffen reich sein – was aber immer nur von einer korrupten Oberschicht unter Beteiligung des Klerus abgeschöpft wird –, aber sie sind zu Elend, Stagnation, Rückschritt und Untergang verurteilt.

So war das auch in Europa, als die christliche Kirche mit dem Leichentuch der Glaubensdoktrinen jeden Fortschritt erstickte. Aber hier und heute in der Schweiz darf doch noch alles gesagt werden? Selbst diese Haltung wird schon ironisiert, kritisiert, als Freipass für schädliche – soll man sagen volksschädliche – Meinungen von Aluhutträgern, von Freaks halt.

Inquisitorische Rechthaberei erhebt das hässliche Haupt

Es ist eine Perversion der Geschichte, dass vor allem linke Kreise, also die Urenkel der Aufklärung, die Enkel der Kämpfer für Meinungsfreiheit und offene Debatten, zu Vorkämpfern für Sprechkontrolle, Gedankenpolizei und inquisitorischer Rechthaberei werden. Während sie zunehmend die Oberhoheit über die Diskurse verlieren, verkrampfen sie sich immer mehr in einem Sprachfanatismus.

Der äussert sich in erster Linie darin, dass nicht mehr Meinungen als falsch kritisiert – und argumentativ niederdebattiert werden. Sondern dass hinter Standpunkten Haltungen denunziert werden. Nicht mehr: «Wer das sagt, liegt falsch, weil». Sondern: «Wer das sagt, ist». Hier kann man nach Belieben Hetzer, Rechtsradikaler, Rassist, Faschist, Fremdenfeind und alles Schlimme der Welt einsetzen.

Es liegen Welten zwischen Afghanistan und der Schweiz. Noch.

«Die Freiheit führt das Volk an»: wäre heute zu sexistisch.