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Was ist Aufklärung?

In trüben Zeiten hilft klares Denken. Wie das von Immanuel Kant.

Am Sonntag kann man sich schon mal Zeit nehmen, sich an einer klaren Bergquelle der Erkenntnis zu laben. Das putzt die Gehirnwindungen durch und erhebt den Menschen ungemein.

Sollten die Klickraten nicht dadurch zusammenbrechen, könnten wir uns auch ohne Weiteres eine kleine Serie vorstellen.

Beginnen muss die mit dem wohl entscheidenden Versuch, die Grundlage unseres modernen Denkens in Europa und auf wenigen Inseln der Vernunft in der Welt zu definieren. Es geht um den Begriff Aufklärung. Um das, was auf Spanisch so schön «el siglo de la luz» heisst, das erleuchtete Zeitalter.

Als kühne Denker, herausragend die Enzyklopädisten um Denis Diderot, damit begannen, die Wirklichkeit an sich selbst zu messen. Keine meist religiös unterfütterten Setzungen mehr zu akzeptieren, sondern es mit etwas ganz Neuem, Subversivem zu probieren: dem eigenen Denken, dem Debattieren zwecks Erkenntnisgewinn. Mit der ersten Erkenntnis, dass nur so Fortschritt möglich ist.

Eine genial einfache Antwort auf eine schwierige Frage

Dennoch dauerte es bis in den Dezember 1784, also fünf Jahre vor der Französischen Revolution, dass ein deutscher Denker aus Königsberg die einfache Frage stellte: «Was ist Aufklärung?» Und sie in der «Berlinischen Monatsschrift» auf wenigen Seiten umfassend, gültig und bis heute beeindruckend beantwortete.

Eigentlich müsste man dieses Werk einfach wörtlich zitieren. Aber wir bieten es hier zum Nachlesen und auf ZACKBUM als Exzerpt.

Der Anfang ist ein geistiger Knaller auf der Höhe des Einstiegs in einen guten James-Bond-Streifen:

«Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen Sapere aude! Habe Muth, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.»

Diese Sätze sollte man sich heutzutage nichts nur sonntags immer wieder zu Gemüte führen. Sie sind auch in einigermassen gebildeten Kreisen, also unter Ausschluss der meisten aktuell tätigen Journalisten, bekannt. Etwas weniger bekannt ist die Fortsetzung:

«Faulheit und Feigheit sind die Ursachen, warum ein so großer Theil der Menschen, nachdem sie die Natur längst von fremder Leitung frei gesprochen (naturaliter majorennes), dennoch gerne Zeitlebens unmündig bleiben; und warum es Anderen so leicht wird, sich zu deren Vormündern aufzuwerfen. Es ist so bequem, unmündig zu sein.»

In diesem Zustand, beklagt Kant 1784, befindet sich weiterhin der grösste Teil der Menschheit: «Ich habe nicht nöthig zu denken, wenn ich nur bezahlen kann; andere werden das verdrießliche Geschäft schon für mich übernehmen.»

Immanuel Kant (1791).

Statt sich am Gängelband führen zu lassen, könne das «Publikum» sogar leicht zur Selbstaufklärung gelangen: «Zu dieser Aufklärung aber wird nichts erfordert als Freiheit; und zwar die unschädlichste unter allem, was nur Freiheit heißen mag, nämlich die: von seiner Vernunft in allen Stükken öffentlichen Gebrauch zu machen.»

Gedanken über den Probierstein für Gesetze

Kant räsoniert dann ausführlich über die Pflicht, vorhandene Regeln zu befolgen, und die Freiheit, sich darüber auch kritische Gedanken zu machen. Werden solche Regeln in Gesetze gegossen, gilt laut ihm dabei nur ein Kriterium:

«Der Probierstein alles dessen, was über ein Volk als Gesetz beschlossen werden kann, liegt in der Frage: ob ein Volk sich selbst wohl ein solches Gesetz auferlegen könnte?»

Gegen Schluss stellt Kant die Frage: «Leben wir jetzt in einem aufgeklärten Zeitalter? so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.»

Aber umso mehr man «von der Vernunft öffentlich Gebrauch machen» könne, desto mehr entwickle sich die Geschichte zu einem aufgeklärten Zeitalter.

War der Mann optimistisch. Als er 1804 starb, hatte er noch miterlebt, wie die Französische Revolution, dieser erste neuzeitliche Versuch, sich von Despotie, Willkür und Unterdrückung zu befreien, in einem Blutrausch und in Terreur endete, um schliesslich in Napoleon ihr nicht beabsichtigtes Ende zu finden.

Inseln im Meer der anbrandenden Dummheit

Im Jahr 2021, also genau 237 Jahre nach dieser phänomenalen Definition des Begriffs Aufklärung, sind selbst diese kleinen Inseln der Vernunft, der rationalen und wissenschaftlichen Welterklärung ohne Tabus, gefährdet.

An sie branden die Wellen des Meeres der Dummheit. Öffentlich wird immer weniger von der Vernunft Gebrauch gemacht. Die veröffentlichte Meinung, zumindest in den nach wie vor dominierenden Massenmedien und vielfach noch staatlich dominierten elektronischen Medien, regrediert immer mehr in obrigkeitshöriges Nachplappern, wird zur genauen Vermessung von Tabuzonen missbraucht. Vermischt moralische Kriterien, die hier nichts zu suchen haben, mit dem alten Geschäft von Verifizieren oder Falsifizieren.

Darüber finden aber immer weniger Debatten statt, sondern Setzungen. Es prallt nicht mehr das Richtige als der Sieger über das Falsche in freier Diskussion aufeinander, sondern das sich selbst genügende Gute erhebt sich über das selbst definierte Böse. Wobei das Gute selbstverständlich auch richtig ist, das Böse falsch.

Immanuel Kant würde wohl verzweifelt den Kopf schütteln, würde er dieses modernen Rückfalls in eine selbstverschuldete Unmündigkeit gewahr. Aber er wusste halt, dass Faulheit und Feigheit die grössten Feinde der Aufklärung waren, sind und bleiben.