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Fakten, Fakten, Fakten

Der heilige Gral aller ernstzunehmenden Berichterstattung. Nur: was sind Fakten? Oben ein faktentreuer Nachbau der Arche Noah.

Ältere Leser erinnern sich: «Fakten, Fakten, Fakten». Das war der Schlachtruf, mit dem der erste Chefredaktor des deutschen «Focus» gegen den damals alleinherrschenden «Spiegel» antrat.

Er wollte damit insinuieren, dass der «Spiegel», obwohl er sich «Nachrichtenmagazin» nennt, die Welt durch eine ideologische Brille sieht, sich als Besserungsanstalt versteht, als Organ von Rechthabern, mit erhobenem Zeigefinger und der leichten Säuernis von Menschen, die es eigentlich besser wissen, nur hört niemand wirklich auf sie.

 

Immerhin war «Focus» der erste gelungene Versuch, den «Spiegel» zu konkurrenzieren, und das Magazin existiert bis heute. Aber das Erfolgsgeheimnis war keine Faktentreue, sondern die Vorwegnahme moderner Lesegewohnheiten. Kurzstoffe, üppige Grafik, servicelastig, und «immer an den Leser denken», das war der zweite, weniger häufig zitierte Teil des Schlachtrufs von Helmut Markwort.

Alle denken an die Leser. Das ist das Problem

Damit war er allerdings nicht alleine. Der «Spiegel», eigentlich alle Newsmedien, denken an ihre Leser. Deshalb wollen sie deren Haltung nicht zu sehr mit unangenehmen Fakten erschüttern, das mag der Konsument nicht. Der Sündenfall Relotius beim «Spiegel» war nicht nur Ergebnis eines offenbar pathologischen Lügners. Er wurde auch durch die Absicht möglich, antizipierend dem Leser das zu liefern, was er gerne lesen möchte.

Verschärft beobachtet man dieses Phänomen bei der aktuellen Impfdebatte. Dafür, dagegen, alle Argumente sind eigentlich ausgetauscht. Jetzt geht es nur noch um Haltungen und Polemik. Könnte auch aus dem Lager der Impfkritiker stammen, aber hier ein Beispiel aus dem Lager der Impfbefürworter, vom Oberchefredaktor von Tamedia, in einem Kommentar:

«Nun kaufen wir mit unserem vielen Geld für ein paar egozentrische Impfskeptiker den Stoff, der anderswo Leben retten würde.»

Ein guter Beleg dafür, wie schwierig es mit den Fakten ist. Denn deren unumstössliche Kraft hört schnell einmal auf. Die Erde ist nicht flach, das darf man heute als Fakt bezeichnen, ohne auf dem Scheiterhaufen zu landen. Das Universum ist älter als nur ein paar tausend Jahre, obwohl das Kreationisten aller sich auf biblische Überlieferungen beziehenden Religionen genau so sehen und als Fakt wissenschaftlich untermauern wollen.

Was sind nun Fakten? Die NZZ gibt aus aktuellem Anlass die journalistisch korrekte Definition:

«Sachverhalte, die mit Tatsachen belegt werden können.»

Für Exegeten: und was sind Tatsachen? Fakten oder Sachverhalte. Kicher. Um aus diesem Kreislauf herauszukommen: Tatsachen sind sinnlich wahrnehmbare Vorgänge oder Zustände, die sich mit wissenschaftlich anerkannten Methoden darstellen, überprüfen und experimentell wiederholen lassen.

Fakten sind noch nichts

Die NZZ geht allerdings noch einen wichtigen Schritt weiter:

«Fakten erklären nichts. Genauso wie Daten noch keine Informationen sind. Fakten müssen erklärt, vertieft, eingeordnet und interpretiert werden, damit man sie verstehen kann.»

Genau hier beginnt das Problem der modernen Informationsüberschwemmung. Erklären, vertiefen, einordnen und interpretieren, das ist die eigentlich wichtige Leistung des Journalismus. Neben den entsprechenden professionellen Fähigkeiten braucht es allerdings noch ein entscheidendes Ingredienz: Vertrauen und Glaubwürdigkeit.

Denn der Konsument, der Leser kann nicht jedes erwähnte Faktum selbst nachkontrollieren, geschweige denn, die daraus gezogenen Schlussfolgerungen nachvollziehen und den Weg dahin abschreiten. Entweder vertraut er der Informationsquelle, dann ist’s gut. Oder er zweifelt, dann wird’s schwierig.

Die NZZ kommt nicht aus dem luftleeren Raum zu diesen Überlegungen. Die neue Chefredaktorin von Associated Press hat der NYT ein Interview gegeben. AP ist die grösste Nachrichtenagentur der Welt; angesichts schrumpfender Bordmittel und Eigenleistungen wird ihre Bedeutung monatlich grösser. Da ist es schon wichtig zu wissen, worauf sich diese Julie Pace verpflichtet sieht. Auf Fakten, sagt sie. Das ist gut. Also Dinge, über die man nicht reden oder diskutieren müsse, weil sie feststehen.

Zum Beispiel? Ob die Impfstoffe gegen Covid-19 sicher seien, ob es einen Klimawandel gebe oder ob es bei den US-Wahlen im vergangenen Jahr zu grösseren Betrügereien gekommen sei. Also ja, ja, und nein, laut Pace.

Fakten sind Fakten, können aber falsch sein

Und schon wird’s brandgefährlich. Denn Fakten können auch falsch sein, bzw. widerlegt werden. Mangels technischer Möglichkeiten meinte man lange Zeit, dass ein Atom unteilbar sei, daher auch der Name (altgriechisch «unteilbar»). Der Name blieb, das Faktum nicht.

Natürlich kann nicht jedes Mal in der Berichterstattung alles haarklein hergeleitet und belegt werden. Das würde die Newstexte unlesbar machen. Ungeniessbar werden aber selbst Kommentare, wenn sie Fakten – der Ankauf von «klassischen Impfstoffen» – mit despektierlicher Kritik – «für ein paar egozentrische Impfskeptiker» – und faktenfreier Behauptung – «Stoff, der anderswo Leben retten würde» – vermischt.

Umso unversöhnlicher – und auch faktenfreier – die Debatte um die Pandemie-Massnahmen wird, desto wichtiger wäre es, sich auf altbewährte Prinzipien des Erkenntnisgewinns zu besinnen.

Nur im offenen, tabulosen Schlagabtausch in der Öffentlichkeit ist Erkenntnisfortschritt möglich. Falsche Meinungen können, müssen falsifiziert und mit oder ohne Polemik zurückgewiesen werden. Aber ohne, dass die Meinungsträger persönlich angegangen, ihnen böse oder gute Absichten – je nachdem – unterstellt werden.

Das wäre der Idealfall. Leider entfernen wir uns von diesem Ideal beinahe täglich. Ein erkennbarer Grund dafür: Meinung ist wohlfeil, gratis und schnell gebildet. Fakten zu eruieren, aufzubereiten und darzubieten, das ist aufwendig und anstrengend.

Wäre aber dringend nötig.