«Ich hab den Journalismus im Blut, die Jungen im Hirn»
Fast 50 Jahre lang jeden Tag einen Text geschrieben – wo gibt es das noch? Mit dem abtretenden Ruedi Baumann verliert der «Tagi» nicht nur einen weiteren fähigen Journalisten, sondern auch ein Teil seiner DNA.
ZACKBUM.ch: «Die Jungen suchen vor allem aufwendige Recherchen und Reportagen und keine Kurzschnurz-Artikel aus dem Tag heraus.» Das haben Sie uns kürzlich geschrieben. Harte Worte. War der 25-jährige Ruedi Baumann denn anders?
Ruedi Baumann: Ja, gezwungenermassen. Ich habe beim kleinen Aargauer Volksblatt in Baden begonnen. Eine CVP-Zeitung. Mit 25 Jahren war ich der Gango für Turnerkränzchen und Dorftheater. Politik war für die Alten. Damals, in den 1980er Jahren, mussten wir pro Redaktor eine oder gar zwei Seiten pro Tag füllen. Einiges tippten wir mit der Hermes Baby selber, anderes schnipselten wir mit Schere und Leimstift aus den Pressemeldungen von Parteien und Gemeinden zusammen. Jede falsche Kürzung gab Lämpe. Daraus stellten die Metteure im Bleisatz Zeitungsseiten zusammen. Recherchieren hiess damals, hin und wieder den Telefonhörer zur Hand nehmen. Oder auf der Gasse mit lustigen Leuten ein Bier zu trinken. Die guten Journalist waren die Trinkfestesten – vor allem aber jene mit einem guten Archiv. Google und Datenbanken gabs nicht, nur das eigene Archiv mit ausgeschnittenen Artikeln.
Sagt nicht jede Generation von Journalisten, dass es früher besser war?
Ich sage genau das Gegenteil. Die Jungen heute haben es heute besser und sind viel besser. Sie sind besser ausgebildet, fingerfertiger, ehrgeiziger. Ich lernte nie Schreibmaschinenschreiben, in der Schule gabs entweder Latein oder Schreibmaschine. Für beides reichte der Stundenplan nicht. Bei den Zeitungen waren früher viele, die an der Uni den Bettel hingeschmissen hatten. Die heutigen jungen Journalistinnen und Journalisten – jedenfalls beim Tagi – haben meistens ein abgeschlossenes Studium und eine Zusatzausbildung, zum Beispiel in Datenjournalismus oder Programmieren. Ich bin, was meine Ausbildung betrifft, im Vergleich mit den Jungen ein Höhlenbewohner. Aber ich kann supergut Jagen, Bogenschiessen und Feuermachen. Ich hab den Journalismus im Blut, die Jungen im Hirn. Im Online-Journalismus muss ich jeden Tag zehnmal fragen: «Was ist das für ein Befehl, welche Form brauchts da?» Ich revanchiere mich mit vertraulichen Handy-Nummern von Politikern, Macken oder brisanten Interna aus ihren Karrieren.
Sie haben immerhin noch die schönen Zeiten erlebt. Zum Beispiel, als der Lokaljournalismus in der NZZ noch einen eigenen Bund hatte und der Tagi mit seinen Splits tief in die Gemeinden drang. Haben die Verlage diesen Journalismus früher mehr hochgehalten?
Auch hier bin ich anderer Meinung. Die schönen Zeiten sind heute. Für einen Vollblutjournalisten gibts nichts Besseres, als Artikel online zu produzieren, selber Bilder, Tabellen, Umfragen, Böxli oder Links einzufügen. Im Internet gibt keine viereckigen Seiten, weder Über- noch Untersatz, keine Huren- und Waisenkinder. Und keine Layouts, die man millimetergenau abfüllen muss. Früher waren wir viel stierer, umständlicher, gemächlicher. Print find ich mühsam, Online animierend und direkt.
Die Kehrseite der Medaille: Der redaktionelle Druck heute ist viel grösser, die Leistung der Journalistinnen und Journalisten ist online besser messbar. Das Internet ist nie voll, die Zeitungsseite aber häufig schon am Nachmittag. Früher gingen wir beim Tagi um 17 Uhr in die Beiz und waren nicht mehr erreichbar. Heute passe ich einen Online-Artikel immer wieder auch um Mitternacht noch an.
Mit der Regionalberichterstattung ist es so eine Sache. Jede Journalistin und jeder Journalist strebt nach Höherem. So ist es attraktiver, aus dem Kantonsrat oder aus Bundesbern zu berichten, als über die Gemeindeversammlung von Bachenbülach. Früher war das Ziel, bei einem Primeur von der NZZ, dem Blick oder dem Fernsehen zitiert zu werden, heute sind es die Online-Klicks oder -Kommentare und die Weiterverbreitung über die sozialen Medien. In einem grossen Gebiet ist das einfacher; es läuft mehr, und die Protagonisten sind bekannter.
Der Lokaljournalismus – der Journalismus generell – hat heute eine andere Funktion. Früher waren wir quasi das Amtsblatt mit zig Kurzmeldungen jeden Tag. Heute hat die NZZ fast nur noch ganzseitige Artikel – Analysen, Reportagen. Den Pflichtstoff kann ja jeder im Internet suchen. Mir gefällt das übrigens gar nicht. Ich bin ein Fan von guten Kurzmeldungen. Geändert hat sich auch die Zeitungsstruktur. Früher musste der Tagi in Winterthur, im Ober- und im Unterland stark sein, um Abos zu holen. Heute gehört der TX Group, wie der Tagi nun heisst, der ganze Kreis an Lokalzeitungen. Da brauchts vom Tagi kein regionales Kurzfutter mehr.
Was halten Sie vom Schlagwort, dass der Lokaljournalismus eine mögliche Rettung in der Medienkrise sei?
Möglich, ist aber nicht einfach. Über Trump kann ich gratis in zig Medien jede Peinlichkeit verfolgen. Wenn aber der Kassenwart meines Dorfes bescheisst, steht das nur im Lokalblatt. Also muss ich das haben. Das Problem ist bloss: Das Lokalblatt braucht genügend Geld, um Journalisten anzustellen, die so gut sind, dass sie krumme Touren überhaupt aufdecken können. Viele Lokal- und Gemeindezeitungen gehören den alten SVP-lern Walter Frey und Christoph Blocher. Weder rentieren sie, und schon gar nicht sind sie unabhängig.
Warum wollen Einsteiger eigentlich nie in den Lokaljournalismus?
Fast jeder junge, ehrgeizige Journalist will Kulturredaktor oder Musikkritiker werden, ins Bundeshaus, einmal New-York-Korrespondent sein oder über die Fussballnati schreiben. Doch der Weg von der Andelfinger Zeitung, über Züri Unterländer, Tagi oder NZZ zum Schweizer Fernsehen ist weit und gelingt nur mit Glück und Begabung. Es gibt aber auch Journalisten, die sich – wenn sie ihre Ambitionen etwas zurückgeschraubt haben – im Lokaljournalismus sauwohl fühlen. Das Schöne: Wir haben ein sehr direktes Feedback, sind nahe an den Leuten, berichten über das, was wir täglich erleben. Über Trump oder die Rolling Stones kann man herziehen, wie man will. Das kratzt die nicht. Doch ein falsches Wort über Regierungsrat Mario Fehr, und das Telefon klingelt.
Stehen da nicht die Ressortleiter in der Pflicht, Jungjournalisten in den Kantonsrat und an Delegiertenversammlungen zu prügeln?
Das versuchen sie schon. Aber – ehrlich gesagt – eine Kantonsratssitzung über ein neues Gesetz kann ziemlich öde sein. Und auch Delegiertenversammlung bei SP oder FDP sind meistens langweilig. Bei der SVP ists wenigstens lustig, und es gibt etwas zu essen. Die alten Journalisten sind da etwas im Vorteil; sie kennen die Leute und ihre Marotten und können auch aus langweiligen Versammlungen etwas Knalliges zusammenschreiben. Häufig gehts bloss auch um Beziehungspflege: Man lernt im Kantonsrat oder an der SVP-Versammlung in Hagenbuch neue Leute kennen, die einem dann wieder einmal etwas stecken. Zumindest, wenn man sie nicht schon im ersten Artikel in die Pfanne haut. Dazu kommt: Artikel, in denen Kantonsrat oder Vorberatende Kommission steht, sind meist miserabel gelesen. Man holt sich im Kantonsrat keine Loorbeeren. Pflichtstoff ist pfui, eigene Recherchen Kür.
Unter den Zürcher Journalisten sind Sie eine Legende. Hatten Sie nie den Drang, das Ressort zu wechseln?
Nicht wirklich. Der Schritt 1988 als Landei vom Aargauer Volksblatt zum grossen Tagi war so riesig, dass ich Jahre brauchte, um mich in Zürich zurechtzufinden und ein neues Beziehungsnetz aufzubauen. In Frage gekommen wäre das Inlandressort. Doch Zürich ist super, ich sass im Goldfischteich, Bern wäre das Haifischbecken gewesen. Jeden Tag nach Bern zu pendeln oder gar zu zügeln, hat mir gestunken. Und ich hatte im Tagi die ganzen 28 Jahren ein super Team mit vielen Freundinnen und Freunden, die mir auch privat viel bedeuten.
Was raten Sie heute jungen Journalisten?
Eine supergute Ausbildung, Neugier und Offenheit. Die technikaffinen müssen Cracks sein in Computersystem und Datenbanken, die Edelfedern müssen raus aus dem Büro, Leute treffen, neugierig sein. Und gute Journalisten brauchen einen speziellen Charakter: Hart und unbestechlich – und doch umgänglich, fair und gradlinig. Die meisten lassen sich von Journalisten nur einmal verarschen. «Jeder Seite das beste Argument», ist mein wichtigster Vorsatz.
Haben Sie weitere Pläne im Journalismus oder Buchwesen?
Ich höre beim Tagi Ende Jahr auf. Ich war nun über 30 Jahre lang darauf programmiert, jeden Tag einen Artikel à 4000 Zeichen oder zwei à 2000 zu schreiben. 6800 Artikel waren es beim Tagi. Ich habe kaum mehr als eine Handvoll Artikel über 10’000 Zeichen verfasst, dafür gabs kaum einen Tag ohne nicht zumindest eine Kurzmeldung. Bei mir muss ein Artikel am Abend fertig sein. Und kein Blattmacher darf mir vor dem nächsten Mittag sagen, was ich zu tun habe. Ich bin der Spezialist für Artikel aus dem Tag heraus – in der Nacht und am Morgen will ich weder an den Tagi noch an irgendwelche Politiker denken. Ein Buch schreiben? Viel zu lang, viel zu viele Seite. Ich habe ein Dutzend Bücher von ehemaligen Kollegen zuhause – und noch keines fertig gelesen.
Und, wie finden Sie eigentlich ZACKBUM.ch? Was machen wir falsch?
ZACKBUM.ch war für mich bis heute nur eine Eigenschaft, die Fussballstürmer haben sollten. Sonst noch nie davon gehört. Ihr habt offenbar zu wenig fetten Schlagzeilen oder originellen Provokationen generiert, die über Twitter oder sonstwie bis zu mir gedrungen wären. Da müsst Ihr halt mehr Gas geben.