Schlagwortarchiv für: Rede

Märchenstunde beim Tagi

Wenn der SZ-Märchenonkel Hubert Wetzel aus einem Paralleluniversum berichtet …

Eigentlich ist die Schande des Berufs der Süddeutschen Zeitung für die USA zuständig. Dort warnt er so inbrünstig wie vergeblich vor Donald Trump. Aber auch die übrige Welt bedarf seinen strengen Zurechtweisungen. Diesmal berichtet er aus einem EU-Parlament in Brüssel.

Nicht aus dem realen; Wetzel hat es offenbar geschafft, sich in eine Parallelwelt zu beamen. In dieser soll der ungarische Regierungschef Viktor Orban eine Abreibung durch die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bekommen haben.

Schon mit dem Einstieg beweist Wetzel, dass seine Beobachtungen nicht von dieser Welt sind:

«Die ungarische EU-Ratspräsidentschaft begann am 1. Juli, und eigentlich dauert sie noch bis zum 31. Dezember. Uneigentlich war sie allerdings am 5. Juli schon wieder vorbei. Das war der Tag, an dem Viktor Orban auf «Friedensmission» von Budapest nach Moskau flog und Wladimir Putin, dem Diktator, Kriegstreiber und Vergewaltiger der Ukraine, im Kreml die Hand schüttelte.»

Putin wurde ja schon viel vorgeworfen, aber dass er die Ukraine vergewaltigt (wie hat man sich das wohl vorzustellen?), das ist neu. Aber das ist ja nur der Einstieg in ein uneigentliches Paralleluniversum, wo offenbar auch für den Journalismus andere Regeln und Gesetze gelten:

«Seither tut der rechtspopulistische ungarische Regierungschef zwar gern so, als sei von seiner mit Pomp und Fanfaren angekündigten Ratspräsidentschaft noch etwas übrig. Am Mittwoch etwa stellte Orban sich vor das Europaparlament und erläuterte in einer für seine Verhältnisse sogar recht gemässigten Ansprache sein «Programm»

In einer Welt, wo noch ein paar Grundregeln des Journalismus gelten, könnte man eigentlich von Wetzel erwarten, dass er nun kurz den Inhalt dieser Rede zusammenfasst. Aber doch nicht in seiner Parallelwelt. Auch die Gegenrede von der Leyens kann Wetzel nicht wiedergeben, er behauptet, sie habe Orban «de facto als Vasallen der Russen und Chinesen bezeichnet». Was sagte sie dann wirklich? Unwichtig für Wetzel.

Nun muss Wetzel aber knirschend einräumen, dass Orban gar nicht so der Paria ist, als den ihn der Schmierenjournalist gerne darstellen möchte: «Bei dem Thema, das die EU seit Jahren wie kaum ein anderes beschäftigt, quält und spaltet – dem Umgang mit illegalen Einwanderern –, ist Orban längst kein geächteter Rechtsaussenseiter mehr. Im Gegenteil, er gibt Europa den Takt in der Migrationspolitik vor: Abschottung, Abwehr, Ausweisungen.»

Was Wetzel in seinem Paralleluniversum zu erwähnen vergisst: während der Rede Organs führten sich EU-Parlamentarier ungebührlich bis unmöglich auf. Sie keiften hinein und wedelten sogar mit Transparenten. Aber was hatte Orban denn so Fürchterliches gesagt? Da schweigt Wetzel verkniffen – und ist damit nicht alleine. Wer den Inhalt anhören will, muss schon weit suchen, denn keines der grossen Massenmedien hielt es für nötig, die durchaus bedenkenswerten Bemerkungen wenigstens zusammenzufassen.

Das tut einzig und alleine die «Weltwoche»: «Er reihte Binsenwahrheit an Binsenwahrheit: Die ungezügelte Migration habe Antisemitismus, Homophobie und Gewalt gegen Frauen befeuert. Die Abkoppelung von billiger Energie aus Russland habe eine Wirtschaftskrise ausgelöst. Er forderte weniger Bürokratie und Regulierung, dafür mehr Energiesicherheit und Wettbewerbsfähigkeit, damit Europa international bestehe

Und nur die «Weltwoche» dokumentiert inzwischen die durchaus staatsmännische Rede Orbans im Wortlaut …

Was dann folgte, kann man nur jenseits von unserer Welt als «Abreibung für Orban» bezeichnen. Von der Leyen keilte tatsächlich zurück, worauf sie aber anschliessend von Orban deutlich in die Schranken gewiesen wurde.

Nun geht es nicht darum, die Richtigkeit der Positionen von Orban hier zu bewerten. Aber die Qualität der Berichterstattung von Wetzel kann durchaus gemessen werden.

Sie ist unterirdisch; in jedem Anfängerkurs für angehende Journalisten würde ein solch demagogisches Machwerk, das nichts mit den tatsächlichen Ereignissen zu tun hat, hochkant als völlig ungenügend in den Papierkorb wandern. Und dem Autor würde nahegelegt, es vielleicht mal mit einem anderen Beruf zu versuchen; Märchenonkel hat immer Konjunktur.

So wäre das, wenn im Tagi noch Qualitätsjournalismus betrieben würde. Da der aber – ausser in Worten von Bärtschi – weggespart, abgeräumt, niedergemacht, vergessen ist, kommt ein solches Stück second hand ins Blatt.

Das ist nicht nur geistlos, sondern geradezu schamlos. Wie die dafür Verantwortlichen dem Leser noch ins Auge blicken können, ohne rot anzulaufen? Aber darin haben die bislang überlebenden Leichenfledderer des seriösen Journalismus Übung. Sie leben wohl alle selbst schon in einem Paralleluniversum, in dem der Tagi noch eine ernstzunehmende Qualitätszeitung ist. Und morgen erzählen wir ein anderes Märchen.

Die Macht der Worte

Entscheidungen fallen mündlich. Ein unterschätztes Phänomen.

Das Regierungshandwerk stellen sich viele völlig falsch vor. Wenn sich der Laie fragt, wie denn eigentlich eine gewichtige Entscheidung zustande kommt, nimmt er an, dass gewaltige Räderwerke in Marsch gesetzt werden.

Es werde analysiert, recherchiert, Arbeitsgruppen verfassen Papers, Entscheidungsgrundlagen, lange Listen von Argumenten dafür und dagegen, die rechtlichen Rahmenbedingungen werden abgeklärt, historische Vergleiche gesucht, Q&A verfasst, Gutachten erstellt, schliesslich wird das Ganze eingedampft und als Entscheidungsgrundlage eingereicht.

Daraufhin beugt sich der Regierende darüber, studiert die Texte, macht da und dort mit grüner Cheftinte Anmerkungen, stellt ein Exzerpt her, ringt mit sich, verbringt eine schlaflose Nacht – und kommt zu einer Entscheidung.

Es ist möglich, dass ganz, ganz, ganz selten eine Entscheidung so zustande kommt. Die Wirklichkeit sieht ganz anders aus.

Andere Faktoren spielen eine entscheidende Rolle

In Krisensituationen spielen Überforderung, Unsicherheit und Schlafmangel eine bedeutende Rolle. Wer das nicht glaubt, lese das ausgezeichnete Buch «Die Schlafwandler» von Christopher Clark. Der Historiker beschreibt eindrücklich, wie wichtig diese Faktoren für den Beginn des Ersten Weltkriegs waren.

Oder wie das Karl Kraus 1914 formulierte, eine Zeit, «in der eben das geschieht, was man sich nicht vorstellen konnte, und in der geschehen muss, was man sich schon nicht mehr vorstellen kann, und könnte man es, es geschähe nicht».

Ein zweiter wichtiger Faktor beim Treffen von Entscheidungen: die Unfähigkeit, sich die Konsequenzen vorzustellen. Das Nichtwissen, welche Auswirkungen eine Entscheidung haben kann.

Auf Netflix läuft eine dramatisierte Darstellung der Ereignisse rund um die Müncher Konferenz von 1938. Das basiert auf dem Buch von Richard Harris «München». Nicht sein bester Thriller, aber er dramatisiert die Ereignisse um den vergeblichen Versuch des britischen Premiers Neville Chamberlain, durch Opferung eines Stücks der Tschechoslowakei den Kriegsausbruch zu verhindern.

Nach seiner Rückkehr hielt Chamberlain eine kurze Rede, in der er über den «peace for our time» schwärmte, das Abkommen sei der erste Schritt in eine friedliche Zukunft. Rund ein Jahr später begann der Zweite Weltkrieg.

Entscheidend ist das Wort. Das gesprochene

Der dritte, wichtigste Faktor bei einer Entscheidungsfindung ist aber das Wort. Genauer: der mündliche Vortrag. Wer in einer Debatte das schlagende Argument aus dem Hut zaubert, wer alle Einwände niederbügelt, wer schlagfertig ist, auch nach stundenlangem Geraufe hellwach und schnell mit Antworten zur Hand, der gewinnt.

Ist es eine streng hierarchische Veranstaltung, singt natürlich immer der Häuptling am schönsten. Seine Lakaien versuchen zu erahnen, welche Absicht der Herrscher wohl hat, welche Ansicht er vertritt. Und reden ihm dann nach dem Mund.

Häufig ist es aber so, dass im vertraulichen Kreis der Entscheider zunächst im offenen Schlagabtausch herausfinden will, was vielleicht die beste Entscheidung wäre. Und da gewinnt dann meist nicht das beste, zweckrationale, überlegene, weise, richtige Argument, sondern das am besten vorgetragene.

Alles Geraschel mit Papieren, Executive Summarys, Pro und Cons, Entscheidungsbäumen, Herleitungen: unnütz. Der bessere Rhetoriker gewinnt. Immer. In der Neuzeit konnte man das Phänomen zum ersten Mal in den Versammlungen nach der Französischen Revolution beobachten.

Da gab es ganz verschiedene Temperamente unter den Rednern. Die unerbittliche Kühle eines St. Just. Die gewaltige intellektuelle Überlegenheit eines Marat. Die schon körperlich sich manifestierende Urgewalt eines Danton. Und die schneidende, unerbittliche Logik eines Robbespierre. Der aussah wie ein schmächtiger Buchhalter, der gebückt und ohne grosse Stimmkraft seine Argumente vortrug. Damit aber alle anderen in den Schatten stellte. Schon fast entscheidungsreife Überzeugungen mit einer einzigen Rede umwarf.

Das Zünglein an der Waage spielte, als es darum ging, ob man den König hinrichten sollte oder nicht. Man war eher für nicht, bis Robbespierre seine Rede hielt. Daraufhin verrichtete die Guillotine ihr Werk; eine zeitgenössische Darstellung erlangte jüngst wieder unrühmliche Bekanntheit, als geschmacklose Dummsatiriker in sie den Kopf einer missliebigen Journalistin hineinkopierten.

Diese gewaltige Macht des Wortes beschreibt Hilary Mankel in ihrem Gewaltsroman «Brüder» über die Französische Revolution. 1100 Seiten, deren Lektüre sich unbedingt lohnt.

Bis heute ist es so, dass alle Wordings, alle ausgetüftelten Kampagnen, alle klug gewählten Keywords das eine sind. Das andere, wichtigere ist aber der Sieg in der offenen Feldschlacht, in der Debatte. Auch da kann mit vorbereiteten Zeilen gearbeitet werden. Es hängt aber vom Geschick des Redners ab, wann und ob er sie zum Einsatz bringt.

Seltene Sternstunden heutzutage

Leider entstehen solche Sternstunden immer seltener, und meistens ausserhalb des parlamentarischen Betriebs. Dort verkommen die Wortmeldungen immer mehr zu Pflichtübungen, da die Meinungen schon vorher gemacht sind und sich auch nicht mehr durch noch so überzeugende rhetorische Leistungen umstürzen lassen.

Aber im kleinen Kreis, beispielsweise im Bundesratszimmer, da kommt es wieder sehr darauf an, wie überzeugend jemand vorträgt. Auch da wird ein SP-Genossen eigentlich niemals einem Vorschlag des SVP-Bundesrats zustimmen. Aber manchmal, manchmal dann doch. Weil mal wieder die Macht des Wortes triumphiert hat.