Mach dir ein Bild
Seit es KI-bearbeitete Fotos gibt, ist das Gejammer gross.
1826 belichtete Joseph Nicéphore Niépce acht Stunden lang eine mit Asphalt beschichtete Zinnplatte. Et voilà, er hatte den Ausblick aus seinem Arbeitszimmer festgehalten.
Daraus entwickelte sich die Illusion, dass es nun endlich – im Gegensatz zur Malerei – gelungen sei, ein authentisches, wahrhaftiges Abbild der Realität zu geben. «So sieht’s dort wirklich aus», das war das Versprechen der Fotografie.
Das war von Anfang an die grosse Lüge der Fotografie. Zuerst fehlte ihr die Farbe, aber immer zeigt sie nur einen Ausschnitt der Wirklichkeit. Geschickte Fotografen malen mit Licht, komponieren ein Bild wie ein Maler, achten auf goldene Schnitte, helfen mit künstlicher Beleuchtung nach.
Einfach, einen Menschen zu dämonisieren, indem man sein Gesicht von unten anblitzt, Kontraste schärft, eine unvorteilhafte Grimasse verewigt.
Einfach, eine Idylle zu fotografieren, wenn der nebenan stehende Abfallkübel nicht sichtbar ist, der faulige Morast mit toten Fischen unterhalb des bunt angemalten Hauses auf Stelzen.
So schnell wie die Technik entwickelt sich auch die Technik der Retusche. Der Bildveränderung, schon früh vom Stalinismus perfektioniert, wo der unliebsame Trotzki dem grossen Stalin nicht in der Sonne oder neben Lenin stehen durfte. Allerdings wurde beim Retuschieren gelegentlich ein Bein oder ein Arm übersehen, das dann leicht dadaistisch in der Fotografie rumstand oder in der Luft hing.
Der Photoshop eröffnete dann neue, ungeahnte Möglichkeiten, vor allem in der Modefotografie. Falten verschwinden, Zähne werden geweisselt, Taillen verschlankt, Beine verlängert, Busen vergrössert, Hautfarben getönt; heller oder dunkler, je nach Zielpublikum.
Es werden ganze Beweisfotos gefakt. Unvergessen ein grosser Protestmarsch der französischen herrschenden Klasse gegen Terror, wo Regierungs-Chef und alle Noblen und Wichtigen mutig auf die Strasse gingen und Demonstration spielten. In einer abgesperrten und gut bewachten Strasse, vor sich eine Horde von Fotografen, die bis auf einen Verräter die Scharade mitmachten.
Bilder sind häufig mächtiger als Worte; der blutverschmierte Trump, trotzig die Faust gereckt, sich dem Zugriff seiner Bodyguards mutig entwindend – ist das noch real oder schon gestellt?
Der fotografische Beweis, das war schon immer ein starkes Argument – und ist es heute noch. Allerdings sind seiner Manipulation auch für den Laien kaum mehr Grenzen gesetzt. Das gilt auch für das bewegte Bild. Deep Fakes, man kann lippensynchron Personen etwas sagen lassen, mit ihrer eigenen, computergenerierten Stimme, was sie nie sagen würden. So kann Obama zur Wahl Trumps auffordern, während Trump zugibt, dass er als mehrfach Vorbestrafter für das Amt nicht geeignet sei.
Aus banalen Ferienfotos können Menschen herausretuschiert werden, damit der überfüllte Strand menschenleer wird, der verdreckte und mit Abfall übersäte Sand blütenweiss. Es gibt KI, die das Gesicht in Sekundenbruchteilen dreissig Jahre jünger machen, den Hängebauch verschwinden lassen, die Altersflecken auch.
Also kann man Fotografien nicht mehr trauen? Auch das ist natürlich Unsinn. Man kann ihnen so viel oder so wenig trauen wie immer. Der Begriff des Authentischen hat sich einfach verändert.
Der knallharte Kriegsfotograf, der niemals eine Szene inszenieren würde, den gibt es immer noch. Aber selbst ein James Nachtway bearbeitet seine Fotos nach, kitzelt im Labor eine Wucht heraus, die die Originale noch nicht haben.
Denn letztlich hilft es nichts. Ob ein Foto lügt, das muss manchmal genauso mühsam überprüft werden wie die Lüge in Worten. Die Lüge, dass die Erde flach sei, kann leicht widerlegt werden, obwohl die christliche Kirche Hunderte von Jahren an ihr festhielt. Dass die Erde nicht vor 6000 Jahren in einem göttlichen Akt geschaffen wurde, ist schon schwerer als Lüge zu überführen, aber es ist möglich.
Ob die Aussage «Die israelische Armee begeht Kriegsverbrechen» wahr oder falsch ist, das ist schon eine ganz andere Dimension der Wahrheitsforschung. Ob Fotografien das belegen können, ist nochmal eine andere Frage.
Aber letztlich ist die Verwendung von KI einfach eine neue Technologie für das ewig Gleiche. Die Interpretation der Wirklichkeit nach dem eigenen Gusto, ihre Verwandlung in etwas, was dem Bild des Betrachters entspricht, das er sich von der Realität gemacht hat.
Ob es eine von der menschlichen Betrachtung und Erkenntnis unabhängige, objektive Realität gibt – und ob es uns gelingen kann, genau sie abzubilden, in Bildern oder in Worten, damit befasst sich die Philosophie und Erkenntnistheorie schon seit über 3000 Jahren. Ohne zu einem endgültigen Ergebnis zu kommen.
Also ist jedes Gejammer über die realitätsverändernde Wirkung von KI so überflüssig wie das Gejammer über Photoshop oder Retusche oder das Metaversum.