Alles ist gut
Aus schludrigen Gedanken entstehen schludrige Texte. Das ist aber nicht schlimm. Lasst uns lieb zueinander sein. Alles ist gut.
Von Adrian Venetz
Mal angenommen, ich furze in einen Ballon, hänge ihn an einen rosaroten Staubsaugerschlauch, schmücke ihn mit Plastiktulpen und nenne das Werk «Flatulenzia Tulipae». Ausgestellt in einem hippen Atelier vergingen keine zehn Minuten, bis jemand das Werk mit einem Preis für progressives künstlerisches Schaffen versieht.
Längst haben wir uns daran gewöhnt, dass in der bildenden Kunst keine Qualitätskriterien mehr gelten. Das Handwerk beherrschen? Unwichtig. Alles ist subjektiv. Alles ist gut.
Woran man sich noch etwas gewöhnen muss: Auch in der Literatur macht sich diese Unsitte breit. Davon zeugen die zwei nachfolgenden Beispiele. Das erste Beispiel ist aus einem Gedichtband einer jungen Frau, die 2019 mit einem Literaturpreis ausgezeichnet worden ist.
«Brechend und schallend,
Ergreifend nah das Licht.
Schwebend und fallend,
Ein Segeln über düstere Meere.
Heimlich verdrängt und doch:
Die Fesseln abgelegt –
Der Schall schon verstummt.»
Das zweite Beispiel ist der Anfang eines Romans, den kürzlich ein junger Mann publiziert hat. Man ahnt es: Auch er ist Träger eines Literaturpreises.
«Fabien ist echt nicht in Stimmung für Spielchen. Wutentbrannt hetzt er die Treppe hinunter, raus auf die Straße, schmeißt achtlos eine Kippe vor den Eingang der Bank nebenan. „Bullshit!“, schreit er. Passanten drehen sich um. Egal. In ihm schreit es weiter, während er sich auf den Weg macht zu Michaela. Soll er ein Taxi rufen? Der Regen strömt. „Die Zeit rennt davon“, schleudert er wütend einem Banker entgegen. Graue Schläfen. Pikfeine Schuhe. Imprägniert. Der Banker blickt auf den Boden, als bemerkte er Fabien nicht. „Die Zeit rennt davon“, murmelt er, die Gedanken rasen durch seinen Kopf wie Papierschiffchen auf einem Wildbach. Hatte er Michaela nicht ausdrücklich gebeten, den Mund zu halten? Bullshit, Bitch! Wie ein nasser Traum trieft seine Wut, während er seine Schritte beschleunigt.»
Wütender, triefender, nasser Traum. Oder so.
Wer kommt auf die Idee, solche Texte als preiswürdig zu taxieren? Zwar gibt es Literaturpreise wie Sand am Meer, aber doch muss man sich fragen: Wer findet in solchen Texten literarische Qualität? Gewiss: Das «Mögen» ist subjektiv. Ich liebe Kafka und Stifter, fliehe aber vor Goethe und Brecht – dies allerdings im Wissen, dass auch Goethe und Brecht von höchster literarischer Qualität sind. Doch objektive Qualität in der Literatur geht heutzutage flöten. Alles ist subjektiv. Alles ist gut.
Und schliesslich – woran wir uns noch gewöhnen müssen: Auch im Journalismus schmelzen objektive Kriterien langsam dahin. Ein Thema sorgfältig einschätzen und gewichten? Einen roten Faden in den Text bringen? Eine verständliche Schreibe? Alles subjektiv. Alles gut.
Journalistisches Handwerk heute? Fühlen, wo das Ich betroffen ist
Gerne erinnere ich mich an einen früheren Chefredaktor der Luzerner Zeitung. Gnadenlos in seinem Urteil, menschlich manchmal kaum zu ertragen. Und doch hatte sein Urteil Gewicht. Weil er das journalistische Handwerk verstand. Weil er nicht sagte: Alles subjektiv, alles gut. Man hütete sich, schludrige Artikel abzuliefern. Tat man es dennoch, folgte ein Donnerwetter.
Heute ist das anders. Heute hütet man sich davor, einen Artikel als schludrig zu bezeichnen. Zu gross ist die Verletzungsgefahr. Das Resultat: Vor allem im Online-Journalismus sind dürftige Texte nicht mehr die Ausnahme, sondern die Regel. Unverständliche Sätze? Grammatikalisch falsch gebildete indirekte Rede? Alles halb so schlimm! Als ich einmal einen Vorgesetzten darauf aufmerksam machte, dass die Textqualität in der gedruckten Zeitung keineswegs mehr dem entspricht, was ein Abonnent von einem Bezahlmedium erwartet, antwortete er allen Ernstes:
«Das ist deine subjektive Meinung. Journalismus ist nun mal keine exakte Wissenschaft.»
Sie sind in der Tat zu beneiden, die exakten Wissenschaften. Über das korrekte Ergebnis der Quadratwurzel von 64 muss man nicht lange diskutieren. Auch über Qualität im Journalismus muss man heute offenbar nicht mehr diskutieren. Alles subjektiv. Alles gut. Bullshit, Bitch!