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Das Private und das Öffentliche

Bleibt der Hosenschlitz offen oder zu? Kommt darauf an, sagt die Journaille.

Im Vergleich zu Grossbritannien gehen die Schweizer Medien mit der Privatsphäre von Prominenten (und weniger Prominenten) eher pfleglich um.

Jahre zurück sorgten die unbewiesenen Behauptungen, dass ein Bundesrat im Berner Rotlichtmilieu verkehre, für einen veritablen Skandal – und läuteten das Ende von «Facts» ein.

Als sich derselbe Bundesrat auf die Harley Davidson eines einem Rocker zum Verwechseln ähnlich sehenden Bundeshausjournalisten der «Schweizer Illustrierte» setzte und sich dabei ablichten liess, sorgte das für grosses Aufsehen. Die Alkoholprobleme eines anderen Bundesrat, die sexuelle Orientierung eines dritten, das waren alles halböffentliche Geheimnisse, über die man vielsagend nicht berichtete.

Das hat sich in den letzten Jahren etwas geändert. Ein Bankenlenker mit einem unseligen Hang zu halbseidenen Lokalitäten und den dort auftretenden Damen: wir kennen inzwischen jede einzelne Spesenrechnung, die dadurch verursacht wurde.

Ein Bundesrat auf Freiersfüssen, der sich mit einer deutlich jüngeren Pianistin vergnügt und sich vom Rendez-Vous im Ausland mit der Dienstlimousine nach Bern zurückchauffieren lässt: wir kennen die Details.

Ein giggeriger Stadtammann, der aus seinen Amtsräumen Fotos seines Gemächts an die Angebetete verschickt; wir wissen davon. Von all den Cervelat-Promis, die sich selber in die Schlagzeilen bugsieren wollen, indem sie Intimes preisgeben, von all den Selbstdarstellern auf den Social Media wollen wir erst gar nicht reden.

Ohne Beweis wird’s teuer

Aber von der Grenze zwischen Erlaubtem und Unanständigem. Gar Verbotenem. Ungeschlagener Rekordhalter ist der ehemalige Schweizer Botschafter in Berlin. Dem wurde ein Verhältnis ausserhalb der Ehe nachgesagt, mit Kronzeugin und allem. Allein, es fehlte der Beweis für missbräuchliches Tun. Das wurde dann sehr, sehr teuer für Ringier.

Im Prinzip gilt hier, dass es die Privatangelegenheit der Eheleute oder Partner ist, wenn einer von beiden aushäusig Vergnügen sucht. Sollte er dabei erwischt werden, ist es immer noch eine Sache der direkt Beteiligten.

Die abgelegte Geliebte, der abgelegte Fun Boy, da kann dann zu Karriereknicks führen, wenn Rachebedarf vorhanden ist. Das kostete den vorletzten VR-Präsidenten von Raiffeisen das Amt, darüber wäre auch Bundesrat Berset beinahe gestolpert.

Auch hier stellt sich die Frage, ob die Medien Handlangerdienste für solche Rachefeldzüge leisten sollen oder nicht. Die Story ist meistens saftig und daher verführerisch. Auf der anderen Seite ist es immer offenkundig, dass die Massenmedien benützt werden sollen. Für private oder geschäftliche Auseinandersetzungen.

Bei Personen des öffentlichen Interesses ist in der Schweiz immer noch ein entscheidendes Kriterium, ob durch den Blick hinter den Hosenschlitz oder unter den Rock etwas zum Vorschein kommt, was von öffentlichem Interesse sein könnte.

Das bedeutet: der reine menschliche Inhalt darunter oder dahinter ist es nicht. Aber wenn Amtsmissbrauch, Ausnützung einer hierarchisch übergeordneten Stellung, die Verwendung von Mitteln dazukommt, die für solche Zwecke nicht vorgesehen sind, sieht die Sache schon anders aus.

Auf eigene Kosten ist es Privatangelegenheit

Wenn ein Bankenlenker seinen Hang zum Halbseidenen mittels der privaten Kreditkarte auslebt, wohlan. Auch einem hochrangigen NZZ-Mitarbeiter wurde nicht zum Verhängnis, dass er eine flotte Nummer mit Nutten und Koks aufs Parkett legte. Aber, dass er das mit der Firmenkreditkarte beglich.

Ein Bundesrat kann sich im In- und Ausland verlustieren, wie es ihm drum ist. Benützt er in diesem Zusammenhang seine Staatskarosse samt Chauffeur, sieht es schon etwas anders aus. Verwendet er die Macht seines Amtes gegen eine unangenehm werdende Geliebte ebenfalls.

Gehört das dann an die Öffentlichkeit? Zweifellos. Allerdings nicht mit dem erhobenen moralischen Zeigefinger der Kommentatoren, die staatstragend sittliche Verhalten, moralische Reinheit und ethische Überlegenheit in einem Ausmass einfordern, zu dem sie selbst nicht in der Lage sind.

Ein Amtsträger, der das ausnützt, um einen Untergebenen oder eine Untergebene in die Horizontale zu befördern, ist ein verächtlicher Mensch. Wer diesen Wechsel der Körperhaltung durch Versprechungen oder gar Drohungen erreicht, hat den Bereich des Strafbaren betreten.

Allerdings sind auch hier die Grenzen fliessender, als es viele Pharisäer oder Verteidiger der moralischen Reinheit gerne hätten. So stolperte der «Bild»-Chefredaktor darüber, dass er als Casanova seinen Vorgesetzten gegenüber nicht reinen Tisch machte. Aber keine der von ihm beglückten Damen erhob die Anschuldigung, dass sein Tun gegen ihren Willen oder ohne ihr Einverständnis erfolgte.

Es passt auch nicht ins festgefasste Weltbild vieler Kritiker, dass die Rollenverteilung – Mann als Täter, Frau als Opfer – häufig, aber nicht immer klar ist. Es gibt Karrieristen jeglichen Geschlechts und jeglicher sexueller Ausrichtung, die sich planmässig nach oben schlafen. Da es immer noch viel mehr Männer als Frauen in Machtpositionen gibt, sind es vornehmlich Frauen. Aber nicht nur.

Damaliger Skandalfilm

Lange bevor #metoo Fahrt aufnahm, skandalisierte der Film «Disclosure» schon 1994 einen Fall, in dem eine Vorgesetzte einen weisungsabhängigen Mann verführen möchte. Als er sie abweist, bezichtigt sie ihn daraufhin der sexuellen Belästigung. Da es ein Hollywood-Streifen war, kommt es dennoch zum Happyend; der zu Unrecht Beschuldigte kann seine Unschuld beweisen.

Täterin Demi Moore, Opfer Michael Douglas.

Aber sowohl in der Ausgestaltung sexueller Beziehungen wie in der Berichterstattung darüber gibt es mehr Grauzonen als gesicherten Boden. Ab wann ist das Private öffentlich? Was braucht es, dass intimes Verhalten, Seitensprünge, der Besuch von Striplokalen, sexuelle Abnormitäten ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt werden dürfen?

Wie schützen sich die Medien davor, für Rachefeldzüge instrumentalisiert zu werden? Ist es zum Beispiel richtig, ein noch nicht publiziertes, nicht einmal geschriebenes Buch präventiv verbieten zu lassen, weil die porträtierte Person befürchtet, dadurch nicht reparierbar an ihrem Ruf geschädigt zu werden?

Und wenn eine solche Rufschädigung oder Persönlichkeitsverletzung eingetreten ist, wie kann sie geheilt werden? Die Stigmatisierung nach der Devise «etwas hängen bleibt immer» ist normalerweise nicht wiedergutzumachen. Auch bei Falschbeschuldigungen kann ein Schaden entstehen, der irreparabel ist.

Aber eigentlich, wie die aktuelle Debatte über die Nichtveröffentlichung eines Artikels über angebliche weitere Affären unseres Gesundheitsministers beweist, funktionieren in der Schweiz die Checks und Balances weitgehend.

Ausser im Fall des gefallenen Bankenstars. Da sind bei Tamedia alle Sicherungen durchgebrannt.

Take back control

Damit wurde die Brexit-Abstimmung gewonnen. Funktioniert das auch im Internet?

Das Folgende kann ein wenig technisch werden. Ist aber von brennendem Interesse für jeden Nutzer des Internets.

Immer noch viel zu viele Nutzer wiegen sich in der Illusion, dass das Internet im Prinzip gratis sei. Nette Menschen stellen Plattformen zum sozialen Austausch zur Verfügung, andere bieten umsonst E-Mail-Programme an, sogar das Suchen ist eine freundlich von Google geschenkte Maschine.

Quatsch. Es gibt Dienstleistungen im Internet, die mit Geld bezahlt werden, via Kreditkarte. Alle Dienstleistungen im Internet sind nicht kostenfrei. Sondern werden mit Daten, Profilen, Bewegungsmustern bezahlt. Das ist die neue Weltwährung, damit wird Wertschöpfung betrieben.

Das ist den meisten Nutzern egal. Immer öfter machen allerdings Nutzer die schmerzliche Erfahrung, dass es auch keine Anonymität im Internet gibt. Wilde Beschimpfungen, versteckt hinter einem Pseudonym, abgeschickt von einem Hotmail-Account? Im schlimmsten Fall steht die Polizei vor der Türe. Hättest an die individuelle IP-Adresse denken sollen, stupid.

Nun gibt es aber auch gute Gründe, wieso ein Nutzer tatsächlich dringend darauf angewiesen ist, dass man ihn nicht identifizieren kann. In erster Linie handelt es sich natürlich um Oppositionelle in Überwachungsstaaten wie China.

Dort herrscht nicht nur strikte Internet-Zensur, es wird auch versucht, jede nicht kontrollierte Aktivität zu unterbinden, und sei es auch nur ein Informationsaustausch. Als Gegenmittel zur totalen Überwachung gibt es Tor. Das ist ein Akronym für «The Onion Routing». Damit ist das Prinzip nicht schlecht beschrieben. Wie unter vielen Zwiebelschalen wird die Identität von Nutzern verschleiert.

Schutz der Privatsphäre gegen Kontrolle

Vereinfacht ausgedrückt schickt A nicht mehr direkt eine E-Mail an B, sondern die Message wird auf eine zufällige Route über Tor-Knoten geschickt, die normalerweise eine Rückverfolgung verunmöglicht. Aber diese Tor-Knoten sind öffentlich bekannt. Daher wurden sie beispielsweise von der chinesischen Internet-Zensur blockiert. Denn sie ermöglichten es auch, so auf Webseiten zu gelangen, deren direkter Zugriff ebenfalls blockiert ist.

Als Gegenmassnahme wurden sogenannte Tor-Brücken eingerichtet, die das wiederum umgehen. Es handelt sich also um den üblichen Kampf zwischen Zensoren und Widerstandsnestern gegen Zensur. Allerdings ist die Zahl dieser Brücken beschränkt, und die chinesische Internetpolizei fahndet nach ihnen als wäre es ein Stück aus der Science Fiction Serie «Matrix».

Wie bei allen Verschlüsselungs- und Verschleierungstechnologien ist auch Missbrauch möglich. Durch die weitgehende Anonymisierung der Teilnehmer ist Tor das Eingangstor zum Darkweb, wo alle Arten von kriminellen Produkten angeboten werden. Drogen, Waffen, Kinderpornografie, auf Marktplätzen finden hier Verkäufer und Käufer unter dem Schutz der Anonymität zusammen und erledigen die Transaktionen mit Kryptowährungen wie Bitcoin, die ebenfalls die Geschäftspartner anonymisieren.

Tor wird attackiert

Da Tor im Wesentlichen eine Freiwilligenveranstaltung ist, der Zugang frei, ist nicht nur durch chinesische Anstrengungen das Grundprinzip – freie und anonyme Nutzung des Internets, in Gefahr. Unterstützer von Tor fahren daher eine Kampagne, um möglichst viele neue Brücken zu bauen.

Andererseits gibt es ein Start-up aus der Schweiz, das ankündigt, die nächste Generation einer Infrastruktur zum Schutz der Privatsphäre zu bauen. Diesmal soll es allerdings nicht gratis sein, wie die Macher in einem Positionspaper festhalten.

Auf der anderen Seite sieht es ganz danach aus, als ob die hier verwendete Methode der Verschlüsselung und Anonymisierung der Nutzer zumindest zurzeit nicht knackbar ist. Zudem schafft Vertrauen, dass diese Plattform in der Schweiz, genauer in Neuenburg, entwickelt wird. Auf der anderen Seite steckt der Crypto-Skandal noch allen in den Knochen.

Auf jeden Fall ist das ein Krieg, der eine entscheidende Rolle in der Zukunft von dissidenten Bewegungen in Diktaturen spielen wird. Denn ohne unkontrollierten Informationsaustausch und ohne unkontrollierten Zugang zu Informationen kann es keine Opposition zu einem herrschenden Regime geben.

Aber möglicherweise wird die Rechenpower von Quantencomputern auch diesem Versuch zum Schutz der Privatsphäre den Garaus machen. Der dann durch den nächsten abgelöst wird.

Vorliegende Dokumente

Früher einmal Qualitätsmerkmal, heute immer häufiger Symbol für Schmierenjournalismus.

Die Fichen-Affäre oder die Beschattungsorgie bei der Credit Suisse in der Schweiz. «Neue Heimat» oder die Parteispendenaffäre in Deutschland. Das waren hart recherchierte Skandalstorys. Das Zusammensetzen eines Puzzles aus Informationen, so oder so beschafften Dokumenten, Spuren und detektivischem Gespür.

Die Hitler-Tagebücher hingegen waren im deutschen Sprachraum das erste grosse Beispiel, wohin es führen kann, wenn man zugehaltenem und sogar gekauftem Material zu blindlings vertraut.

Im Armutsjournalismus von heute ist’s ähnlich. Zum einen gibt’s grosse Kracher, wie sie noch nie zuvor gezündet wurden. Hunderte von Journalisten in Dutzenden von Ländern weiden Datengebirge aus, die ihnen von unbekannter Quelle zugesteckt wurden. Ohne Kenntnis der Motive, der Hintergründe, einer möglichen Vorselektion der Daten.

Denn immer geht es um Steuerhinterziehung. Blutgeld. Kriminelle Gewinne, Diktatorengelder, schmutziges Geld, zumindest Vermögen, die von geldgierigen und verantwortungslosen reichen Säcken auf meistens kleinen Inseln parkiert werden. In Tarnkonstruktionen, die ihnen von willfährigen Helfern gebastelt werden.

Gute Aufmachung, schwacher Inhalt.

So die Mär, die grossartige Ankündigung. Die Wirklichkeit sieht dann immer viel prosaischer aus. Eher kläglich sogar. Von den Hunderttausenden von Konstrukten fallen gerade mal ein paar Dutzend auf, in den wenigsten Fällen werden Straffverfahren eingeleitet, in noch wenigeren kommt es zu einer Verurteilung.

Der Flurschaden ist aber immens; unbescholtene Personen kommen kurzzeitig ins Visier der selbsternannten Ankläger, Rächer und Richter, werden namentlich ans Kreuz genagelt. Und dann klammheimlich wieder abgenommen, war leider nix, alles Verdachts- und Vermutungsjournalismus.

Die grössten Verbrecherstaaten bleiben unbehelligt

Aber immer basierend auf Dokumenten, Daten, Kontoauszügen, Verträgen. Auf Hehlerware, aber was soll’s, wenn’s der vermeintlich guten Sache dient. Der Transparenz. Dem Kampf gegen Steuerhinterziehung. Geldwäsche. Ironischerweise wird dabei immer übersehen, dass die grössten Geldwaschmaschinen der Welt, die grössten Oasen für Steuerhinterzieher in Ländern liegen, die nie in all diesen Leaks und Papers vorkommen. Nämlich zuerst in den USA, dann in Grossbritannien, gefolgt von Deutschland, dem Geldwäscherparadies. Oder von Luxemburg und Irland, den idealen Staaten für legale Steuervermeidung.

Aber das sind die grossen Dinger. Richtig unappetitlich wird’s im Kleinen. Geschäftliche Auseinandersetzungen, private Fehden, ja sogar Beziehungsknatsch – immer findet sich ein Organ, das willig ist, angefütterte Informationen auszuschlachten. Der Primeur, die Exklusiv-Story, da gerät man gerne in Schnappatmung und wirft alle journalistischen Grundsätze über Bord.

Moderner Anfütter-Journalismus.

Der Erste sein, da bricht die publizistische Leiter nach unten von CH Media schon mal gerichtliche Sperrfristen, um zuerst – und falsch – einen Triumph seiner Schutzbefohlenen Jolanda Spiess-Hegglin zu vermelden. Da stützt sich ein Oberchefredaktor auf schlüpfrige Fotos, die ein triebgesteuerter Stadtammann in seinen Amtsräumen von seinem Gemächt machte – und sich nicht entblödete, sie auch zu verschicken.

Da berichtet ein anderer Chefredaktor detailliert über Spesenabrechnungen eines gefallenen Banken-Stars im Rotlichtmilieu – oder über die Kosten, die die Renovation einer Hotelsuite verursachte, wo es wegen unfähiger Terminplanung zu Handgreiflichkeiten zwischen zwei käuflichen Damen kam.

Es geht noch toxischer

Immer, wenn man denkt, tiefer geht’s nicht, treten die Medien den Beweis an: doch. Jüngstes Beispiel ist eine fatale Affäre, die ein Banker in Führungspositionen hatte. Seine verschmähte Geliebte sinnt auf Rache, will sich öffentlich – nur unzureichend verkleidet in einer fiktiven Story – an ihm rächen, diesem «toxic leader», einem Psychopathen, Narzissten, Manipulator, mit «vielen Leichen im Keller».

Er lässt das verbieten, darauf macht sie das, was heutzutage eigentlich immer funktioniert: sie wendet sich an eine Zeitung. In diesem Fall an den SoBli, der sofort eine scharfe Story wittert. Eine Aussprache mit dem betroffenen Banker bringt nichts, er benützt wieder das Mittel einer superprovisorischen Verfügung.

Von einem anonymen Mail-Accout, dessen Besitzer nicht zu eruieren ist, kommt die Story doch in Umlauf. Das Manuskript mitsamt Belegen und Beilagen dürfte zu diesem Zeitpunkt nur dem Autor und der Chefetage des «SonntagsBlick»  bekannt gewesen sein. Und wohl der Betroffenen selbst, wie das im heutigen Elendsjournalismus nicht selten der Fall ist.

Auch dieser Versuch, via Medien den Bankboss zu Fall zu bringen, scheitert. Aber wenn die Medien willig sind … Diesmal kommt Tamedia zum Handkuss. Dem Oberchefredaktor wird eine Strafanzeige zugehalten, aufgrund derer sich der Bankboss vor dreieinhalb Jahren einer Indiskretion schuldig gemacht habe. Er soll – auf Aufforderung und Bitte – ein internes Papier an seine Geliebte ausgehändigt haben. Möglicherweise mit börsenrelevanten Informationen, wie er in seinem Liebesrausch damals selber eingestand.

Es liegt vor – Geschwurbel für «zugesteckt bekommen»

Höchstwahrscheinlich aber nicht, denn vielleicht wollte er sich nur etwas aufplustern. Damit genug? Damit nicht genug. «Dieser Zeitung liegt sowohl die Klage Lachappelles vor als auch die Klageantwort seiner Ex-Partnerin.» Schreibt CH Media. Schon das entspricht nicht der Wahrheit. Das liegt nicht vor, das wurde ihnen zugesteckt. Einmal darf der intelligente Leser raten, von wem.

Den Justizbehörden? Wohl kaum. Von Lachappelle? Wohl kaum. Behändigte Pascal Hollenstein das Papier höchstselbst, indem er ins Archiv der zuständigen Staatsanwaltschaft einbrach? Wohl kaum. Steht in diesen Papieren irgend etwas, was

  1. erhellende neue Erkenntnisse bringt?
  2. für die Öffentlichkeit von Interesse ist?

Ob sich Lachappelle mit seiner Kurzzeitflamme in der Öffentlichkeit sehen liess oder nicht? Ob er sich von seiner Frau trennte, und wenn ja, wie lange, oder nicht? Dann setzt Hollenstein – unterstützt von einem Redaktor – zur Rechtsbelehrung an: «Denn nur, wenn andere «Joe» mit Guy Lachappelle identifizieren konnten, könnten die Schilderungen auch ehrverletzend sein.» «Joe» nennt die verschmähte Geliebte die Figur, in der sich Lachappelle wiedererkannte und deren Darstellung er als ehrverletzend ansieht. Was bislang vom Gericht auch so gesehen wird.

Nach der Rechthaberei durch den Laien kommt’s noch knüppeldick:

«Was ist wahr an dieser Beziehungsgeschichte, die Guy Lachappelle vor den nationalen Medien am Donnerstag ausgebreitet hat? Was ist unwahr? Und was lässt sich überhaupt beweisen?»

Falsche Frage. Was interessiert’s? Was geht das Hollenstein an? Oder die Öffentlichkeit?

Zuerst Intimes ausbreiten, dann darüber den Kopf schütteln

«Fest steht: Die Basler Justiz wird sich aufgrund einer Strafanzeige mit sehr Persönlichem befassen müssen, das nicht an die Öffentlichkeit gehört.»

Vor einer solchen Aussage würde Tartuffe, würden alle schmierigen Gestalten von Heuchlern in der Kunst vor Neid erblassen. Zuerst wird’s von CH Media an die Öffentlichkeit gezerrt, dann wird das beklagt.

Blick in einen modernen Newsroom.

Wenn die publizistische Leiter nach unten ihrem Übernamen schon alle Ehre macht, kommt natürlich noch hinzu: Erwähnung, dass für alle Beteiligte die Unschuldsvermutung gilt, bislang nicht mal ein Strafverfahren gegen Lachappelle eingeleitet ist? Ach was, gehörte zwar zur Minimalanforderung eines den primitivsten Regeln des Journalismus entsprechenden Artikels. Aber doch nicht bei Hollenstein.

Bekam der so durch den Dreck Gezogene wenigstens die Möglichkeit zur Stellungnahme? Ach was, könnte doch nur stören. Wenn ein blutiger Anfänger einen Artikel mit diesen beiden Defekten einreichen würde, er würde vom Hof gejagt. Aber der Hofherr kann sich solche Schlampereien erlauben.

Blick ins Archiv einer modernen Redaktion.

Über all diese «Widersprüche» habe Lachappelle in seiner PK nichts gesagt, schmiert Hollenstein unheilschwanger aufs Papier. Hätte er, was selbst dem nicht zimperlichen Tagi einfiel, nachgefragt, hätte er die gleiche Antwort bekommen: zu dieser Strafanzeige konnte Lachappelle nichts sagen, weil sie ihm nicht vorliegt.

Anstatt juristische Ratschläge zu erteilen, könnte sich Hollenstein mal mit dem Ablauf nach dem Einreichen einer Strafanzeige vertraut machen. Aber wozu auch. «Vorliegende Dokumente» erlauben es, alle journalistischen Ansprüche fahren zu lassen. Einseitig, unqualifiziert und nur aufgrund unbewiesener Behauptungen einen Artikel zu basteln, den als einäugig zu bezeichnen noch ein Euphemismus wäre.

Der Fisch stinkt vom Kopf, heisst es richtig. Lachappelle hat die Konsequenzen gezogen. Ist Hollenstein auch dafür zu feige?

Ist die BAG-Direktorin noch tragbar?

Anne Lévy hat die Fortsetzung der Pannenserie zu verantworten. Aber sie kümmert sich lieber um Privates.

Impfchaos, immer mal wieder falsche Zahlen, die Verwendung aller Kommunikationsmittel, vielleicht mit Ausnahme von Brieftauben oder Meldeläufern: selten hat sich ein Bundesamt mit immerhin 600 Mitarbeitern dermassen in einer Belastungssituation blamiert.

Lévy hatte ein halbes Jahr Zeit, sich auf ihre neue Aufgabe vorzubereiten, bevor sie am 1. Oktober letzten Jahres ihr gutbezahltes neues Amt antrat. Diesen Vorlauf scheint sie aber mehr auf die Regelung privater Angelegenheiten verwendet zu haben.

Eine ihrer ersten wegweisenden Management-Entscheidungen war, dass sie das Mitbringen von Hunden ins BAG-Hauptquartier erlaubte. Das sorge für bessere Stimmung bei den Mitarbeitern, meinte sie. Dass sie nun auch ihren eigenen Köter im Büro halten darf, hat ihre Entscheidung sicherlich nicht beeinflusst.

Der arme Hund ist sich zu Hause aber einen doch etwas grösseren Auslauf als im Büro gewohnt, denn Lévy haust in Bern in einer grosszügigen 8,5-Zimmer-Wohnung. Als das News-Portal nau.ch das in einem Nebensatz über einen Fehlalarm berichtete, der zum Eingreifen einer bewaffneten Polizeitruppe führte, verlor Lévy die Fassung.

Was für Lévy wichtig ist – und was nicht

Sie griff wutentbrannt höchstpersönlich zum Telefon und stauchte lautstark die Redaktion von nau.ch zusammen. Diese Angabe müsse sofort gelöscht werden, falls nicht, so drohte sie wiederholt, setze sie die ganze Macht der juristischen Abteilung des BAG in Bewegung.

Interessant, wie sorgfältig Lévy hier Privates und Amtliches trennt. Aber damit nicht genug. Nau.ch hatte ebenfalls berichtet, dass die Information über den Polizeieinsatz von einem Augenzeugen an die Redaktion weitergegeben worden war. Auch das erregte Lévys allerhöchste Verstimmung. Ultimativ forderte sie die Redaktion auf, ihr den Namen dieses Augenzeugen zu nennen. Quellenschutz und ähnlicher Unsinn waren der Chefbeamtin in diesem Moment völlig egal.

Später versuchte die Kommunikationsabteilung des BAG, die Zahnpasta wieder in die Tube zu drücken. Diese Informationen seien «irrelevant» und «nicht von öffentlichem Interesse», deshalb habe «man» interveniert. Als sich das ebenfalls als Rohrkrepierer erwies – bestimmen nun Beamte, was die Medien zu veröffentlichen haben und was nicht –, versuchte man es dann mit dem «Schutz der Privatsphäre».

Die gilt im BAG aber offenbar nicht für den internen Mailverkehr, denn der hing noch am Mail, das der oberste Kommunikationsverantwortliche an ZACKBUM.ch schickte.

Die «aktuelle» BAG-Impf-Seite. Letzte Aktualisierung: 12. Januar. Aber immerhin 2021.

Im aktuellen Mailverkehr mit ZACKBUM.ch heisst es, dass keine weiteren Fragen mehr zur Privatsphäre der Direktorin Lévy beantwortet werden. Diese Privatsphäre ist uns tatsächlich vollkommen egal. Aber zu ihrem Verhalten im Amt haben wir noch ein paar Fragen:

  1. Ist eine Direktorin weiterhin tragbar, die dermassen die Contenance verliert, statt sich um die vielen wichtigen und dringlichen Probleme zu kümmern, die nichts Besseres zu tun hat, als höchstpersönlich eine Redaktion anzurufen und lautstark zu bedrohen?

  2. Ist eine Direktorin weiterhin tragbar, die sogar damit droht – mehrfach –, die Rechtsabteilung des BAG in Marsch zu setzen, wenn ihrer persönlichen Forderung – die Grösse ihrer Wohnung muss gelöscht werden – nicht nachgekommen wird?

  3. Ist eine Direktorin weiterhin tragbar, die zudem Auskunft verlangt, wer dieser Augenzeuge sei, der den Polizeieinsatz an nau.ch gemeldet habe?

  4. Ist eine Direktorin weiterhin tragbar, die nicht einmal den Anstand hat, sich für ihren Ausraster zu entschuldigen, dafür aber die Kommunikationsabteilung des BAG und des EDI dazu missbraucht, mit aberwitzigen Verdrehungen ihr Fehlverhalten zuzuschwatzen?

  5. Ist die Direktorin des wohl zurzeit wichtigsten Bundesamtes noch tragbar, die sich offensichtlich nicht im Griff hat, zwischen Amt und Privatem nicht unterscheiden kann, mit dem Einsatz von BAG-Juristen droht, die mit ihrem privaten Problem nichts zu schaffen haben? Die schliesslich die einfachsten Regeln des Journalismus nicht kennt oder meint, sie dank ihres Amtes ignorieren zu können?

Überfordert, arrogant, disqualifiziert: aber noch tragbar?

All das sind Anzeichen von Überforderung, aus Problemen flüchten und seine schlechte Laune an einer Redaktion abreagieren wollen, die nur ihren Job machte. Zum amtlichen Versagen kommt noch eine bedenkliche Unkenntnis rechtsstaatlicher Vorschriften hinzu. Offensichtlich meint Lévy, für sie als Direktorin gälten andere Regeln als für jeden anderen.

Schliesslich disqualifiziert sie sich noch als Person, indem sie nicht den Anstand hat, persönlich für ihr Fehlverhalten hinzustehen. Das sind mehr als genug Gründe, um dringlich einen Nachfolger – oder eine Nachfolgerin – zu suchen. Alleine schon deswegen, weil dieses Verhalten ihre Autorität als Führungsperson in einem Amt mit 600 Mitarbeitern schwer beschädigt hat.

Wenn ihr auch diese Fähigkeit zur Einsicht fehlt, dann ist es an ihrem Vorgesetzten, Remedur zu schaffen. Das BAG ist zu wichtig, als dass es weiter in den Händen dieser Frau liegen darf.

Berset: toujours l’amour?

Wer darf einen Blick auf den Unterleib eines Bundesrats werfen?

Wie sagte Karl Valentin so unsterblich richtig: Wenn’s einer kann, ist’s keine Kunst. Kann’s einer nicht, ist’s auch keine. Wie ist’s damit in den Schweizer Medien bestellt?

Der Gralshüter des moralisch hochstehenden Diskurses donnert im Blatt für die gehobenen Stände: «Keine Geschichte.» Man reibt sich etwas die Augen; das muss wohl ein Doppelgänger von Frank A. Meyer gewesen sein, der im gleichen Boulevard-Blatt SoBli den Lausch- und Fotoangriff auf den Unterleib des damaligen Botschafters in Berlin als gerechtfertigt bezeichnete, weil der ja durch eine angebliche Liebschaft erpressbar sei.

Das endete dann eher peinlich. Der Botschafter war weg, aber die Teutonentruppe bei der «Blick»-Familie auch, dazu gab es einen empfindlichen finanziellen Aderlass, der Verleger höchstpersönlich musste sich auf Seite eins entschuldigen, und Meyer wurde wegen übertriebener Härte kurzfristig auf die Strafbank gesetzt.

Die Bundespolizei zeigte für einmal, was sie kann

Ach ja, das waren noch Zeiten. Nun ist es einem Bundesrat widerfahren, dass er mit Erpressung bedroht wurde. Offenbar ziemlich konkret; die Erpresserin hatte schon extra zwei Konten für die Überweisung von 100’000 Franken eröffnet. Wenn nicht, würde sie mit verfänglichen Fotos und pikantem Geschreibsel des Bundesrat an die Öffentlichkeit gehen.

Das geschah schon im Dezember 2019, und nachdem der Bundesrat sie vergeblich via Anwalt von diesem Plan abbringen wollte, schaltete er die Bundespolizei ein. Die zeigte für einmal, was sie kann, wenn sie will. Die Übeltäterin wurde verhaftet, einem strengen Verhör unterzogen und willigte freiwillig ein, dass die möglicherweise belastenden süssen Erinnerungen von all ihren Datenträgern entfernt werden.

Da sie schon kurz zuvor einen Rückzieher von ihrer Absicht gemacht hatte, durch Erpressung 100’000 Franken einzunehmen, wurde die ganze Angelegenheit mit einem Strafbefehl erledigt. Und wäre überhaupt erledigt gewesen, wenn solche Strafbefehle nicht eine kurze Zeit öffentlich einsehbar sein müssten.

Wer ist wie und wann erpressbar?

Und schon wieder ging die Debatte los, ob der Bundesrat zwar in diesem Fall der Erpressung nicht nachgegeben habe, aber möglicherweise eben doch erpressbar sei. Das wurde natürlich von ihm selbst und von Meyer zurückgewiesen, und dann kann es ja auch nicht so sein.

Seine einzige Waffe?

In wohl jedem anderen Land der Welt wären ab Bekanntgabe der Affäre die Journalisten ausgeschwärmt, um die Hintergründe zu recherchieren, die Erpresserin ausfindig zu machen, mindestens ein Porträt über sie zu schreiben, wenn ihr schon nicht ein Quote zu entlocken wäre.

In der Schweiz wird bei solchen Sachen geeiert. Als der katholisch-christliche Parteipräsident einer die Ehe und christliche Werte hochhaltenden Partei sich bei einem Seitensprung fortpflanzte, machte er mit dem «Blick» ein Päckli; Exklusiv-Story mit reuigem Sünder, dafür keine blöden Nachfragen. So schaffte er es sogar, in die Walliser Regierung gewählt zu werden, der Heuchler. Dagegen hatte Meyer keine Einwände.

Berset hat Glück im Unglück

Nun hatte Bundesrat Alain Berset Glück im Unglück. Nicht etwa das eigentlich zuständige Boulevard-Blatt hatte die Story, die Sonntagszeitungen hatten sie zwar, rechneten aber nicht damit, dass sie die WeWo am Samstag im Internet mit dem Primeur abtrocknen würde. Statt selber eine saftige Aufmacherstory zu liefern, konnten sie nur missmutig nacherzählen.

Anschliessend wurde natürlich nicht nur von Meyer debattiert, ob das nicht wirklich eine Privatangelegenheit des Bundesrats sei, zudem erledigt, also könnten doch nur rechte Hetzer daraus einen Skandal hochzwirbeln wollen. Ausserdem wisse man ja gar nicht, worum es hier genau gegangen sei, worin das Material bestünde, mit dem erpresst werden sollte.

Nun ja. Wenn man sich die Hintergründe etwas genauer anschaut, kommt man doch auf ein paar merkwürdige Zufälle. Bei der gescheiterten Erpresserin handle es sich um eine Künstlerin, die im weiten Feld der Performance unterwegs ist. Obwohl sie ein überschaubares Oeuvre vorgelegt hat, bekam sie bereits den Schweizer Kunstpreis, immerhin mit 25’000 Franken dotiert. Ihre Ausstellungen, Aufenthalte, ihr Wohnsitz zeugen zumindest von einer gewissen Weltläufigkeit und Vernetzung.

Eigentlich könnte jeder den Namen der Künstlerin herausfinden

Inzwischen sind auf «Inside Paradeplatz» und anderswo dermassen viele Details über diese Künstlerin veröffentlicht worden, dass es keiner grossen Anstrengungen bedarf, ihren Namen herauszufinden und ihr ein Mail zu schicken, ob sie nicht mal ihre Sicht der Dinge darlegen wolle.

Sie will leider nicht, und Bersets Anwalt droht jedem mit Pech und Schwefel, der es wagen sollte, ihren Namen zu publizieren. Sie selbst ist zudem in einer Schweizer Kulturstätte im Ausland versorgt, bis Mitte nächsten Jahres. Ist auch ziemlich praktisch; bis dahin dürfte endgültig Gras über die Sache gewachsen sein.

Darf nun ein Bundesrat kein Privatleben haben, und wenn doch, ist das dann nicht seine Privatsache und geht niemanden etwas an? Ausser den Direktbeteiligten, darunter auch seine Frau und Kinder?

Bei politischen Exponenten ist die Privatsphäre anders gestaltet

Das mag so sein. Aber wenn der kleine Angestellte Müller, verheiratet, mit der Serviertochter des «Ochsen» ein Verhältnis hat, ist das keine Geschichte, selbst wenn sie ihn nach einem Streit über einen Schwangerschaftstest erpressen will. Nun ist das bei einem Bundesrat etwas anderes. So wie bei einem Botschafter oder Parteichef. Zumindest sollten alle Fakten auf den Tisch kommen.

Interessant ist dabei auch, dass sogar von Politikerinnen bestritten wird, dass es sich bei dieser Frau um ein Opfer handeln könnte. Trotz #metoo und der klassischen Ausgangslage, mächtiger Mann, ohnmächtige Geliebte – keinen scheint ihre Geschichte, ihre Sicht der Dinge zu interessieren. Eine Schweizer Besonderheit oder eine Schweizer Absonderlichkeit?