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Was ist genau passiert?

Wie der Mainstream-Journalismus am Handwerk scheitert.

Die «Rundschau» zeigte schockierende Videoaufnahmen, wie eine Frau brutal verprügelt wird. Sie stellt den Zusammenhang her, dass diese Frau in die Wohnung eines stadtbekannten Schaffhauser Anwalts gelockt worden sei, um sie dort davon abzubringen, einen Kumpel des Anwalts wegen angeblicher Vergewaltigung weiter zu verfolgen. Sagt die Frau.

Die Aufnahmen stammen von den Überwachungskameras des Anwalts, der sie in seiner eigenen Wohnung installierte, weil er verhindern wollte, dass bei seinen häufigen Partys geklaut werde, wie er behauptet. Die Tat fand am 21. Dezember 2021 statt, also vor über zweieinhalb Jahren.

Wie sie in die Hände der «Rundschau» gerieten, ist unbekannt.

Die Frau sagt im Beitrag der «Rundschau», dieser Kollege des Anwalts habe sie zwölf Tage zuvor vergewaltigt, im Bericht wird insinuiert, dass es bei einer siebenminütigen Abwesenheit der Frau in einem Nebenzimmer, in dem es offenbar keine Videokamera gibt, nochmals zu einer Vergewaltigung gekommen sein könnte.

Die Staatsanwaltschaft ermittelt, habe aber auch zweieinhalb Jahre nach den Vorfällen noch keine Anklage erhoben.

Soweit, so unappetitlich und übel. Das führte zu grosser Resonanz, in Schaffhausen demonstrierten gegen 500 Personen, eine Petition mit bislang 9000 Unterschriften fordert einen unabhängige Untersuchung der Vorkommnisse.

Auch in den Medien gab es grosses Hallo, einfach in Form einer Nacherzählung des «Rundschau»-Berichts. Die kleine Schaffhauser AZ machte dann ihre Hausaufgaben:

«Wir haben diverse Gespräche geführt und als erstes und bisher einziges Medium auch mit mehreren der mutmasslichen Täter gesprochen (die Rundschau hat sie – abgesehen vom Anwalt – nicht kontaktiert). Wir haben versucht, mit dem Opfer Fabienne W. und mit der Opfer­anwältin zu sprechen, diese wollen sich aber nicht mehr zum Fall äussern, weil in der Rundschau bereits alles für Fabienne W. Relevante gesagt worden sei. Schliesslich haben wir uns Zugang zu den polizeilichen Ermittlungsakten verschafft – darunter Tatbestandsrapporte, Einvernahmeprotokolle aller Beteiligten zu verschiedenen Zeitpunkten und medizinische Untersuchungsberichte. Zudem haben wir ungeschnittene Videoaufnahmen aus dem Wohnzimmer des Anwalts einsehen können, die lückenlos die Gewalttat und einen Zeitraum von über zwei Stunden vor der ersten Gewalthandlung zeigen

Daraus folgert die AZ:

«Das Gesamtbild, das durch die verschiedenen Beweismittel entsteht, lässt die brutale Prügelorgie in einem anderen Licht erscheinen: nicht als Resultat eines kühl geplanten Hinterhalts – sondern als albtraumhaften Höhepunkt eines Rauschabends, der plötzlich völlig ausser Kontrolle geriet.»

Es lohnt sich, die minutiöse Aufarbeitung in der kleinen AZ nachzulesen, für die alle grossen Medienkonzerne zu faul waren. Das macht das Vorgehen, das auf den Videos festgehalten ist, keinen Deut besser und will es auch in keiner Art und Weise entschuldigen, nebenbei.

Es lohnt sich auch, den «Rundschau»-Bericht anzuschauen, der der Auslöser für diese Affäre ist. Hier muss man dem Strafverteidiger Konrad Jeker zustimmen, der das Vorgehen der Schaffhauser Polizei scharf kritisiert und bezüglich der Sicherstellung von Beweismaterial eine «mehrfache Befehlsverweigerung» moniert, zudem sei das ganze Verhalten «unprofessionell» gewesen. Was man allerdings auch über die tendenziöse Darstellung der «Rundschau» sagen muss.

Bei den dokumentierten Handlungen handelt es sich einwandfrei um Straftaten. Dennoch ist es bei Straftaten – nicht zuletzt für die Strafzumessung – erheblich, den gesamten Ablauf zu rekonstruieren: Das ist selten so problemlos möglich gewesen wie hier, wo das meiste auf Video festgehalten ist.

Wieso die Schaffhauser Staatsanwaltschaft die Strafuntersuchung wegen der laut Aussagen des Opfers die ganzen Vorfälle auslösenden ersten Vergewaltigung einstellte, wogegen das Opfer Widerspruch einlegte, wird nicht erklärt. Der mutmassliche Vergewaltiger behauptet, es sei einvernehmlicher Sex gewesen.

Die ganze Affäre ist Abscheu erregend, ohne Zweifel. Dass aber eine kleine lokale Zeitung die Arbeit macht, die weder die «Rundschau», noch die grossen Medienkonzerne machten, ist einerseits befremdlich, andererseits bezeichnend für den aktuellen Zustand der Schweizer Medien.

Nicht alle Leser der AZ haben diese handwerklich einwandfreie Arbeit der Redaktion goutiert; sie stellt dem Artikel eine Einleitung voraus: «Dieser Bericht zu den brutalen Gewalttaten in der Schaffhauser Anwaltswohnung hat sehr viel Unverständnis, Wut und Kritik ausgelöst. Wir hören diese Kritik und werden sie als Redaktion intensiv diskutieren, unser Vorgehen bei der Berichterstattung analysieren und nächste Woche in der AZ die Schlüsse, die wir daraus ziehen, mit Ihnen teilen.»

Dann fühlt man sich bemüssigt, eine Selbstverständlichkeit zu unterstreichen: «Vorab möchten wir betonen, dass wir – die Redaktion und all ihre Mitglieder – Gewalt und Unterdrückung verurteilen und keine Rechtfertigung für sie tolerieren.»

Im aktuell aufgeheizten Klima sind offenbar einige Leser nicht in der Lage, eine Aufarbeitung der Ereignisse zu lesen, ohne der Redaktion zu unterstellen, sie nehme Partei gegen das Opfer und für die Täter. Was absurd ist. Wenn das die Reaktion auf solides Handwerk ist, dann feiert Blasen- und Gesinnungsjournalismus Urständ, gute Nacht Recherchierjournalismus.

Werdstrasse: Fatale Fanale

Jetzt darf auch schon die vierte Garnitur ran. David Sarasin gibt den Demonstranten Saures.

Die wichtigste Eigenschaft eines Journalisten? Von nichts eine Ahnung, zu allem eine Meinung haben. Hier haben wir ein weiteres, idealtypisches Beispiel. David Sarasin ist Redaktor bei «Zürich Stadtleben» im «Tages-Anzeiger».

Also bestens qualifiziert, um vor «Fatalen Signalen aus Rapperswil» zu warnen. Ja was haben die St. Galler da schon wieder angestellt? Schlimmes. Es fand eine Demonstration statt. Früher mal eines der Grundrechte von Bürgern in einer Demokratie. Aber es war eine Manifestation von über 4000 «Massnahmen-Kritikern».

Nein, es war ein «Exzess der Demonstrierenden mitten in der Pandemie», fasst sich der Nixverstan an den Kopf. Oh, fand eine Orgie im sonst doch eher sittlich gefestigten Rapperswil statt? Allerdings, aber es kommt noch schlimmer.

Denn die Demonstration «war gesetzeswidrig». Verboten. Zudem fast maskenfrei. Also hätte die Polizei doch einschreiten sollen. Aber was tat sich stattdessen? Es ist geradezu peinlich, das berichten zu müssen. Sie liess sich abknutschen:

«Exemplarisch das Bild eines am Rande stehenden Polizisten, der von einer Massnahmengegnerin umarmt und mit einer Rose beschenkt wird. Er lächelt und rückt seine Maske zurecht, die wegen der spontanen Liebesbekundung verrutscht.»

Symbiose von Demonstranten und Polizei?

Ja was sind das denn für Zustände, erregt sich Sarasin zu Recht. Keine Knüppel, kein Tränengas, keine Gummigeschosse, nicht einmal Wasserwerfer. Das macht Sarasin natürlich misstrauisch:  «Wie kommt diese, ja, Symbiose von Massnahmenkritikern und Polizei zustande?» Man kann ihm vielleicht zugute halten, dass er nicht so genau weiss, was eine Symbiose ist, Fremdwörter sind immer so eine Sache.

Die St. Galler Polizei behaupte, man habe zwischen dem Schaden einer Auflösung und dem Schaden der Demonstration abwägen müssen. Aber abwägen, das ist Sarasins Sache nicht.

Schreibtischtäter Sarasin

Er ist eindeutig für dreinschlagen, niederknüppeln, auseinandertreiben, denn:

«Das Signal, das St. Gallen damit in die Schweiz sendet, ist aus drei Gründen verheerend.»

Hui.

Wenn sich viele Menschen ohne Maske versammelten, dann würde das toleriert. Dann habe die Polizei «virologische Argumente zu wenig gewichtet». Sagt Virologe Sarasin. Aber er kann noch besser: für alle, «die in Spitälern arbeiten oder behandelt werden», nun kommt der Journalisten-Modalverb-Trick, «dürfte ein solcher Menschenauflauf wie Hohn klingen».

Ein Menschenauflauf klingt wie Hohn? Nun, wer ungeordnete Gedanken rausbläst, hat natürlich auch mit der Sprache seine liebe Mühe. Was hätte denn die Polizei einem hohnklingenden Menschenauflauf entgegensetzen sollen?

«Eine Durchsetzung des Verbots hätte ein wichtiges Signal ausgesendet.»

Statt eines fatalen Signals. Und welches genau? «Ein Signal der Solidarität mit all jenen, die hart mit der Pandemie zu kämpfen haben.» Behauptet der harte Kämpfer Sarasin.

Ein weiterer Dummschwätzer. Kann er irgendwie belegen, dass von solchen Demonstrationen «fatale Signale» ausgingen? Liestal, Schaffhausen, Altdorf. Haben wir seither gehört, dass im Anschluss dort die Intensivstationen der Spitäler unter dem Andrang Erkrankter zusammenbrachen? Weil eben «virologische Argumente» fehlten? Weil auch diese Demonstrationen laut Sarasin hätten zusammengeknüppelt werden sollen?

Vielleicht sollte Sarasin mal etwas in Schulung bei Bruno Hug gehen, dem Betreiber von «linth24.ch» – in Rapperswil. Wie es der unglückliche Zufall so will, erschien gleichzeitig ein Interview mit ihm auf persoenlich.com. Das war werthaltig, deshalb gratis zu lesen. Während das Geschwätz von Sarasin nur gegen Bezahlung erhältlich wäre.

Hug zeigt, was sinnvolle Antworten eines Berichterstatters sind. Demo nicht erlaubt?

«Es ist nicht meine Aufgabe, über Recht oder Unrecht einer Demo zu urteilen.

Offenbar hat die Polizei nicht eingegriffen, um keine Eskalation heranzuführen. Ich fand diese Strategie klug.» Kaum Masken? «Ich bin weder das BAG, noch vertrete ich den Staat. Was ich jedoch sehe, ist, dass seit schönes Wetter ist und die Terrassen offen sind, die Masken quer durchs Land im Rückzug sind und die Leute überall frei herumsitzen.»

Was meinen die Rapperswiler? Das weiss ich nicht, weil ich nicht vor Ort war.

So war das mal im Journalismus. Als der noch Journalismus war, und kein Meinungsgekeife von unqualifizierten, mit Vorurteilen belasteten Journalisten, die null Bedürfnis haben, die Wirklichkeit abzubilden. Sondern nur, den armen Lesern ihre Meinung aufs Auge zu drücken. Kein Wunder, dass das immer mehr Leser nicht mögen.

Ein sicherlich vergeblicher Ratschlag an Sarasin: Wenigstens andeuten, dass man eine Ahnung hat, worüber man schreibt, das hilft ungemein. Wenn man über eine grössere Demonstration schreibt, würde eine kurze Erwähnung, wofür und wogegen die Teilnehmer auf die Strasse gehen, unglaublich die Autorität des Schreibers stärken.

Schlimme Meinungen aus dem Hause Tamedia.

 

 

Schwierige Recherchen um Verkehrstote

Nach tödlichen Unfällen nimmt die Auskunftsfreudigkeit beim Staat schnell ab.

Raserunfälle, umgefahrene Fussgänger, tote Velofahrer. Die Newsticker sind leider voll davon. Je nach Nachrichtenlage schaffen es Verkehrstote nach wie vor auf die letzte Seite des «Tages-Anzeigers» oder in die Nachrichten, etwa von «Tele Züri» oder Tele M1». Zwei Unfälle mit Todesfolge machten in letzter Zeit besonders Schlagzeilen.

«Noch am Unfallort verstorben»

Im Juni «kam es auf der Badenerstrasse in Zürich-Altstetten zu einer Kollision zwischen einem Lastwagen und einer Velofahrerin. Dabei wurde die Velofahrerin so schwer verletzt, dass sie noch am Unfallort verstarb». Noch Monate danach erinnerten viele Blumen und ein weiss angemaltes Velo an den Unfall. In den sozialen Medien war das Thema besonders präsent.

«Töfffahrer kollidierte mit Rennteilnehmer»

Im August «kam es zu einem tödlichen Unfall auf dem Oberalppass im Rahmen des sogenannten «Tortour-Rennens». Ein Töfffahrer kollidierte mit einem Rennteilnehmer. Er kam bei dem Unfall ums Leben.» Weil der verunfallte 38-jährige Velofahrer amtierender Schweizer Meister im Ultra-Cycling war, gab’s rund um den Unfall grosse Schlagzeilen.

Zwei Unfälle, zwei Schicksale. Doch was passierte nachher? Dass solche Unfälle von öffentlichem Interesse sind, beweisen die vielen Meldungen. Ebenso interessiert dann eigentlich, wie es weitergeht. Ist der Lastwagenfahrer an der Badenerstrasse zu schnell abgebogen? Wollte sich die Velofahrerin noch rasch vorbeizwängen? Fuhr der Rennvelofahrer auf der falschen Strassenseite? War der Töfffahrer ein «rücksichtsloser Raser», wie es online mehrheitlich hiess?

«Gegenstand von Untersuchungen»

Nachfragen bei den Polizeistellen ergeben wenig. Nur schon bei der Frage, wer den Unfall verursacht hat, bleiben die Medienstellen merkwürdig zurückhaltend. «Das ist Gegenstand der nun folgenden Untersuchung», heisst es jeweils. Es ist wohl eine Schutzbehauptung, um ja keine voreiligen Aussagen zu machen, die juristisch von Belang werden könnten. Weil die Untersuchungen die Staatsanwaltschaften durchführen, verweisen die Polizeistellen an jene Behörde. Dort ist es oft nur schon schwierig, eine Auskunftsperson zu finden.

«Wegen des laufenden Verfahrens können wir keine Informationen bekannt geben»

Beim Abbiege-Unfall in Zürich-Altstetten gab’s auf Anfrage vor einigen Tagen diese Antwort der Staatsanwaltschaft: «Im Nachgang zu diesem Unfall hat die Zürcher Staatsanwaltschaft ein Verfahren eröffnet. In diesem werden die genauen Umstände des Unfalls sowie die Frage eines allfälligen strafbaren Verhaltens des LKW-Fahrers geklärt. Wie immer gilt die Unschuldsvermutung. Wegen des laufenden Verfahrens können wir keine weiteren Informationen bekanntgeben. Zur Frage eines allfälligen Entzugs des Führerausweises können wir mangels Zuständigkeit keine Auskunft geben. Hierfür wäre das Strassenverkehrsamt zuständig.»

Auch Strassenverkehrsamt bleibt zugeknöpft

Dieses wiederum schreibt: «Aufgrund von Artikel 89g des Strassenverkehrsgesetzes dürfen wir keine Auskünfte zu Administrativmassnahmen erteilen. Besten Dank für ihr Verständnis.»

Beim Tortour-Unfall hatte «20 Minuten» im Oktober nachgefragt bei der Staatsanwaltschaft Graubünden. Die «Südostschweiz» berichtete ebenfalls darüber. «Die Staatsanwaltschaft Graubünden hat inzwischen ein Verfahren gegen den Töfffahrer eröffnet.  Ihm wird fahrlässige Tötung vorgeworfen. ‹Wir sind noch am Anfang des Verfahrens›, so ein Sprecher. Man warte noch auf den Polizeirapport, heisst es weiter. Erst am Schluss der Untersuchung könne entschieden werden, ob gegen die beschuldigte Person ein Strafbefehl erlassen werde oder nicht».

Staatsanwaltschaft Graubünden wartet auf Polizeirapport

Zwei Monate nach dem Unfall wartet die Staatsanwaltschaft also noch auf den Polizeirapport. Amtliche Mühlen mahlen langsam.

So ein Verfahren kann gut und gerne ein bis drei Jahre dauern. Das kann auch für die Beteiligten (Unfallverursacher, Verwandte und Hinterbliebene) sehr belastend sein.

Was bleibt für den Journalisten? Die angesetzten Gerichtstermine im Auge behalten. Immer wieder nachfragen bei den Staatsanwaltschaften. Beziehungen zu Angeklagten oder Hinterbliebenen spielen lassen. Oder ein schriftliches Gesuch um Akteneinsicht stellen. Grund: das öffentliche Interesse.

So oder so. Das ist kompliziert und braucht Geduld. Fazit: Warum gibt es so wenig Medienberichte rund um den Nachgang schwerer Unfälle? Weil es so kompliziert ist.