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«Für den Inhaftierten gilt die Unschuldsvermutung»

Neues aus der Medienkloake.

Natürlich ist ein Verdacht auf sexuelle Handlungen mit Minderjährigen eine schlimme Sache. Sollte er sich bewahrheiten, kann der Verdächtigte nicht nur mit einer Gefängnisstrafe rechnen. Seine bürgerliche Existenz ist vernichtet, sein Ruf unwiederbringlich beschädigt.

Er verliert Stelle, Ansehen, Karriere, Zukunftsaussichten. Freunde wenden sich von ihm ab, vielleicht auch seine eigene Familie, sein persönliches Umfeld. Er ist stigmatisiert, lebenslänglich. Denn es gibt wohl kaum ein Verbrechen, das in unserer Gesellschaft so Abscheu auslöst wie der sexuelle Missbrauch von Kindern. Nun ja, wenn es katholische Kirchenmänner sind, dann darf die Kirche selber nach dem Rechten schauen. Indem sie so kräftig wie möglich wegschaut Aber das wäre ein anderes Thema.

«Die Oberstaatsanwaltschaft bestätigt am Sonntagabend laut Tele M1, dass gegen X.Y. deswegen ein Strafverfahren läuft.»

Es ist natürlich fast ein Witz, dass hier der Name des Beschuldigten nicht genannt wird. Nicht nur im «Blick» wird weiter kolportiert: «Dem Wirtschaftsinformatiker, der bei der Swisscom arbeitet und rund zwei Jahre für die SVP im Grossen Rat sass, drohen bis zu fünf Jahre Gefängnis, sollten sich die Tatvorwürfe erhärten.»

Damit sich der Volkszorn auch am richtigen Ort entladen kann, wird nicht nur Name, Foto, Beruf und Parteizugehörigkeit publiziert, sondern auch noch gleich der Wohnort.

In den meisten Berichten, wird noch hinzugefügt. «Für den inhaftierten Politiker, der Mitglied der Justizkommission war, gilt die Unschuldsvermutung.»

Sollte sich die Vermutung zur Gewissheit steigern – er ist unschuldig –, wäre das Resultat für den Betroffenen haargenau das gleiche wie wenn er rechtskräftig verurteilt worden wäre. Er verliert Stelle, Ansehen, Karriere, Zukunftsaussichten. Freunde wenden sich von ihm ab, vielleicht auch seine eigene Familie, sein persönliches Umfeld. Er ist stigmatisiert, lebenslänglich.

Weder die Oberstaatsanwaltschaft, noch die Medien und noch viel weniger die Konsumenten der Medien wissen, ob an der Beschuldigung was dran ist oder nicht. Sicherlich gibt es einen Anfangsverdacht, sonst würden die Strafverfolgungsbehörden nicht Untersuchungshaft verhängen.

Nun ist es aber eigentlich im Zuge einer zunehmenden Zivilisiertheit der Gesellschaft gelungen, sowohl den Schandpfahl wie auch das Gottesurteil oder die Verurteilung durch Volkes Stimme durch ein geordnetes Strafverfahren zu ersetzen.

Eigentlich.

Ein geordnetes Strafverfahren bedeutet, man kann es nicht oft genug wiederholen, dass der Beschuldigte, auch der Angeklagte, selbst der Verurteilte solange als unschuldig zu gelten hat, bis das Gegenteil rechtsgültig festgestellt wurde. Selbst dann, wie man nicht zuletzt aus dem Land der Todesstrafe weiss, gibt es noch die Möglichkeit des Justizirrtums. Also dass ein zum Tode Verurteilter, leider auch posthum, aufgrund neuer Erkenntnisse sich als unschuldig erweist.

Erschwerend kommt hinzu, dass es Delikte und Straftaten verschiedener Verächtlichkeit gibt. Ein Diebstahl ist nicht das gleiche wie ein Raubüberfall. Auch Gewaltverbrechen haben unterschiedliche Eskalationsstufen. Selbst bei Sexualstraftaten gibt es Unterschiede in der gesellschaftlichen Stigmatisierung des Täters. Sexueller Missbrauch von Kindern steht auf der obersten Stufe aller verachtenswerten Straftaten. Überführte Täter haben es auch in Gefängnissen nicht leicht und müssen oftmals einem besonderen Haftregime unterworfen werden, damit sie nicht der Rache anderer Insassen zum Opfer fallen.

Vermutungen wie «da wird doch sicher etwas dran sein», Volkes Wut («Sauhund, kurzen Prozess machen»), die Chance, dass die Unschuldsvermutung mehr als eine hohle Phrase ist, liegt bei null.

«watson», nau.ch, CH Media, Tamedia, «Blick», «20 Minuten», mit der Ausnahme der NZZ haben alle grossen Medienhäuser mit Namensnennung und auch mit Foto über den Fall berichtet.

Es ist möglich, dass der Beschuldigte die ihm zur Last gelegten Straftaten begangen hat. Nur: zum jetzigen Zeitpunkt wissen wir das nicht. Nur: die Unschuldsvermutung, die schon in so vielen Fällen des Vorwurfs von sexuellem Missbrauch nicht mehr existierte, ist hiermit und endgültig zur hohlen Phrase geworden, zur bitteren Lachnummer. Zur Blase auf dem Mediensumpf, der immer mehr zur Kloake wird.

Mario Stäuble in Erklärungsnot

Der Co-Chefredaktor des «Tages-Anzeigers» ist peinlich.

Seine Fähigkeit zur Qualitätskontrolle ist seit dem Fall Kevin Brühlmann stark zu bezweifeln. Seine Bedeutung als zurückgestufter Mit-Chefredaktor war noch nie beeindruckend.

Nun will Stäuble «In eigener Sache» der Leserschaft erklären, wieso in der Berichterstattung des Tagi zum Blutbad von Wallisellen der Name des Entführungsopfers vom Blatt als Scoop zuerst veröffentlicht wurde, um dann gestrichen zu werden. Der ganze Artikel wurde durch die verkniffene Ankündigung ersetzt:

Anschliessend erschien der Artikel wieder, allerdings abgewandelt:

Während die übrigen Medien, inklusive SDA oder NZZ, ungehemmt den Namen von Christoph Berger, Impfchef der Schweiz, nannten. Das möchte Stäuble nun erklären: «Warum wir den Namen des Entführten nennen». Damit verwirrt der elegante Schreiber allerdings, denn die Leserschaft ist ja wenn schon irritiert, wieso er genannt wurde, dann gestrichen, dann wieder genannt, während die Konkurrenz keine solchen Tänze aufführen musste.

Item, man habe bereits am Donnerstagabend den Namen des Opfers gekannt. Daraufhin trat die «erweiterte Chefredaktion zusammen, um unter Beteiligung unseres Hausanwalts die medienethischen und medienrechtlichen Aspekte des Falls zu diskutieren.» Darauf folgt das übliche Geeier. Abwägung, politische Dimension, sicherheitspolitische Fragen, also «sahen und sehen uns gegenüber unserer Leserschaft dazu verpflichtet».

So nebenbei erwähnt Stäuble, dass der Sprecher von Berger bei Kontaktnahme durch die Redaktion klargestellt hatte, «dass Herr Berger keine Berichterstattung über seine Person wünsche». Nun sollte eine «erweiterte Chefredaktion» nebst juristischer Verstärkung wissen, dass das Opfer eines Gewaltverbrechens das Recht hat, seine Namensnennung zu untersagen.

Also könnte es einen kompetenten Co-Chefredaktor nicht gross erstaunen, dass Berger dann zum Mittel der Superprovisorischen griff, als sich der Tagi nicht an diese Forderung hielt. Da Berger offenbar zu diesem Zeitpunkt nur vom Tagi kontaktiert worden war, ereilte auch nur den der Blitz des Verbots der Namensnennung. Nachdem sich dann, angesichts der übrigen Medien, Berger zu einer kurzen öffentlichen Stellungnahme veranlasst sah, fiel dann das superprovisorische Verbot.

Was also Stäuble eigentlich dem Leser erklären sollte: wir haben’s versemmelt. Wir haben den Namen rausgegrübelt, den Betroffenen damit konfrontiert. Soweit noch gut. Wenn der aber sagt, dass er seinen Namen nicht in den Medien lesen will, gibt es nur zwei Möglichkeiten. Ihn vom Gegenteil überzeugen – oder das akzeptieren. Für Überzeugungsarbeit bräuchte es aber eine gewisse Eloquenz oder auch psychologische Fähigkeiten, was Stäuble offenbar abgeht. Also verstand man sich zur Fehlentscheidung: Opfer will nicht, Namen nennen wir trotzdem.

Was lernt der Leser daraus? Das Blatt wird von kompetenten journalistischen Hirschen gebastelt …

 

 

Medienopfer

Verwirrspiel um einen Entführten.

So kann’s gehen, wenn Opferschutz und eine superprovisorische Massnahme zusammenspielen. Leidtragender ist hier das Medium, das die News zuerst hatte. So titelte Tamedia bei der Recherche über die Hintergründe zur Bluttat in Wallisellen:

Aber die exklusive Recherche blieb nicht lange im Netz:

Das bedeutet, dass hier der Blitz einer superprovisorischen Verfügung eingeschlagen hat. Denn es ist dem Opfer eines Gewaltverbrechens freigestellt, die Publikation seines Namens zu untersagen. Im Falle einer superprovisorischen Anordnung kann dieses Recht ohne Anhörung der Gegenseite durchgesetzt werden. Ob nun Tamedia übergeordnetes öffentliches Interesse angesichts der Position des kurzzeitig Entführten geltend machen kann oder nicht: das wird erst in einem zweiten Schritt, dem ordentlichen Verfahren, entschieden.

Also entschloss sich Tamedia zu Version drei:

Inzwischen hatten aber andere Medien Leute gerochen und das Thema aufgenommen. Die Nachrichtenagentur SDA, auf die die meisten Schweizer Zeitungen abonniert sind, trompetete:

 

Und auch die vornehme NZZ nannte den Namen:

Dazu kamen dann noch weitere Medien. Wie ist es möglich, dass die meisten anderen Newsquellen den Namen nennen, Tamedia das aber nicht tun kann? Etwas unverständlich, aber einfach: Die anderen Blätter hat offensichtlich keine superprovisorische Verfügung ereilt.

Es gleicht sowieso etwas dem Versuch, die Zahnpasta wieder in die Tube zu quetschen. Denn der Name ist raus, und Tamedia ging sicher nicht zu Unrecht davon aus, dass angesichts der prominenten Person des Entführungsopfers die Nennung seines Namens erlaubt sein sollte. Da die Rechtsabteilung von Tamedia vielleicht nicht über jeden Zweifel erhaben, aber doch kompetent ist, wusste man natürlich um die Gefahr einer Superprovisorischen.

Also spielte man «no risk, no fun». Und geriet damit in die leicht absurde Position, dass Tamedia zwar den Scoop ausgegraben hatte, ihn aber recht schnell nicht mehr anpreisen durfte. Während das die Konkurrenz ungeniert tut.

Die im Volksmund Superprovisorische genannte Massnahme stellt tatsächlich in unserem Rechtssystem eine Ausnahme dar. Denn es ist vernünftiger Brauch, dass der von einer Entscheidung Betroffene immer Gelegenheit haben muss, vor der gerichtlichen Anordnung dazu gehört zu werden. Also seine Argumente vorzutragen, wieso ein richterlicher Entscheid zu seinen Gunsten und nicht gegen ihn gefällt werden sollte.

ZACKBUM hat sich schon mehrfach mit diesem Sonderartikel befasst.

Für die Anordnung einer Superprovisorischen müssen einige Kriterien erfüllt sein:

  • Gegen periodisch erscheinende Medien darf das Gericht eine vorsorgliche Massnahme nur anordnen, wenn:
  • die drohende Rechtsverletzung der gesuchstellenden Partei einen besonders schweren Nachteil verursachen kann;
  • offensichtlich kein Rechtfertigungsgrund vorliegt;
  • und die Massnahme nicht unverhältnismässig erscheint.

Inwieweit die drohende Rechtsverletzung, also hier die Namensnennung des Entführungsopfers, einen besonders schweren Nachteil darstellen soll, ist auf den ersten Blick ebenso unerfindlich wie das Nicht-Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes (hier das öffentliche Interesse, ausgelöst durch die exponierte Position des Opfers).

Es stellt sich wieder einmal die Frage, ob unter dem Stichwort Opferschutz nicht allzu freizügig mit Massnahmen hantiert wird, die letztlich nichts anderes als die Zensur eines Mediums bedeuten.