Anti-Antisemitismus
Wer will gerne in ein Wespennest greifen?
Es gibt Antisemitismus-Kreischen. So wie es Schwinger der Nazikeule gibt. Oder routinierte Werfer von Ausdrücken wie Sexismus, exkludierend, diskriminierend, rassistisch, rechtsnational, linksradikal, populistisch. Und dann gibt es Sensibelchen, die sich so furchtbar schnell ganz unwohl mit irgend etwas fühlen. Wegen solchen Idioten wurden schon Konzerte abgebrochen. Und Träger von Rastalocken als postkolonialistische Aneigner fremden Kulturguts beschimpft. Vom Wort Mohrenkopf ganz zu schweigen.
All diese Kategorisierungen dienen häufig dazu, dass im Geiste einfache Menschen sich an untauglichen Hilfsbegriffen durch die komplizierte Realität hangeln können. Und sie damit zu verstehen meinen, obwohl sie in Wirklichkeit hinter solchen Verstellungen überhaupt nichts kapieren.
Andererseits braucht der Mensch Generalisierungen, er kann nicht ein paar Milliarden Mitmenschen als lauter Individuen begreifen. Also gibt es den Russen, den Deutschen, den Schweizer. Auch den Juden?
Da betreten wir ein Minenfeld, bei dem jeder Schritt zu einer Explosion führen kann, vor allem seit dem Hamas-Massaker und der israelischen Reaktion im Gazastreifen. Das ist noch schön unantastbar formuliert. Aber schon die Kritik, dass Israel im Gazastreifen Kriegsverbrechen begeht, die Tötung von über 30’000 Palästinensern mindestens so eine Schweinerei ist wie der feige Überfall der Hamas, führt in Teufels Küche. Beziehungsweise wird sofort mit dem Slogan «antisemitisch» gebrandmarkt.
Das kann dem besten Juden passieren. An der Berlinale sagte ein israelischer Filmemacher bei der Preisverleihung für seinen Dokumentarfilm über die (völkerrechtswidrige) israelische Siedlungspolitik: «Diese Situation der Apartheid zwischen uns – diese Ungleichheit – muss ein Ende haben.» Da nützte ihm seine Zugehörigkeit zum Judentum nichts mehr, «Antisemitismus» schallte ihm entgegen. Tapfer gab er zurück, dass das ein schrecklicher Missbrauch dieses Begriffs sei.
Der jüdische Regisseur Jonathan Glazer wurde für seinen beklemmenden Film über Auschwitz bei den Oscars ausgezeichnet. Er erklärte, dass sein Film zeigen wolle, wohin Entmenschlichung führe. Er wolle nicht darauf aufmerksam machen, was damals getan wurde, die Botschaft sei «schaut, was wir heute tun». Ihn ereilte, was fast noch schlimmer als der Antisemitismus-Vorwurf ist: er habe den Holocaust damit relativiert, verharmlost.
Schon dem deutschen Schriftsteller Martin Walser schlug eine gewaltige Kritik entgegen, als er bei der Entgegennahme des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von der «Moralkeule Auschwitz» sprach. In welchem Zusammenhang er den Begriff herleitete, was er genau damit meinte, egal. Der Shitstorm war gewaltig.
Aktuell wird von jüdischen Kreisen versucht, jede Kritik an Israel als antisemitisch zu denunzieren. Hier in der Schweiz gibt es einen Spezialisten dafür, der sensibler als ein Seismograph schlichtweg alles, was nicht bei drei auf den Bäumen ist, als antisemitisch beschimpft.
All diese Besitzer eines vermeintlichen Totschlagarguments sind sich nicht bewusst, dass sie damit diese Waffe stumpf machen, missbrauchen, zweckentfremden. Jede Kritik an Israel unter den Generalverdacht des Antisemitismus zu stellen, jeden Kritiker der Kriegsführung im Gazastreifen als Antisemiten zu denunzieren, das erreicht das Gegenteil des Gewünschten.
Ganz abgesehen davon, dass eine israelkritische Position oder gar eine Ablehnung der Politik Israels antisemitisch motiviert sein kann, aber nicht muss. Antisemitismus bedeutet Judenhass oder Judenfeindlichkeit. Die Aussage «im Gazastreifen begeht Israel Kriegsverbrechen und schadet sich und seiner Sache mehr als der Hamas» ist diskussionswürdig, aber sicherlich nicht antisemitisch.
Diese Aussage als antisemitisch zu denunzieren, das hingegen kann man dialektisch als Ausdruck von Antisemitismus bezeichnen, weil es ihm mit dieser dümmlichen Verkürzung Vorschub leistet.
Viele Kommentatoren trauen sich deshalb schon mal gar nicht, dieses Minenfeld zu betreten. Was der Debatte und der Erkenntnis wie jedes Verbot schadet.
Auf der anderen Seite gibt es tatsächlich seit Jahrtausenden tiefverwurzelte Klischees über Juden, der «wandernde ewige Jude», der geldgierige Jude (obwohl sich das die Christen selbst einhandelten, mit dem idiotischen kirchlichen Zinsverbot), die Pogrome, die Ghettos, und schliesslich der industriell betriebene Massenmord der Hitler-Deutschen, bei dem sie – was sie nicht entschuldigt – in vielen Staaten, nicht zuletzt in der Ukraine, willige Helfer fanden.
Wer aber überzeugt ist, dass Israel im Gazastreifen Kriegsverbrechen begeht, damit keineswegs die Hamas-Massaker verniedlichen will, wer den israelischen Ministerpräsidenten als Grossversager sieht, der sich an die Macht klammert, weil er nur so einer Gefängnisstrafe wegen Korruption entgeht, der soll das auch sagen dürfen. Wer davon überzeugt ist, dass Israel mit dieser Politik seine Existenz mehr in Frage stellt als dass das die Hamas jemals könnte, muss diese Position vertreten dürfen.
Wer solche Äusserungen als antisemitisch brandmarkt, betreibt selber das verächtliche Geschäft des Antisemitismus. So vertrackt ist das nun mal.
Und pro-palästinensische Manifestationen, bei denen das Existenzrecht Israels bestritten wird oder gar die Hamas-Massaker bejubelt, das sind nicht in erster Linie antisemitische Ausschreitungen. Das sind schlichtweg dümmliche, menschenverachtende, Abscheu auslösende Verirrungen meist linker Menschen, die völlig den moralischen Kompass verloren haben. Sie finden ihr Gegenpart in Manifestanten, die jedem Palästinenser unterstellen, er sei ein religiös motivierter Wahnsinniger, der am liebsten alle Israelis umbringen möchte.
Mögen nun die Spiele der Kommentatoren beginnen.