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Heuchler Friedman

Ein neuer Tiefpunkt im Qualitätsjournalismus des Hauses Tamedia.

Andreas Tobler und Sandro Benini sind immer schnell zur Hand, wenn es um bissige und scharfe Kritik geht. Aber beim «deutschen Publizisten» Michel Friedman werden sie ganz handzahm und lassen den ungehemmt Flachheiten über die Schweiz, die Welt und vor allem über Moral verbreiten.

So stellen sie ihn vor: «Michel Friedman, zeitweiliger Präsident des Europäischen Jüdischen Kongresses, gilt als ebenso streitbarer wie brillanter Publizist.»

Er war auch mal Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, hatte seine eigen Talkshow und fiel schon immer damit auf, aggressiv und gnadenlos mit seinen Gesprächspartnern umzugehen. Bis er im Skandal versank.

Wird er hier interviewt, dann sind Tobler und Benini watteweich und anschmiegsam, auch wenn Friedman mehrfach unter Beweis stellt, dass er von der Schweiz keine grosse Ahnung, aber eine sehr abschätzige Meinung hat: «… wenn ich noch etwas hinzufügen darf: Ihr Schweizer habt es euch da zu einfach gemacht mit eurem Saisonnier-Statut.» Darauf hingewiesen, dass es das schon lange nicht mehr gibt, fährt Friedman unbeeindruckt fort: «Lange ist relativ. In der Schweiz dürfen nur die Nützlichen kommen, und selbst die nützlichen deutschen Ärzte erfahren rassistischen Gegenwind. Die Schweiz ist mit Sicherheit nicht das Vorbild einer weltoffenen Gesellschaft für Menschen.»

Es wurde 2002 abgeschafft. Deutsche Ärzte erfahren keineswegs «rassistischen Gegenwind», und im Vergleich zu Deutschland ist die Schweiz mit einem doppelt so hohen Ausländeranteil und ohne brennende Asylantenheime allerdings eine weltoffene Gesellschaft.

Dann salbadert Friedman weiter über Schweizer «Doppelzüngigkeit» bezüglich Vermummung von Frauen in der Öffentlichkeit, Darauf hingewiesen, dass es in der Schweiz verboten ist, eine Burka zu tragen, windet er sich: «Ich habe nicht von der klassischen Burka gesprochen. Mir geht es um die Doppelmoral und die Heuchelei. Mir geht es darum, dass man nicht einerseits für die Frauenrechte im Iran oder in Saudiarabien kämpfen kann und andererseits, in unserer modernen Gesellschaft, wenn es ums Geld geht, die Augen zumachen darf.»

Schliesslich greift Friedman zu seinem Allheilmittel, wenn in der Defensive: der polternde Angriff: «Eine kurze Frage an Sie: Sie haben doch auch Menschenhasser, Extremisten, Islamophobe, Antisemiten in der Schweiz, oder? Was machen Sie dagegen

Richtig widerlich wird Friedman aber gleich am Anfang: «Mit der Aufklärung ist neben der Freiheit eine unglaubliche und zugleich wunderbare Idee, die in der Philosophie schon lange im Gespräch war, gedacht worden: die Gleichheit der Menschen. Daraus entwickelten sich Humanismus, Menschenrechte und Demokratie.»

Welch wohlklingende Worte. Welch hohl klingende Worte, wenn sie aus dem Mund von jemandem purzeln, der ein verurteilter Straftäter ist. Ein Kokser mit einem unseligen Hang zu osteuropäischen Zwangsprostituierten.

2003 musste Friedman deswegen von all seinen öffentlichen Ämter zurücktreten, seine damalige Partnerin trennte sich angewidert von ihm.

Nun könnte man darüber den Schleier der Verjährung senken, wenn Friedman nicht – nach längerer Schweigepause – wieder genauso unerträglich moralisiert und rechhabert wir vor diesem Skandal. Da er das tut, hätten ihn die beiden Cracks vom Qualitätsorgan «SonntagsZeitung» unbedingt fragen müssen, woher er eigentlich die Chuzpe nimmt, die Dreistigkeit, dermassen ungeniert Betragensnoten zu verteilen und sich selbst als Bauchnabel der moralischen Superiorität aufzuspielen.

In diesem Interview verbindet Friedman Wissenslücken mit unqualifizierten Angriffen, redet von einem längst nicht mehr existierenden Saisonnier-Status, behauptet rassistischen Gegenwind und spricht der Schweiz ab, eine weltoffene Gesellschaft zu sein.

Aber den Höhepunkt erreicht er, wenn er über «Doppelmoral und Heuchelei» herzieht. Ausgerechnet er, dessen Doppelmoral und Heuchelei gerichtsnotorisch ist.

Aber statt ihm jede Berechtigung zu solch unqualifizierten Moralurteilen abzusprechen, haben die beiden Tagi-Journalisten den Weichzeichner eingeschaltet und weisen lediglich sanft auf grobe Falschbehauptungen hin. Lassen gleichzeitig Friedman eine Aufführung hinlegen, bei der Tartuffe vor Neid erbleichte.

Anlass für das Gesülze ist eine Buchtournee, bei der Friedman auch am Schauspielhaus Zürich auftritt. Moderiert wird er dabei von Roger de Weck. Wetten, dass auch dieser Qualitätsjournalist die grossen dunklen Flecken auf der Weste des Autors geflissentlich übersehen wird und stattdessen mit ihm über «Fremdheit, Gemeinschaft und Ausgrenzung» palavert.

Mit einem Menschen, der schlichtweg jedes Recht auf Moralurteile verwirkt hat.

 

Alles eine Frage der Moral

Wohin Sittenverluderung führen kann.

Von Israel lernen, heisst Doppelmoral und Heuchelei lernen. Nicht irgendwer, sondern Israels Finanzminister Bezalel Smotrich sagte in einer Rede, es sei «gerecht und moralisch», die zwei Millionen Bewohner des Gazastreifens auszuhungern, bis die israelischen Geiseln zurückgekehrt sein. Aber, fügte er bedauernd hinzu, «die Welt würde das nicht zulassen».

Das vollständige Zitat:

«In der heutigen globalen Realität ist es unmöglich, Krieg zu führen – niemand auf der Welt würde zulassen, dass wir zwei Millionen Bürger verhungern und verdursten lassen, auch wenn es gerecht und moralisch wäre, bis sie unsere Geiseln zurückgeben.»

Laut unabhängigen Beobachtern behindert Israel schon lange Nahrungsmittellieferungen in den Gazastreifen, die Regierung bestreitet das.

Wie moralisch verkommen muss ein Mensch sein, der so etwas sagt? Wie verludert müssen die Sitten in einer Regierung sein, dass ein Minister so etwas sagen darf?

Schnell kommen nun die Relativierer und Whatboutism-Künstler aus ihren Löchern und weisen auf das Massaker vom 7. Oktober hin. Auf das erklärte Ziel des Iran, der Hamas und der Hezbollah, sowie weiterer arabischer Staaten, Israel von der Landkarte zu tilgen. Auf die unzähligen Selbstmordattentate und Terrorakte, die diese fundamentalistischen Wahnsinnigen zu verantworten haben. Auf deren völlig fehlende Bereitschaft, zu einer Verhandlungslösung zu kommen.

Das ist alles richtig.

Aber: Moral ist nichts Relatives. Sondern absolut. Das ist ihr konstituierendes Merkmal, von Immanuel Kant unnachahmlich und gültig hergeleitet. Bei Moral gibt es kein «ja, aber». Kein «im Prinzip schon, aber in diesem Ausnahmefall nicht». Und erst recht kein «die auch, also dürfen wir ebenfalls».

Wer mit der moralischen Überlegenheit des Guten den Kampf gegen das Böse führen will, muss das legitimieren können.

Also muss er sich an das halten, was Kant bislang unübertroffen definiert hat:

«Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.»

Nun kommen die Relativierer aus den Löchern und sagen: Wenn man sich menschenverachtenden, keinerlei moralische Prinzipien befolgenden fundamentalistischen Wahnsinnigen gegenüber so verhält, dann kann man auch gleich Selbstmord begehen.

Das ist völlig falsch. Ein Mensch (oder ein Gemeinwesen), das sich nicht an diesen kategorischen Imperativ hält, ist innerlich verfault, morsch, wird früher oder später untergehen. So war es schon immer in der Geschichte.

Schon kommen die persönlich Betroffenen aus den Löchern und sagen: wenn dein Allerliebstes Opfer einer brutalen und grausamen Gewalttat geworden wäre, dann würdest du auch nicht für Milde für den Täter, verstehen, rechtliche Prinzipien und Resozialisierung plädieren.

Aber genau aus diesem Grund wurde die Blutrache, das Faustrecht und die Lynchjustiz abgeschafft. Weil der einzelne Betroffene verständlicherweise oftmals nicht in der Lage ist, sich an moralische Prinzipien zu halten. Genau dafür gibt es all das, was Amokläufer wie Markus Somm ablehnen: Regelwerke, Kontrollinstanzen, Recht. Statt ruchlose Barbarei.

Das hat sogar die Bibel ziemlich gültig formuliert, obwohl sie nur für Gläubige Letztbegründungen liefert:

«Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele

Wer sich nicht daran hält, ist keinen Deut besser – zumindest nicht moralisch überlegen – als ein Hamas-Wahnsinniger. Beginnt Relativierung, dann kommt es nur noch auf den Blickwinkel an. Die Iraner, die Hamas, die Hetzbolla halten ihr Vorgehen für gerechtfertigt, moralisch vertretbar, gesegnet durch den Islam.

Früher hielten auch Christen während den Kreuzzügen ihre Blutsäuferei und ihr hemmungsloses Abschlachten und Waten im Blut bei der Eroberung des heiligen Jerusalem für moralisch völlig einwandfrei, weil mit dem Segen der Kirche versehen. «Deus lo vult» ist die christliche Version von «im Namen Allahs». Mit beiden amoralischen Sätzen entäussert sich der Einzelne seiner moralischen Verantwortung und verlagert sie nach oben.

Auf einigen wenigen Inseln der Vernunft und der Moral sind wir aus solchen barbarischen Vorstellungen und Rechtfertigungen herausgewachsen.

Jede Konfrontation mit brutalen Barbaren ist eine neue Herausforderung. Hier zeigt sich, welche amoralischen Charakterlumpen bereit sind, die Prinzipien unserer Zivilisation, die einzige gültige Begründung für unsere moralische Überlegenheit und unser Recht, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden, über Bord zu werfen.

Diese Amokläufer unterscheiden sich im Kern in nichts von islamistischen oder fundamentalistischen Wahnsinnigen. Sie sind genauso verächtlich und müssen immer wieder scharf kritisiert werden. Eigentlich sind sie noch schlimmer. Denn im Gegensatz zu Fundamentalisten hatten sie die Möglichkeit, sich mit den Grundzügen und den Gesetzen einer höheren Moral vertraut zu machen. Aber sie sind offensichtlich nicht charakterlich gefestigt genug, um sich daran zu halten.

Für unsere Zivilisation, die wir verteidigen müssen, sind sie mindestens so gefährlich wie die Taliban. Sie sind geistige Selbstmordattentäter. Bereit heute das, morgen dies zu verteidigen und anzupreisen. Sie frohlocken «vom Sozialismus lernen, heisst siegen lernen». Sie behaupten «von der Sowjetunion lernen, heisst siegen lernen.» Dann grölen sie: «Von Israel lernen, heisst siegen lernen.» Morgen schon jubeln sie: «Von China lernen, heisst siegen lernen.» Das kommt eben davon, wenn man ungefestigt ist, seinen moralischen Kompass verloren hat, heute verrät, was man gestern noch als moralisch gut angehimmelt hat.

Es gibt nichts Verächtlicheres.

Alle noch da?

Die ZACKBUM-Pause hat dem Journalismus nicht gut getan.

Leider waren wieder viele Journalisten (und Journalistinnen und everybody beyond) unkontrolliert unterwegs und vergriffen sich an ziemlich allem. An Logik, Sprachvermögen, Anstand, Moral, Kenntnissen und Schlussfolgerungen.

Der Welt wurden unablässig Ratschläge erteilt. Dass sich weder die Welt noch ihre Bewohner darum scheren, das übersehen die Journalisten geflissentlich, denn es würde ihnen ihre zunehmende Bedeutungslosigkeit  schmerzlich vor Augen führen.

Also bestreitet ZACKBUM diese erste Woche seiner Wiedergeburt (um es mit Roger Köppel zu sagen) mit einer Art Nachlese.

In der festen Überzeugung, dass die zerzausten Artikel schon längst den Aktualitätswert von Altpapier erreicht haben. Die Medienkritik an ihnen allerdings nicht. Die kritisierten Redakteure hätten sich schon längst einen neuen Beruf suchen sollen. Tun sie aber nicht.

Aber die nächste Sparrunde kommt bestimmt. Also bleibt Hoffnung.

Bei ZACKBUM wird nicht gespart. Zum Start ein bunter Strauss von fünf eigenen Werken plus ein Gastbeitrag über den unglaublichen Zürcher Unispital-Skandal.

Recht und Moral

Wenn Moral Recht fordert, gebiert sie Unrecht. Der Sonntag am Montag.

Strafrechtsprofessor Marcel Niggli sagt einen Gedanken für die Geschichtsbücher:

«Wir wissen bei Gesetzen genau, woran wir sind. Das Recht unterscheidet – anders als die Moral – klar zwischen weiss und schwarz: Das ist erlaubt, das ist nicht erlaubt. Es gibt keine Grauzonen.»

Eigentlich ist es unglaublich, dass nach rund 2000 Jahren des Versuchs der Verfestigung von Rechtsstaatlichkeit dessen Fundamente so nonchalant von so vielen über Bord geworfen werden. Dazu gehört eine ganze Latte von Journalisten, die gewissenlos, aber moralgedopt sich über fundamentale Prinzipien des Rechtsstaats hinwegsetzen wollen.

Dazu gehören Politiker, die als Opportunisten, als Windfähnchen oder gar aus Überzeugung fordern, dass sanktionierte Gelder von reichen Russen an die Ukraine ausgehändigt werden sollten. Dazu gehört sogar ein völlig verpeilter Strafrechtsprofessor, der unter gewaltsamem Umbiegen von eigentlich klaren Gesetzesartikeln behauptet, es gäbe sogar rechtliche Grundlagen für einen solchen Diebstahl und für eine solche Fehlverwendung vieler Millionen.

Alleine schon, dass Mark Pieth so etwas sagen kann (was natürlich sein Recht im Rahmen der Meinungsfreiheit ist), ohne dass ihm Titel und Würden abgesprochen werden, ist ein Skandal. Das ist so, wie wenn ein Herzchirurg sagen würde, dass er es für möglich hält, ein krankes Herz durch Gesundbeten zu heilen.

Hingegen muss jeder Staatsbürger die Ansicht von Niggli teilen: der Wunsch nach Einzug russischer Vermögen mittels Gesetzesänderung «würde die Abschaffung der Gesetze bedeuten. Wenn die Schweiz den Rechtsanspruch auf Eigentum aufhebt, würde ich auswandern.»

Schon das (existierende) Sanktionsgesetz ist ein rechtlicher Grenzfall. Es hebt nämlich ein paar fundamentale Prinzipien auf. Zum Beispiel die sonst zwingende Vorschrift, dass niemand seine Unschuld beweisen muss. Wenn aber Eigentum sanktionierter Personen beschlagnahmt wird, geschieht das ohne einen individuellen Schuldnachweis, sondern nur aufgrund der Zugehörigkeit zu einer unscharf definierten Gruppe.

Es muss leider gesagt sein: das letzte Mal wurde in dunklen Zeiten mit Juden so umgesprungen. Wobei wir alle uns einig sind, dass es sich damals um einen Unrechtsstaat handelte und um ein Verbrechen.

Genau gleich verhält es sich mit der Forderung nach Schweizer Waffenlieferungen an die Ukraine. Dass geistige Tiefflieger wie Sanija Ameti die sofortige Lieferung von Schweizer Panzern für die Verlängerung des Krieges dort fordern, ist nicht weiter bedenklich; sie weiss es nicht besser.

Dass diese Forderung aber auch von ansonsten ernst zu nehmenden Politikern bis ins bürgerliche Lager hinein erhoben wird, zeigt ebenfalls ein bedenkliches Verhältnis zum Schweizer Rechtsstaat, dessen Gesetze das eindeutig, glasklar und nicht wegschwurbelbar verbieten.

Das vor allem von Publizisten angemerkt wird, dass doch das Ausland den Kopf über die Schweiz schüttle und deren «Abseitsstehen» verurteile, ist an Dummheit und Arroganz nicht zu überbieten. Das Ausland schüttelt den Kopf darüber, dass sich die Schweiz an ihre Gesetze hält? Deutschland schüttelt den Kopf, das sich selbst nicht an seine Kriegsmaterialexportgesetze hält?

In welcher Welt leben wir eigentlich? Selbst Franz Josef Strauss, sonst nicht gerade bekannt als unerbittlich gesetzestreuer Bürger, zitierte immer gerne den Satz: pacta sunt servanda. Vereinbarungen sind einzuhalten. Gilt diese Richtschnur unseres Handelns nicht mehr, fallen wir zurück in Barbarei, Faustrecht und Willkür.

Gerade Russland ist ein abschreckendes Beispiel dafür. Abgesehen davon, dass auch innerhalb der Landesgrenzen kein Rechtsstaat herrscht: der Überfall auf die Ukraine war nur möglich, weil sich Russland nicht an eigene Vereinbarungen gehalten hat, nämlich die verbindliche Zusicherung der Respektierung der territorialen Integrität der Ukraine. Abgesehen vom Bruch des Völkerrechts.

Aus solchen Rechtsbrüchen erwächst immer Unheil, Ungutes, Chaos, Leid, Zerstörung, Krieg.

Natürlich werden solche Verbrechen begründet. Russland sagt ja nicht: jawohl, wir sind wortbrüchig geworden und entgegen allen Gesetzen in der Ukraine eingefallen. Russland bemäntelt dieses Verbrechen mit vielen Begründungen. Inklusive dem moralischen Recht, sich gegen ein angeblich faschistisches Regime mit Expansionsgelüsten wehren zu müssen.

Die Parallelen sind noch deutlicher. Die NZZ berichtet: «Wjatscheslaw Wolodin, Sprecher der Staatsduma, schlägt vor, das Eigentum von «Schurken» zu beschlagnahmen, die ins Ausland gegangen sind und den Krieg kritisieren.»

Fällt den moralinübersäuerten Schweizer Brandstiftern nicht auf, dass sie genau das Gleiche tun? Sie behaupten, aus angeblich übergeordneten moralischen Gründen gebe es sozusagen einen übergesetzlichen Notstand. Der Laie holzt sich einfach eine Begründung zu recht; «wer nicht die Ukraine unterstützt, unterstützt Putin», behauptet ein abgehalfterter Dummschwätzer.

Krude, krumme und fatale Gedanken wälzt auch der Parteichef der «Mitte». Nachdem Gerhard Pfister lange geschwiegen hat, ist er sich inzwischen sicher, woher der Wind weht und rhabarbert vor sich hin:

«Die Schweiz kennt die bewaffnete Neutralität. Sie muss sich angemessen verteidigen können. Die Schweiz und ihre Werte werden jetzt in der Ukraine mitverteidigt. Es liegt darum im Landesinteresse der Schweiz, die Verteidigung der Ukraine zu unterstützen. Darum ist das für mich ein Verteidigungsfall.»

Schweizer Werte werden in der Ukraine verteidigt? Also unter anderem Korruption, gekaufte Wahlen, Zensur, Aushebelung parlamentarischer Demokratie, Unterdrückung jeglicher Opposition? Der Letzte, der einen solchen Unsinn verzapfte, war der damalige deutsche Verteidigungsminister Struck: «Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird heute auch am Hindukusch verteidigt.» Nachdem Afghanistan für den Westen verloren ist, müsste nach dieser Logik Deutschlands Sicherheit flöten gegangen sein.

Noch fataler wird es, wenn sogar Rechtsgelehrte sich auf diesen Pfad ins Verderben begeben. Immerhin gab Tamedia Prof. Niggli Gelegenheit (wohl unseren Spuren folgend, denn wir haben ihn zuerst zu diesem Thema befragt), den absurden Behauptungen von Pieth entgegenzutreten.

Aber wir wissen aus Erfahrung, wie eine solche Umbiegung klarer Gesetzes funktioniert. Zunächst steht das Gesetz klar, eindeutig und unbeschädigt da. Dann kommen die ersten Rechtsverdreher und fummeln dran rum. Begleitet von Politikern, die mal dies oder das sagen. Dann wacht die Meute von journalistischen Lemmingen auf, die sich mit Moralin bis unter die Nase aufgepumpt und verantwortungslos fatale Forderungen aufstellen.

Dann kommen besonnene Worte, man müsse vielleicht zuerst das Gesetz ändern, dann ginge schon, was vorher eindeutig verboten war. Und am Schluss steht ein zuvor gut bekleideter Rechtsstaat in Lumpenfetzen gehüllt da. Und keiner dieser Idioten denkt über seine Nasenspitze hinaus, oder hört auf das, was Professor Niggli völlig richtig sagt:

«Heute geht es um ein paar Russen, aber morgen geht es vielleicht um Sie und mich. Denn die Politik sagt damit: Was Ihnen gehört, gehört Ihnen nur, solange es uns passt. Und sonst nehmen wir es Ihnen weg. Das ist eine beunruhigende Perspektive.»

Auch er zieht einen Vergleich, der in diesem Zusammenhang leider auf der Hand liegt:

«Die Enteignungsforderungen gegenüber den Russen bringen eine grosse Skepsis gegenüber dem Recht zum Ausdruck. Das erinnert mich an die Weimarer Republik in den 1930er-Jahren: Man schiebt die Paragrafen nonchalant zur Seite zugunsten von dem, was man für das politisch oder moralisch Richtige hält. Genau so wurde damals in Deutschland die Demokratie zerrieben und letztlich ausgehöhlt.»

Wer sich so an den Fundamenten des Rechtsstaats zu schaffen macht, unterhöhlt tatsächlich nicht einfach ein paar Paragraphen. Sondern die Demokratie, die Gesellschaft, das zivilisierte Zusammenleben.

Hier gibt es nur – wie damals – zwei Möglichkeiten: auswanden oder mit aller Kraft Widerstand leisten.

Taliban in der Schweiz?

Dort Tugendministerium, hier publizistische Moralwächter.

Vor der Machtübernahme der fundamentalistischen Wahnsinnigen in Afghanistan gab es dort ein Frauenministerium. Da Frauen bekanntlich Wesen zweiter Klasse sind, braucht’s das natürlich nicht mehr.

Für alle, die damals auf die verbalen Barrikaden gingen, als Afghanistan gerade in der Erregungswelle oben schwamm: es ist alles so eingetreten, wie es damals befürchtet wurde. Nur: interessiert kein Schwein mehr.

Statt des Frauenministeriums gibt es nun ein Ministerium «zur Verbreitung von Tugend und Verhinderung von Laster». Das gab’s schon bei der ersten Schreckensherrschaft der Taliban in den 90er-Jahren; Auspeitschungen gehörten zu den beliebtesten Methoden, das Laster zu bekämpfen und die Tugend zu befördern.

Inzwischen haben die Taliban sogar die Talkshow entdeckt und lassen auch dort ihre Bärte wehen. Was hat das eigentlich mit der Schweiz zu tun?

Die türkischen Streitkräfte haben in den vergangenen Tagen mit Luftangriffen und mit Bodentruppen Angriffe auf Ziele im Nordirak durchgeführt. Sie gelten Aktivisten der kurdischen Arbeiterpartei PKK.

Das vermeldet «Infosperber», eines der wenigen Organe, das auf dieses Kriegsverbrechen aufmerksam macht. Weiter: Beobachter werfen den türkischen Besatzungskräften in Nordsyrien schwerste Verbrechen vor, darunter willkürliche Enteignungen und die Vertreibung kurdischer Bevölkerungsteile, die illegale Inhaftierung von Oppositionellen und verbreitete Folter.

Was hat das eigentlich mit der Schweiz zu tun?

Viel und nichts. In der Schweiz gibt es kein Tugendministerium. Aber es gibt die Tugendwächter in den Medien. Denen steht zwar nicht die Möglichkeit einer öffentlichen Auspeitschung zur Verfügung, was manche der medialen Taliban bedauern mögen. Aber die verbale Steinigung gehört zu ihrem Repertoire. Wer auch nur im Ansatz sich darum bemüht, die Motive Russlands zu verstehen (was keineswegs heisst, sie zu billigen), ist ein «Putin-Versteher», und das ist keinesfalls als Lob gemeint.

Es hat etwas Beängstigendes, dass der Versuch, etwas zu verstehen, verurteilt wird. Dass es nach dieser absurden Logik viel besser wäre, Putin nicht zu verstehen. Sozusagen die Anti-Aufklärung auf dem Vormarsch. Unwissenheit ist besser als Erkenntnis. Zustände wie in Afghanistan.

Die türkischen Schweinereien haben nichts mit der Schweiz zu tun, weil sie niemand wirklich zur Kenntnis nimmt. Alle Augen sind auf die Ukraine gerichtet, da hat es keine freien Valenzen, sich mit anderen Kriegsverbrechen zu beschäftigen. Das NATO-Mitglied Türkei führt einen Angriffskrieg in einem anderen Land, haust in Syrien wie die Barbaren? Ach was, und was ist gerade in der Ukraine los?

Da passt ins Bild, dass der schmutzige Krieg, den Saudi-Arabien seit Jahren im Jemen führt, unter Verwendung von ausschliesslich westlichen Waffen, notabene, nicht mal mehr eine Fussnote in der Berichterstattung wert ist. Selbst die bestialische Ermordung eines Oppositionellen in einer saudischen Botschaft, ach, Schwamm drüber.

Auch diktatorisch regierte Unrechtstaaten wie Katar werden plötzlich, dank Gas, umschwänzelt, gerne möchte man etwas vom Rohstoff in die eigenen Tanks leiten, da störte Moral oder der Hinweis auf brutale Verstösse gegen die Menschenrechte nur.

Tugendwächter aller Orten

Nun kann man sicherlich nicht immer gleichzeitig alle Schweinereien anprangern, die tagein, tagaus auf der Welt passieren. Die einseitige Konzentration auf die Ukraine – während selbst Untaten eines NATO-Mitglieds kaum mehr als ein Schulterzucken auslösen –, das macht aber diese moralische Verurteilung so unglaubwürdig, dass in Regionen, die von anderen Schweinereien gebeutelt werden, die EU, die USA oder auch die Schweiz nicht ganz für voll genommen werden mit ihrer vehementen Verurteilung aller Untaten in der Ukraine.

Ist es statthaft, das Verhalten von fundamentalistischen Wahnsinnigen mit demjenigen von publizistischen Tugendwächtern in der Schweiz zu vergleichen? Es ist statthaft, weil im Wesenskern verblüffende Ähnlichkeiten existieren.

Beide sind davon überzeugt, das Gute vom Schlechten unterscheiden zu können. Beide sind überzeugt, dass sie mit unfehlbarer Sicherheit das Gute definieren können. Beide sind überzeugt, dass das in ihren Augen Schlechte schädlich ist, deshalb bekämpft werden muss. Beide sind überzeugt, dass Menschen nicht einfach falsche oder schlechte Ansichten äussern, sondern dass dahinter eine verabscheuungswürdige, zu verurteilende Haltung steckt. Beide sind überzeugt, dass ein Tolerieren solcher Haltungen der ganzen Gesellschaft Schaden zufügt.

Schliesslich sind beide überzeugt, dass sie im Dienst des Guten und im Kampf gegen das Böse stehen. Und da ist dann eigentlich alles erlaubt. Peitschenhiebe, soziale Ächtung, verbale Prügel, Denunziation und alles Üble, was eigentlich bekämpft werden soll.

 

Erregungsmaschinen

These: die Menschen waren schon immer so dumm. Man hat’s nur weniger gemerkt.

Schon der grosse Egoshooter Immanuel Kant wusste:

Damit meinte er, dass auch Zwang, Erziehung, Beratung, gutes Zureden nicht wirklich nützen. Aber er konnte wenigstens eine Richtschnur definieren, die das menschliche Handeln bestimmen soll.

Davon gibt es verschiedene Versionen, die wohl universellste lautet:

«Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.»

Das ist unter dem etwas pathetischen Begriff «kategorischer Imperativ» in die Geschichte eingegangen. Mehr ist nicht, da Kant nicht zu Unrecht lange Jahre auf dem Index der für Katholiken verbotenen Bücher stand. Weil er Setzungen der Bibel oder angeblich geoffenbarte göttliche Worte dahin verwies, wo sie hingehören: ins Reich des Glaubens, des nicht rational Begründbaren.

Fällt das als Handlungsanleitungen weg, fehlt die unbezweifelbare Letztbegründung, muss akzeptiert werden, dass alles, was wir unter Moral, Ethik, Anstand, Sitte verstehen, höchstens einsichtige Konventionen sind.

Ethik als Sammlung von Aussagen über das gute und gerechte Handeln des Menschen; Moral als Summe der geltenden Normen und Regeln, Tugend als Fähigkeit der richtigen Abwägung zwischen gut und böse, richtig und falsch. Alles schöne Begriffsturnereien, aber letztlich ohne viel praktische Brauchbarkeit.

Ich kann, weil ich will, was ich muss

Knackiger ist die Formulierung: «Ich kann, weil ich will, was ich muss.» Die wird Kant zugeschrieben, nur: hat er so nie gesagt. Aber das hier wäre der wahre Steinbruch der Erkenntniserweiterung, das wären eigentlich Fragen, mit denen sich der Mensch, der nicht mehr alle Energie darauf verwenden muss, sich am Leben zu erhalten, beschäftigen könnte.

In den (wenigen) zivilisierten Gegenden der Welt ist der Aufwand zur Selbsterhaltung, vulgo Arbeit oder Wertschöpfung genannt, überschaubar geworden. Schon mit einer Halbtagsstelle kann man sich über Wasser halten; mit genügend Konsumverzicht. Das vor Betreibung geschützte Existenzminimum beträgt in der reichen Schweiz bescheidene Fr. 1200. Plus Krankenkasse und Wohnung.

Also Zeit wäre genug vorhanden, sich mit bewusstseinserweiternden Fragen zu beschäftigen. Nur: dafür ist das krumme Holz offenbar nicht gemacht. Freizeit löst bei vielen Menschen Panik aus, wenn sie nicht irgendwie gefüllt werden kann. Womit auch immer. Ablenkungen jeder Art, sozial Depravierte verlieren sich in Videospielen, andere versuchen es mit Hobbys oder übermässigem TV-Konsum.

Neu entwickelte Zeitvernichtungsmaschinen

Seit rund 15 Jahren gibt es aber vorher unbekannte Zeitvernichtungsmaschinen, die mit grossem manipulativen Geschick durch Dauererregung die Menschen in ihrem Räderwerk behalten. Sie heissen soziale Plattformen.

Sie arbeiten mit der Illusion, dass der Vereinzelte in Kontakt mit vielen Menschen stünde, eigentlich Zugang zu Milliarden von Nutzern hätte. Auf diese Weise nicht nur soziale Kontakte knüpfen und pflegen könne, sondern auch Gedanken und Ansichten austauschen, sich damit bereichern solle.

Trotz allen Beteuerungen war das natürlich niemals die Absicht der Erfinder von Facebook, Twitter, Instagram usw. Sie haben sich damit Profitgeneratoren geschaffen, die unvorstellbare Prozentsätze von Reingewinn ermöglichen. Beliebig skalierbar, das funktioniert bei 10 Millionen Nutzern genauso wie bei 100 Millionen, genauso wie bei einer Milliarde.

Gleichzeitig richten diese transnationalen Monster, die sowohl fiskalisch wie juristisch kaum zu fassen sind, unvorstellbare Schäden auf dem Gebiet der öffentlichen Auseinandersetzung an. Sie können manipulativ verwendet werden (Cambridge Analytica), sie werden zum Tummelfeld von Trollen, bösartigen Kampagnen, computergenerierten Bewegungen.

Verdumpfung der Debatte

Aber sie sorgen vor allem für eine Verrohung, Versimplung, Verdummung der Debatte. Wer sich daran gewöhnt hat, auf maximal 280 Zeichen eine Meinung zu formulieren, ist geistig auf das Niveau eines Dreijährigen zurückgefallen, womit keine aufgeweckten Dreijährigen beleidigt werden sollen.

Differenzierung, Diskursfähigkeit, das Erfassen komplexer Zusammenhänge, das Durchdringen komplexer Situationen, das Suchen nach adäquaten Erklärungen für interagierende Kraftfelder, in denen sich Gesellschaften normalerweise bewegen – all das übersteigt den geistigen Horizont der Teilnehmer.

Wer nicht spielsüchtig ist, wundert sich, wie Menschen stundenlang vor Slotmachines sitzen können und die unablässig mit Münzen füttern. Das liegt auch daran, dass diese Maschinen mit grosser Ingenieurskunst und psychologischen Beeinflussungsmechanismen so gebaut sind und funktionieren, dass alle Suchtmechanismen im Hirn getriggert werden.

Genau gleich sitzen Hunderte von Millionen von Menschen vor den Slotmachines der sozialen Plattformen. Und füttern sie unablässig mit ihren Daten, in der irrigen Annahme, dass die Benutzung gratis sei. Das funktioniert dann am besten, wenn sie in einen Erregungszustand versetzt und in ihm gehalten werden.

Soziale Plattform, aus der Sicht des Betreibers.

Dann greift die fundamentale Erkenntnis von Gustave Le Bon, die er in seiner Untersuchung über die «Psychologie der Massen» festgehalten hat. Bei Massenveranstaltungen sinkt der durchschnittliche IQ der Teilnehmer auf den der dümmsten.

Genau das geschieht hier, im 21. Jahrhundert. Das Ausmass der menschlichen Dummheit ist nicht grösser geworden. Allerdings auch nicht kleiner. Zudem viel hör- und sichtbarer.