Alles nur ein Missverständnis
Der Oppositionelle Alexei Nawalny in Haft gestorben.
Der mutige Mann muss Präsident Putin missverstanden haben. 2020 überlebte er einen Mordanschlag mit dem Nervengift Nowitschok. Davon hat der so oft missverstandene Putin sicherlich nichts gewusst. So Sachen passieren halt in der besten Autokratie; der Chef erfährt von Schweinereien immer als Letzter.
Nach diesem Anschlag wurde Nawalny in der Berliner Charité wieder gesundgepflegt, nachdem russische Ärzte keine Anzeichen auf Vergiftung erkennen konnten.
Unbeliebt hatte sich Nawalny damit gemacht, dass er immer wieder – und mit Belegen – auf ungeheuerliche Korruptionsfälle aufmerksam machte. So wurden bei Transneft zum Beispiel vier Milliarden US-Dollar veruntreut.
Als Nawalny – nachdem er sich vom Giftanschlag erholt hatte – tollkühn im Januar 2021 nach Moskau zurückkehrte, wurde er gleich am Flughafen verhaftet. Putin fühlte sich sicher wieder missverstanden, dass dieser hartnäckige Oppositionelle nach so vielen Schikanen, Prozessen, Verhaftungen und Einkerkerungen sich selbst von einem Attentat nicht davon abhalten liess, wieder nach Russland zurückzukehren.
Dabei hatte Putin doch alles getan, um unmissverständlich klarzumachen, dass das keine gute Idee sei.
Das war der Anfang einer Chronik eines angekündigten Todes.
Unter verschiedenen Begründungen wurde Nawalny dann anschliessend zu diversen Haftstrafen verurteilt. Das läpperte sich auf insgesamt 19 Jahre Straflager. Zunächst wurde er in das Lager Pokrow, 100 Kilometer nördlich von Moskau verbracht. Im Juni 2022 kam er in das Straflager IK-6 bei Melechowo.
Schliesslich verschwand Nawalny eine Zeitlang und tauchte im sibirischen Straflager Polarwolf wieder auf, das zu den brutalsten Einrichtungen Russlands gehört. Schon in den Jahren zuvor gab sein Gesundheitszustand immer wieder zur Besorgnis Anlass, sein Zugang zur Öffentlichkeit wurde immer mehr eingeschränkt; selbst seine Anwälte wurden verhaftet oder flohen ins Ausland.
Laut russischen Medien ist er nun am 16. Februar 2024 gestorben.
Aber auch das ist sicherlich auch nur ein Missverständnis, in Wirklichkeit lebt er unter einer neuen Identität am Schwarzen Meer in einer Installation für verdiente Funktionäre und geniesst dort das Leben.
Der Kremlsprecher bestätigte immerhin, dass Präsident Putin in Kenntnis gesetzt worden sei. Es ist nicht bekannt, ob sich Putin besorgt über die Zustände in russischen Straflagern äusserte. Aber als lupenreiner Demokrat muss er bedauert haben, dass es Nawalny verwehrt blieb, als Präsidentschaftsanwärter zu kandidieren. Es ist auch dumm gelaufen, dass seine Unterstützergruppen immer wieder brutal aufgelöst wurden, ihre Infrastruktur dabei zerstört.
Das sind alles Zustände und Entwicklungen, auf die Putin mit grossem Unverständnis reagiert, denn als Menschenfreund und Demokrat tut ihm das in seiner empfindlichen Seele weh.
Vor allem natürlich, weil solche unglücklichen Einzelfälle, ein tragischer Todesfall, der trotz intensiver medizinischer Betreuung und gar Wiederbelebungsversuchen eintrat, von westlichen Propagandisten dafür missbraucht wird, an der energischen Freundlichkeit des russischen Präsidenten zu zweifeln, der sich noch so gerne jeder demokratischen Herausforderung stellen möchte. Aber blöd auch, irgendwie schafft es kein Gegenkandidat, zur Wahl zugelassen zu werden.
Und dann stirbt noch einer weg, aber all das hat bekanntlich Gogol in seinen «Toten Seelen» bereits beschrieben. Hier muss man nachschlagen, wenn die die lange Reihe von erfolgreichen Mordanschlägen (und auch ein paar misslungene) verstehen will, die alle ohne Kenntnis und gegen den erklärten Willen des Missverstandenen im Kreml stattfinden.
Putin leidet, wie viele, unter der Unfähigkeit des Personals. Er gibt glasklare Anweisungen, wie menschenfreundlich auch Oppositionelle im In- und Ausland behandelt werden sollen. Anständig, voller Respekt, in Würdigung ihrer Leistung, aber unter scharfer Zurückweisung ihrer Ansichten. Und dann passiert es immer wieder. Leute werden erschossen, vergiftet, kommen bei Unfällen um, werden mit anderen Methoden abgemurkst. Und ständig wird das so missverstanden, als ob Putin davon gewusst habe, gar damit etwas zu tun habe. Man fragt sich, wie der Mann das aushält, so verunglimpft zu werden.
Es kann halt nicht jeder eine so beneidenswerte Gesundheit wie Putin haben, dieser ganze Kerl, der Reiter mit nacktem Oberkörper. Der Naturbursche, Eishockey-Crack, Besitzer des schwarzen Gürtels, der mit allen Mitteln versucht, seine Körpergröße zu kompensieren, wenn er durch himmelhohe, goldverkrustete Türen schreitet oder an einem viel zu grossen Schreibtisch mit viel zu vielen Telefonen sitzt.
Der Kommentator bei der «Weltwoche» zeigt wieder einmal, dass rechtskonservative Amoks sich in ihrer Geisteshaltung und intellektuellen Flughöhe nicht von linksradikalen Amoks auf anderen Plattformen unterscheiden. Da gibt es mal den sich clever dünkenden Verschwörungstheoretiker: «So dumm ist Putin nicht, dass er Nawalny gerade zu dieser Zeit «beseitigen» lässt. Es müssen also andere Interessengruppen hier ihre Finger im Spiel haben, die Putin Probleme bei dieser Wahl bereiten wollen.» Dann gibt es die «Nawalny war ein westliches U-Boot»-Schlaumeier: «Nawalny war nie ‹Oppositionsführer›. Er war Leiter einer kleinen Partei und Bewegung, welche in erster Linie Putin kritisierte und vom Westen finanziert wurde.»
Dann gibt es die grosse Fraktion der Whataboutisten: «Zudem heisst der Verstorbene Nawalny, nicht Assange, nicht Lira.» «Na ja. Progoschin ist ja auch mit dem Flugzeug abgestürzt. Und Geschäftsführer von russischen Firmen starben wie die Fliegen. Alles Zufall natürlich.» «Alexej Nawalny stirbt ein paar Tage bevor in London, am 20./21. Februar der oberste Gerichtshof über den Auslieferungsantrag der USA über Assange entscheidet. Zufälle gibt es.» Und die auch nicht kleine Fraktion von Vollirren: «Nawalny wurde getötet, aber nicht von den Russen.» «In den USA stehen sechs Millionen Menschen unter Gefängnisaufsicht – mehr als in Stalins Gulags.» «Könnte es auch Ablenkung vom Interwiew sein?» «Irgendwas stimmt mit dem Nowitschok nicht.»«Free Assange!»
Eigentlich sollte es einem speiübel werden, wenn man sich bewusst wird, dass man solche Leser hat.
Weitere Aufklärung erwarten wir gerne von Wolfgang Koydl oder Roger Köppel himself, der vielleicht in der «Weltwoche» fromm einen Trauergottesdienst abhalten wird. Die Wege des Herrn sind bekanntlich unerforschlich, er hat’s gegeben, er hat’s genommen. Amen.