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Ach, du liebe NZZ

Immer wieder Glanzlichter in diesem Schattental namens Journalismus.

Wir gestehen: ZACKBUM mag Botho Strauss nicht wirklich. Sein «Anschwellender Bocksgesang» hatte zwar einen tollen Titel, aber der Inhalt war zu sehr Blut-und-Boden-Geschwurbel. Auch sein dichterisches Werk erscheint uns zerquält, gewunden, ohne rechten Lustgewinn zu lesen.

Aber dann schreibt Roman Bucheli eine Würdigung zum 80. Geburtstag von Strauss (der im Übrigen in der «Kulturredaktion» des Qualitätskonzerns Tamedia völlig unbekannt sein dürfte), die einen sogar fast dazu verleitet, doch wieder Strauss zu lesen. So gut ist die.

Bucheli schwingt sich beschwingt in Strauss hinein und kommt mit ziemlich luziden Erkenntnissen wieder heraus:

«Das Ganze nämlich, eine in sich geschlossene und sich selbst genügende Welt, wie sie der Roman vorstellt, ist Botho Strauss längst suspekt geworden. Er sieht, wenn er in die Welt schaut, zwar auch das Zusammenhängende. Vor allem aber sieht er Bruchstücke. Überreste eines vormals Ganzen, die sich nicht mehr zueinanderfügen. Doch im Fragment schlummert eine Erinnerung an das Ganze, so bleibt dieses gegenwärtig, selbst im Zustand der Zerstörung.»

Zu eben diesem runden Wiegenfest ist eine neue Sammlung von, nun ja, Bruchstücken von Strauss erschienen: «Das Schattengetuschel». 230 Seiten für leicht unverschämte Fr. 38.90, die Versuchung ist da, es dennoch zu kaufen und vielleicht sogar zu lesen.

Denn Bucheli macht einem schon etwas den Mund wässrig:

«Botho Strauss hat nie verhehlt, dass er die Gegenwart als eine Verfallsgeschichte betrachtet. Der Mensch ist ein spätes Wesen in der Evolution und zugleich eines der unvollkommensten. Über viele Jahre und viele Theaterstücke hinweg hat Botho Strauss diese rätselhaft unbeholfenen Figuren auf die Bühne gebracht. Heute, da dieser melancholische Rebell achtzig Jahre alt wird, bündelt er seine Beobachtungen im Bestiarium der Menschenwesen zu ungeschliffenen Bruchstücken von herber Schönheit. Doch die Schärfe der Gedanken hat nichts an Brisanz eingebüsst.»

Was soll man dazu mehr sagen als: so soll ein Feuilleton sein. Aber dafür hat Tamedia ja Nora Zukker, die mit einer zweitklassigen Schriftstellerindarstellerin im Friedhof Prosecco schlürft.

Die NZZ hat zudem noch Guido Kalberer, der durchaus auf Flughöhe Peter Sloterdijk ist. Der Mann ist nun in der Lage, aus dem Stand anhand des Einschlagens eines Nagels in die Wand ein kulturhistorisches Essay zu verfassen, dass Bögen von den alten Griechen über die Aufklärer, die Strukturalisten, die Poststrukturalisten plus Prisen von Habermas, Derrida und Althusser spannt.

Sloterdijk war im Frühling zu Vorlesungen ans Collège de France eingeladen. Das ist eine grosse Ehre, von einer grossen Institution ausgesprochen, die ihre Geschichte bis 1530 zurückverfolgen kann. Sein Wahlspruch lautet «docet omnia», es lehrt alles.

Selbst Sloterdijk zeigte sich beeindruckt von dieser Einladung und wusste, dass er hier noch mehr brillieren muss als sonst schon. Kein Problem für den Mann: «Was ist Europa anderes als ein Klub aus Nachfolgern gedemütigter Imperien?» Was für ein Paukenschlag als Einleitung zu seinen Vorlesungen.

Natürlich kann Sloterdijk das unterfüttern: «Der Schriftsteller unter den deutschen Philosophen beschreibt die wechselvolle Geschichte Europas wie ein Theaterstück, das nach seiner Uraufführung im Römischen Reich zahlreiche Reinszenierungen erlebte: Der Traum antiker Grösse führte die Nationalstaaten zuerst zu ungeahnter Grösse, dann zumeist in die Tragödie. Der Untergang des Imperium Romanum wurde so vor wechselndem Bühnenbild mehrmals zur Aufführung gebracht», schreibt Kalberer.

Und tanzt mit Sloterdijk durch dessen Erkenntnisräume: Was Michel Foucault als «dire vrai sur soi-même» beschreibt, meint eine Offenlegung mit einer ausgeprägten Tendenz zur Selbstkritik: Bekenntnisse sind Geständnisse. Die «Selbstentblössungsliteratur», die in Europa heute weit verbreitet ist, wendet Sloterdijk in den letzten zwei Vorlesungen ins Politische: Der «autobiografische Kontinent» neige vor lauter Selbstbespiegelung und -befragung dazu, sich selbst zu marginalisieren und aus dem Spiel zu nehmen.»

Da bekommt Sloterdijk plötzlich eine schneidende Schärfe und seziert das, was in allen woken Gutmenschenumgebungen im Schwang ist, aber eigentlich zutiefst verächtlich. Dafür findet Sloterdijk die passenden Worte, die Kalberer genüsslich wiedergibt:

«Die ‹postkolonialen Studien›», schreibt Sloterdijk, «bilden die jüngste Metastase des von der religiösen Geständniskultur präformierten Geistes der europäischen Selbstkritik». Der «Amoklauf der Selbstbezichtigung», eine Folge des historisch gewachsenen Geständniszwanges, sei Wasser auf die Mühlen der Diktatoren. Für viele westliche Intellektuelle, insbesondere radikale Linke, die ins Lager des globalen Südens übergelaufen seien, sei «der Zivilisationsverrat das Gebot der Stunde».

Wunderbar und wahr. «Der Kontinent ohne Eigenschaften» heisst die Verschriftlichung dieser Vorlesungen, in Anspielung an den Mann ohne Eigenschaften von Musil (das war, aber lassen wir das). Knapp 300 Seiten, die man wohl lesen muss.

Man könnte der NZZ direkt böse sein, dass sie dermassen viele zusätzliche Werke auf den sowieso schon nicht kleinen Bücherturm legt, der der Beachtung harrt. Aber solange die NZZ noch so ein Feuilleton pflegt, seien ihr alle Häslers und sogar die NZZaS verziehen.

Eine Frage der Beredsamkeit

Tomer Persico zieht in der NZZ vom Leder.

Zugegeben, im Vergleich ist das, was Joelle Weil auf CH Media kommentiert, intellektuelle Wassersuppe. Persico ist ein wortmächtiger Intellektueller, der an israelischen Universitäten arbeitet und forscht.

Er holt weit, weit aus, um sein Urteil auf die aktuelle «weltrevolutionäre Linke» (wer das wohl ist?) herabsausen zu lassen. Daher beginnt er im Jahre 1978, als der französische Strukturalist Michel Foucault Teheran kurz vor dem Sturz des Schahs besuchte.

Persico reiht ihn ein bei den Kritikern der westlichen Moderne; Foucault schrieb damals: «Die Modernisierung als politisches Projekt und als Prinzip der gesellschaftlichen Transformation gehört in Iran der Vergangenheit anDaran anknüpfend zerpflückt Persico die Verteidigung des Angriffs vom 7.Oktober durch die «Foucault-Adeptin» Judith Butler als angeblichen «bewaffneten Widerstand».

Weiter geht’s im wilden Ritt, «die Vernarrtheit der westlichen radikalen Linken in den islamistischen Terrorismus erscheint als eine Konstante, die bis zur Unterstützung der PLO durch die Sowjetunion nach dem Sechs-Tage- Krieg von 1967 zurückreicht». Dass die PLO damals «islamistischen Terrorismus» betrieb, wäre allerdings neu; die Hamas ermordete neulich deren Exponenten im Gazastreifen, weil sie ihr nicht islamistisch genug waren.

Geht es gegen französische Philosophen, darf natürlich Jean Baudrillard nicht fehlen, der – wie Foucault – neben Bedenkenswertem und Grossartigem auch viel Dunkeldummes gesagt hat. Aus diesen Steinbrüchen grosser Denker kann sich jeder bedienen, der sie wie Perisco denunzieren und nicht verständig kritisieren will.

Wer dann auch noch Sartres Vorwort zu Franz Fanons fulminanter Abrechnung «Die Verdammten dieser Erde» zitiert, beweist damit endgültig: hier geht es nicht um verstehen, sondern um verdammen.

Da darf im wilden Ritt dann die Romantik nicht fehlen, Max Weber natürlich, Émile Durkheim und schliesslich sogar der Faschismus und der Marxismus, die sich alle gegen den «Okzidentalismus», die westliche Moderne auflehnten.

Dabei schreckt Persico auch vor Absurdem nicht zurück: «Und strebten nicht auch dominante Teile der marxistischen Bewegung, in Wirklichkeit eine Rückkehr zur vormodernen Stammesgemeinschaft anKleiner Spoiler: weder dominante noch andere Teile wollten einen solchen Unsinn.

Nachdem er weit, sehr weit ausgeholt hat, und dabei fast auf den Rücken gefallen wäre, kommt Persico endlich zu seiner Kernthese:

«Als offensichtlichste Manifestation des «Westens» inmitten des «Ostens», als das, was als vermeintlich letztes Überbleibsel kolonialer Herrschaft und des Imperialismus (wie klein auch immer) erscheint, fungiert Israel als Blitzableiter für das toxische Abendland.»

Dann macht er einen demagogisch geschickten Zwischenschritt: «Natürlich ist ein beträchtlicher Teil der Kritik an Israel nicht unbegründet. Israel unterdrückt ein anderes Volk militärisch und zeigt tragischerweise keine Bereitschaft, diese Unterdrückung zu beenden.»

Der ist aber nur die Einleitung zum Folgenden: «Aber die Verquickung von Postkolonialismus, Postnationalismus und Antirassismus, wie sie sich in der Feier des «Widerstands» der Hamas im Gazastreifen manifestiert, signalisiert Tieferes als eine begründbare Ablehnung der Einschnürung durch die israelische Armee.»

Nun greift Persico tief in die Trickkiste gelehrter Fremdwörter: Es gälte, Israel als «Emanation der Moderne zu überwinden», denn der Staat sei ein «Metonym für das gesamte zivilisatorische Feld, das von der Aufklärung bis zum industriell-militärischen Komplex reicht».

Für weniger Gebildete: Emanation ist schlichtweg Ausstrahlung, ein Metonym ist ein Wort, das für etwas anderes steht. Beispielsweise Bern für die Landesregierung. Aber das ist nur die Einleitung für einen Aufschwung ins lyrisch Bösartige:

«Israels Jüdischsein lässt seine Existenz zu einem doppelten Schlag ins Gesicht seiner Verächter werden. Als Stammvater des Christentums erscheint ihnen das Judentum als der archaischste Kern des Westens, als Ur-Punkt des Ur-Westens. Israel wird auf diese Weise zu einem Totem, das die bösen Geister der gesamten westlichen Geschichte vereint.»

Nun wird es so absurd, dass vollständig zitiert werden muss:

«Israel für seinen angeblichen rassistischen Kolonialismus büssen zu lassen, erscheint nicht nur als ein notwendiger Schritt auf dem langen Marsch zur Gerechtigkeit, sondern schafft für viele Reinigung und Absolution. Die Auslöschung Israels als westliche Inkarnation befreit den Westen selbst von seiner vergangenen Schuld. Der Wunsch, Israel zu vernichten, folgt dem Wunsch nach Therapie und Heilung. Die Verfehlungen aller Vorväter, dieser imperialistischen, kolonialistischen, sklavenhalterischen Europäer, werden endlich gesühnt. Der jüdische Staat soll in einem neuen Holocaust geopfert werden, um die Ursünden des Westens zu tilgen.»

What a bullshit, kann man zwischendurch kurz sagen. Es folgt die Schlussfolgerung. Hinter dem Kampf gegen «weisse Vorherrschaft», gegen «Imperialismus» stehe in Wirklichkeit: «Es ist die Ablehnung einer ganzen zivilisatorischen Kultur, der Moderne.Wir scheinen uns selbst einfach nicht verzeihen zu können, dass wir modern geworden sind.»

Auf die Gefahr hin, uns zu wiederholen: what a bullshit. Eigentlich sollten wir den Eurozentrismus, dass nur wir aufgeklärten und modernen Menschen die «zivilisatorische Kultur» verkörpern, gar «die Moderne», längst überwunden haben.

Schliesslich wissen wir darum, welche Verheerungen, welche unsäglichen Verbrechen diese Kultur nicht nur in Europa, sondern auf der ganzen Welt begangen hat. Kolonialismus, Auslöschung ganzer Kulturen, Sklaverei, Vernichtung durch Zwangsarbeit, abgesegnet durch die katholische Kirche – ist es da ein Wunder, dass bis heute grössere Teile der Welt diese angebliche Moderne aus tiefstem Herzen ablehnen, ja hassen?

Welche Arroganz, sich als einziger Vertreter der «Moderne» aufschwingen zu wollen, mit dem Zeigefinger auf andere zu zeigen, die längst vor «unserer» Zivilisation hochzivilisiert waren (wie Persien und China), sich aber nun teilweise ins religiöse Mittelalter verlaufen haben. Was man gerade im Fall des Irans als Gegenbewegung gegen diese angebliche Moderne verstehen kann, die vom westlich-korrupt-brutalen Schah verkörpert wurde.

Und die Vorwürfe gegen Israel kann man auch eine Nummer kleiner erklären: wer so vorgeht wie im Gazastreifen oder in der Westbank, der muss sich nicht wundern, dass er selbst von Verbündeten, Alliierten und Freunden scharf kritisiert wird. Nicht als Echo auf die Kritik am eurozentristischen Aufoktroyieren «unserer» Werte und Vorstellungen.

Dass es in der «weltrevolutionären Linken», was immer das sein mag, auch Verpeilte gibt, so wie in israelischen orthodoxen Kreisen, so wie in der Hamas, ist bedauerlich, aber kein Grund, sie so demagogisch fertigmachen zu wollen. Das ist Wulst, reines Wollen. Keine Kunst, denn die kommt von können.

«Paradigmen-Tsunami»

Was ist schlimmer als Dummschwätzen? Klugscheissen.

«Doch was geschieht, wenn die strikte Zwei­geschlechtlichkeit auf dem Müllhaufen der Geschichte landet, wenn die Zerstörung der Umwelt nicht mehr geleugnet werden kann oder nationale Grenzen an Bedeutung verlieren? Was sollen wir mit einer Psychoanalyse anfangen, die theoretisch noch immer auf der Zwei­geschlechtlichkeit beruht? Wohin mit dem Pazifismus und dem Anti­militarismus angesichts der Katastrophe in der Ukraine? Wie soll eine soziale Markt­wirtschaft ohne die Umwelt zerstörendes Wachstum funktionieren

Die «Republik» versteht sich bekanntlich als das Blatt der tiefen Denke, wo in jeder Beziehung die ganz dicken Bretter gebohrt werden. Meistens ohne viel Zuschauer wie bei der unendlichen Google-Serie. Aber das hat noch nie einen «Republik»-Schreiber davon abgehalten, wenig für viel Geld zu tun.

Daniel Strassberg ist Psychoanalytiker und hat noch ein Philosophiestudium drangehängt. Das qualifiziert ihn dazu, sich über «Nietzsche und Superman. Rousseau und die SVP» zu verbreitern. Diesmal denkt er darüber nach, dass wir uns angeblich in einem «Paradigmen-Tsunami» befänden.

Hier missversteht er nicht nur Thomas S. Kuhn, sondern auch noch gleich Michel Foucault, über den er seine Liz-Arbeit geschrieben hat: «In den 60er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts stellten Kuhn und Michel Foucault beinahe gleichzeitig fest, dass Theorien und Begriffe nur in einem entsprechenden konzeptuellen Rahmen Sinn ergeben – oder um in unserem Bild zu bleiben: Sätze sind nur vor dem richtigen Hinter­grund sinnvoll.»

Also eigentlich hatte sich Kuhn in seinem bahnbrechenden Werk «Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen» mit dem Phänomen beschäftigt, dass es immer ein Weilchen dauert, bis neue Erkenntnisse zum Allgemeingut werden. Selbst nachdem man durchschaut hatte, dass Sauerstoff für Feuer zuständig ist, geisterte die Phlogiston-Theorie lange Zeit weiter herum. Oder die Farbenlehre Goethes, der sich allen Erkenntnissen von Newton verweigerte. Das waren bahnbrechende Gedanken, die nun nicht direkt etwas mit Paradigmenwechseln zu tun haben, wie sie Strassberg versteht. Foucaults Diskursanalyse, die Strassberg hier aus Gründen des Reputationsmanagements (ich kenne dann gleich zwei grosse Denker, gell) dazuquetscht, hat mit Kuhns Paradigmenwechseln nicht wirklich zu tun.

Sobald Strassberg aber das Klimpern mit Namen und Fremdwörtern verlässt, wird’s eher banal: «Natürlich verlängern die Panzer den Krieg. Doch Wagenknecht blendet aus, dass ohne sie die Ukraine längst von der russischen Armee überrollt worden wäre …»

Peinlich wird’s dann, wenn sich Strassberg von banalen Beispielen wieder in die lichten Höhen der Theorie aufschwingen will: «Vieles, woran wir glaubten, gilt nicht mehr, und doch sind wir, von einigen Ausnahmen abgesehen, noch weit davon entfernt, neue Begrifflichkeiten, neue Theorien und neue Glaubens­sätze entwickeln zu können

Blöd nur, dass sich eigentlich in den letzten Jahrzehnten seit Kuhn und Foucault die Erkenntnis- und Diskurstheorie fröhlich weiterentwickelt hat und es keinerlei Anlass gibt, neue Begrifflichkeiten zu entwickeln. Besonders peinlich ist, dass einer der wichtigsten Theoretiker auf diesem Gebiet auch zu diesen verpeilten Pazifisten gehört, die eine Verhandlungslösung und nicht noch mehr Panzer fordern.

Aber vielleicht hat Strassberg das Werk von Jürgen Habermas nicht mehr zur Kenntnis genommen und ist bei Kuhn und Foucault stehengeblieben. Wohl deshalb haut er auch Habermas diesen hier rein: «Aber das Fest­halten an alten pazifistischen Überzeugungen, nur um sich treu zu bleiben, ist kein Argument, das ist höchstens bier­selige Nostalgie.»

Noch schlimmer: «Tatsächlich bilden alte, ausgediente Paradigmen den Kern der meisten alternativ-esoterischen Theorien.» Wir fassen zusammen: Leute wie Wagenknecht, wohl auch Schwarzer, dazu die fast 700’000 Unterzeichner des Manifests, darunter viele bedeutende Intellektuelle, aber auch Habermas hängen inzwischen bierselig alternativ-esoterischen Theorien an.

Wer für so einen ernüchternden Stuss freiwillig bezahlt, sollte sich mindestens psychologisch beraten lassen …

 

Leichenfledderei

War Robespierre Masochist? Nahm Nietzsche wirklich die Peitsche mit zum Weibe? Oder war Foucault pädophil?

Wenn eine Ideologie totalitär durchdreht, dann will sie nicht nur feste Regeln für richtiges Verhalten in Gegenwart und Zukunft aufstellen. Sondern auch die Vergangenheit säubern. Geradezu pervers wird das, wenn Verstorbenen aus heiterem Himmel sexuelle Abartigkeiten vorgeworfen werden.

Solche posthume Anschuldigungen gehen gerne viral. Sie brauchen nur drei Bestandteile. Ein toter, aber berühmter oder nachwirkender Mensch. Ein «neuer» Vorwurf, gerne auf sexuellem Gebiet, der aber jahrzehntelang stumm geblieben war. Und dann die Exegese durch Journalisten, die dann das tun, was auch Geier lieben: Leichenfledderei.

Das jüngste Beispiel ist der französische  Philosoph Michel Foucault. Es ist eigentlich erstaunlich, dass nicht schon viel früher solche Vorwürfe gegen einen der bedeutendsten Denker des 20. Jahrhunderts erhoben wurden.

«Wahnsinn und Gesellschaft», «Die Archäologie des Wissen», «Die Ordnung der Dinge», «Überwachen und Strafen» und schliesslich «Sexualität und Wahrheit», alle seine Werke schlugen wie Bomben in den Wissenschaftsbetrieb, in die Philosophie ein.

Wie zeigt sich Macht in der Gesellschaft?

Seine Forschungen drehten sich immer um eins: um die Ausformungen von Macht. Strukturalistisch in der Methode, spürte er den verschiedensten Machtstrukturen nach; durch Unterscheidung zwischen Vernünftigen und Wahnsinnigen, durch alle Formen der Ausgrenzungen in Gefängnissen, in anderen Institutionen der Gesellschaft.

Vornehmlich auch im Bereich der Sexualität, eine der wichtigsten Kampfplätze der Machtausübung, durch Ausgrenzung, durch Definitionen von Perversion, durch das Einpflanzen moralischer Imperative, die mit sexuellen Wünschen in Konflikt geraten.

Foucault war ein radikaler Denker, der enzyklopädische Streifzüge durch die Geschichte, die Kunst, durch Strukturen der Machtausübung unternahm. Er lebte genauso radikal; nahm Drogen, war homosexuell und starb 1984 an Aids. Die Beschäftigung mit seinen Werken lohnt sich bis heute.

Aber für Flachepigonen wie Andreas Tobler ist eine andere Frage viel wichtiger: «War der Starphilosoph pädophil?» Im typischen Spekulationston stellt Tobler in den Raum: «Michel Foucault soll Buben missbraucht haben.» Wenn das so wäre, wäre das widerlich. Aber: was tut das fast 40 Jahre nach Foucaults Tod zur Sache? Welche Belege gibt es dafür?

Ein mässig erfolgreicher Publizist macht damit in der «Sunday Times» Ende März 2021 auf sich aufmerksam. Er berichtet von einem Besuch bei Foucault, der damals in Tunesien lebte. Er will gesehen haben, dass acht-, neunjährige Kinder Foucault hinterhergerannt seien und «nimm mich» gerufen hätten. Der Denker habe ihnen Geld zugeworfen und gesagt, man treffe sich um zehn Uhr nachts am «üblichen Ort». Das sei der Friedhof gewesen, wo Foucault auf Grabsteinen Sex mit den Buben gehabt habe, will Guy Sorman wissen.

Erinnerung nach über 50 Jahren

Das soll sich an Ostern – 1969 abgespielt haben. Wieso Sorman diese Anekdote über 50 Jahre für sich behielt, erklärt er nicht. Der damalige Lebensgefährte von Foucault erklärt kategorisch, dass diese Vorwürfe «chronologisch und objektiv falsch» seien. An Ostern 1969 sei Foucault gar nicht in Tunesien gewesen, zudem sei zu dieser Zeit offene Pädophilie in diesem arabischen Land höchst gefährlich und geradezu selbstmörderisch gewesen.

Auch sonst mag sich eigentlich niemand an dieses Ereignis oder an pädophile Verhaltensweisen von Foucault erinnern. Ausser einer ehemaligen Lebensgefährtin von Sorman, der es plötzlich auch wieder eingefallen sei.

Es ist ein Leichtes, selbst für philosophische Leichtmatrosen wie Tobler, damalige Manifeste heranzuziehen, die sich für eine Entkriminalisierung sexueller Praktiken, beispielsweise, aber nicht nur, von Homosexuellen einsetzten. Das war damals Zeitgeist, zusammen mit der Stundentenrevolte 1968 ging der Ruf nach sexueller Befreiung, Enttabuisierung. Nicht nur in Frankreich, auch die deutschen Grünen veröffentlichten noch Jahre später Positionen zur «Befreiung» sexueller Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern, solange diese «im gegenseitigen Einverständnis» stattfinden sollten.

Selbst der grosse Pädagoge Jürg JeggeDummheit ist lernbar») wurde Jahrzehnte später von damaligen Handlungen eingeholt und damit in seiner Reputation schwer beschädigt, obwohl er sich offen erklärte und keinesfalls Fehlverhalten bestreiten oder beschönigen wollte.

Nun also Foucault. Der Rundruf von Tobler bei Foucault-Kennern, ein Gespräch mit Foucaults Lebensgefährten, ergibt keine brauchbaren zusätzlichen Indizien. Der Verursacher der ganzen Aufregung weigert sich, weitere Belege anzuführen, zum Beispiel eine Kopie des damaligen Einreisevisums in seinem Pass.

Typischer Fall einer Null-Story

Als Tamedia noch Wert auf Qualität legte, wäre das ein typischer Fall einer zu Tode recherchierten Geschichte gewesen. War nix, aber war den Versuch wert, macht nix. Das geht heutzutage natürlich nicht mehr, also muss Tobler über 13’000 Anschläge absondern, als hätte er den Auftrag gefasst, für die «Republik» ein ganz kurzes Stück zu schreiben.

Im Wesentlichen darüber, dass da nichts ist. Das erinnert an die vernichtende und völlig richtige Kritik meines Freundes Hugo Loetscher an einer meiner ersten Reportagen über Kuba. «Nimm’s mir nicht übel», sagte er, «aber das liest sich wie eine Beschreibung, wie jemand nicht an irgendwas rangekommen ist und sich furchtbar darüber beklagt.»

Ich war einen Moment tief beleidigt, musste ihm aber uneingeschränkt Recht geben. Gut, dass er mich davor bewahrte, mich öffentlich lächerlich zu machen. Aber solche Skrupel hat Tobler schon lange nicht mehr.

Nur fällt selbst ihm auf, dass er versuchen muss, eine Begründung für diesen Sermon von «da ist wohl nichts» zu geben. Aber woher nehmen, und nicht stehlen?

Man merkt den abschliessenden Zeilen überdeutlich an, dass sie nach ausführlichem Kopfkratzen und einem länger anhaltenden Schreibstau entstanden sind. «Man» (wer ist man?) halte es «doch für ratsam, Foucaults Theorien mit der Möglichkeit eines Missbrauchs zu konfrontieren – also auszutesten, ob diese Texte nicht etwas zuarbeiten, was abzulehnen wäre.

Und Foucaults Theorien allenfalls zu modifizieren, sowie durch eine Ethik zu ergänzen, an der Foucault in seinen letzten Lebensjahren zu arbeiten begann».

Man kann Foucault nur wünschen, dass ihm diese Leichenfledderei an seinem philosophischen Monument erspart bleibt. Seine Theorien «modifizieren»? Durch Tobler? Himmel, alle Postrukturalisten der Welt, alle, die Kant von Hegel unterscheiden können: eilt Foucault zu Hilfe, beschützt ihn. Das hat er wirklich nicht verdient.