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Birrerweich

Man soll keine Namensscherze machen. Aber …

Wenn Tamedia-Oberchefredaktorin Raphaela Birrer zum Leitartikel greift, gehen ihre Untergebenen in Deckung.

«13. AHV-Rente: Es braucht ein Nein zu diesem kurzsichtigen Populismus», donnerte Birrer am 19. Februar vor der Abstimmung. Mit durchaus richtigen Argumenten erläuterte sie die Position der Redaktion, die eine Ablehnung empfiehlt. Der Leitartikel provozierte über 1000 Kommentare; sehr viele davon waren nicht gerade schmeichelhaft.

Ein Müsterchen: «Weil Ihnen wirklich schlagende Argumente fehlen, unterstellen Sie den Befürwortern der 13. AHV-Rente Populismus, Egoismus und Kurzsichtigkeit. Es ist sehr bedenklich, wenn solche Äußerungen von der ganzen Tamedia-Redaktion getragen werden

Das rüttelte dann offenbar die Chefredaktorin gehörig durch und sie beeilte sich, zu erklären und zu besänftigen: «Wie unsere Redaktion vor Abstimmungen zu ihrer Position kommt». Das hat allerdings den erregten Leser nicht wirklich interessiert, obwohl Birrer behauptet: «Unter anderem stellte sich die Frage, wie wir zu unserer Positionierung kommen. Hier lesen Sie, wie

Dann wiederholt sie langfädig Langweiliges und Altbekanntes:

«Die Positionierung der Redaktion kommt vor jeder Abstimmung und zu jeder Vorlage jeweils im sogenannten Leitartikel zum Ausdruck. Der Leitartikel ist ein Meinungsstück. Er zeigt die Argumentation der schreibenden Person (im Fall der 13. AHV-Rente: der Chefredaktorin) und basiert auf dem vorgängig definierten Positionsbezug der Redaktion. In diesem Prozess hat die Chefredaktorin ein Vetorecht. Davon hat sie aber bei der 13. AHV-Rente nicht Gebrauch gemacht, weil ihre Meinung deckungsgleich mit jener der per Stimmabgabe demokratisch ermittelten Mehrheit der Redaktion ist.»

Gälte es hier, einen Schulaufsatz zu bewerten, womit dieses Erklärstück durchaus Ähnlichkeiten hat, würde die Bemerkung lauten: «Thema verfehlt.»

Besonders köstlich ist auch der Schluss. Das sei eine «im Schweizer Journalismus übliche Vorgehensweise». Denn schliesslich, nicht wir, die anderen auch: «So empfehlen etwa auch die NZZ oder sämtliche Medien des CH-Media-Verlags («St. Galler Tagblatt», «Aargauer Zeitung», «Luzerner Zeitung» usw.) Abstimmungsvorlagen zur Annahme oder zur Ablehnung.»

Ätsch, machen doch alle, eigentlich, also reg dich wieder ab, Tamedia-Leser. Nur hat der sich gar nicht über dieses Prozedere aufgeregt und will Tamedia oder seiner Oberchefredaktorin auch nicht untersagen, bei einer Abstimmung Stellung zu beziehen. Die lautet angesichts der binären Ausgangslage halt ja oder nein (oder allenfalls Enthaltung).

Was den Leser zum Kochen brachte, war der Keulentitel, den Birrer in ihrem Rechtfertigungsstück wohlweislich nicht mal erwähnt. Daher nochmal in aller Hässlichkeit: «Es braucht ein Nein zu diesem kurzsichtigen Populismus». Dadurch fühlten sich nun zahlreiche Leser auf den Schlips getreten (ja, gilt auch für Frauen, Quere, Nonbinäre, Hybride und insbesondere Kim).

Auch mit diesem nachgeschobenen Stück sammelt Birrer nicht bei allen Kommentatoren Punkte: «In dieser Frage hat Frau Birrer oder der Tagi Kampagnenjournalismus betrieben. … Die Stellungnahme war absolut verantwortungslos von der Tagi-Redaktion. … Es ist offensichtlich nicht ganz so einfach, einen anständigen Journalismus zu praktizieren.»

Natürlich gibt es auch vereinzelt Lob für diese klare Haltung. Was hier aber mal wieder schmerzlich an den Tag tritt: irgendwie nimmt in der Chefetage bei Tamedia die Dünnhäutigkeit zu. Arthur Rutishauser holzt gegen «Roger Köppel, der letzte Freund Putins», Birrer beschimpft die Befürworter einer 13. AHV-Rente (darunter wohl mindestens die Hälfte der Tagi-Leser) als kurzsichtige Populisten, Pietro Supino entsetzt sich coram publico über einen Artikel, der von allen anderen Instanzen, inkl. Recherchedesk, als korrekt und tadellos gesehen wird – und sorgt für seine «Depublizierung» also Löschung. Obwohl nicht mal die Direktbetroffenen eine Gegendarstellung oder Löschung verlangt hatten. Irgendwas ist da faul im Staate Coninx.

Während im Fall des gespülten Artikels wieder viel die Rede von Qualitätsmassstäben ist, scheinen die für die Oberchefredaktorin nicht zu gelten. Aber immerhin, sie meldet sich gelegentlich (wenn auch viel seltener als alle ihre Kollegen) zu Wort. Die zweite Quotenfrau in der Chefredaktion bleibt völlig unsichtbar, abgesehen von Ferien-, Ess- oder Lift-Selfies.

Die wenigen noch verbliebenen Qualitätsjournalisten erleben einen Leidensweg bis zur nächsten Sparrunde, der ihnen die Entlassung wohl als Erlösung erscheinen lässt. Und wie meist kümmert sich Supino um irgend einen Pipifax, während sein gravierendes Problem, eine Oberchefredaktorin, die birreweiche Kommentare schreibt, seiner Aufmerksamkeit entgeht.