Älteste Redaktorin der Schweiz ist tot
Leny Wyss-Steinmann (104) ist vor wenigen Tagen friedlich verstorben.
Die in Buchs bei Aarau aufgewachsene ehemalige AZ-Redaktorin verantwortete 1940 die Beilage «Die Welt der Frau» der damaligen «Neuen Aargauer Zeitung».
1916, also zwei Jahre vor Ausbruch der Spanischen Grippe, kommt Helena Steinmann in Aarau zur Welt. Zwei Jahre später hilft ihre Mutter Rosa Steinmann im Kampf gegen die grassierende Spanische Grippe als Freiwillige. Sie pflegt kranke Soldaten und begibt sich dadurch selber in Gefahr. Doch Mutter wie auch Tochter kommen davon, im Gegensatz zu etwa 25000 meist jungen Soldaten, , die allein in der Schweiz an jenem Grippevirus sterben.
Eigenheim für 30000 Franken
Die schon seit früher Kindheit «Leny» genannte Tochter wächst zusammen mit ihrem Bruder Erwin, heute 97-jährig, in Buchs bei Aarau auf. Vater Robert arbeitet fast sein ganzes Berufsleben als Kondukteur bei den SBB. Er trat dem Unternehmen 1908 bei, sechs Jahre nach der grossen Bahnenfusion. 1930 baut die junge Familie trotz kargem Lohn ein Eigenheim an der Jakob-Bächli-Strasse. Man ist so sparsam, dass man die 4500 Franken für die 900 Quadratmeter Land bar bezahlen kann. Der Quadratmeterpreis beträgt 1930 lediglich 5 Franken, das heute noch stehende Zweifamilienhaus kostete 30’000 Franken.
Handelsdiplom an der alten Kanti
Leny durchläuft ohne Mühe die Bezirksschule und macht das Handelsdiplom an der alten Kantonsschule Aarau. Das war damals für das weibliche Geschlecht eine grosse Ausnahme. Dann folgt der Master, wie man das heute bezeichnen würde, als Hauswirtschafterin. In den 1930er Jahren hiess das noch Hausbeamtin. Dank diesen vielschichtigen Kenntnissen kommt sie zu einem für jene Zeit höchst ungewöhnlichen Job: Redaktorin bei der «Neuen Aargauer Zeitung». Die wöchentliche Beilage nennt sich «Die Welt der Frau». Dabei sind nicht nur Kochrezepte und Haushaltipps die Inhalte. Im Gegenteil: Oft schneidet Leny Steinmann kontroverse Themen an: «In jede Schulpflege eine Mutter», «Debatte über das Frauenstimmrecht», «Reicht unsere Kraft als Frauen aus?», sowie «Die Frauenrechtlerin hat das Wort». Die Artikel zeigen, wie kämpferisch und selbstbewusst Leny Steinmann schon damals agierte.
Die Artikel lesen sich heute noch flüssig und spannend. Steht am Anfang im Impressum noch Frl. Leny Steinmann, heisst es später: Verantwortlich für die Seite: L. Steinmann. Das ist darum bemerkenswert, weil so das Geschlecht der Autorin nicht mehr erkennbar ist. Der Grund ist nicht mehr klar. Der eine oder andere bissige Kommentar gab’s sicher, etwa: «Auf so ein Frauenzimmer haben wir gerade erst gewartet» oder «das geht auch nur, weil alle Männer im Aktivdienst sind». Leny Wyss-Steinmann, wie die Redaktorin seit ihrer Heirat 1942 heisst, weiss lediglich noch, dass sie weit und breit die einzige Frau auf der Redaktion war. Weil sie wenige Wochen vor ihrem Tod noch ihren 104. Geburtstag feierte, war sie wohl die älteste noch lebende Redaktorin – zumindest in der Schweiz.
Die Liebe in Höngg gefunden
Dass Leny die Redaktorenstelle kündigte, hatte nichts mit dem Zweiten Weltkrieg zu tun. Bei einem Nebenjob in einem Restaurant in Zürich-Höngg lernte sie den jungen, attraktiven Maschineningenieur Franz Wyss aus Winterthur kennen. Die Liebe schlug sofort ein und 1942 wurde geheiratet.
Weil Peter – so wurde er umgänglich genannt – Wyss einen guten Job hatte und später die Betriebsleitung der Aluminiumwerke in Chippis im Wallis übernehmen konnte, zügelte man nach Sierre. Ganze 73 Jahre sollte Leny Wyss, wie sie nun hiess, in dieser Wohnung bleiben.
2014 näher zur Tochter
Zurück in den Journalismus war für Leny keine Option. Das damals übliche Familienmodell und eine überschaubare Medienlandschaft im Wallis waren Gründe dafür. Zudem war es damals so, dass es beim Staat und bei grösseren Firmen sogar verboten war, dass Ehefrauen einen eigenen Verdienst hatten. Diese Regeln galten bis etwa 1975.
Das Interesse für die Politik, die Kunst und Literatur blieb aber stets im Mittelpunkt. Nach dem Tod des Ehemanns vor 20 Jahren lebte Leny Wyss noch bis 2014 in Sierre. Erst vor sechs Jahren, als ein Augenleiden immer schlimmer wurde, zog sie nach Zürich ins Blindenwohnheim Mühlehalde, keinen Kilometer vom Wohnort ihrer Tochter Christine entfernt. Weil das Lesen immer mühsamer wurde, hörte Leny Wyss viel Radio. Besonders angetan hatte es ihr neben Hörbüchern das Echo der Zeit. Diese Sendung gibt es seit 1945. Schon fünf Jahre vorher war Leny Wyss bei der Aargauer Zeitung tätig. Jetzt ist ihre Stimme für immer verstummt.