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Gewichten und einordnen

Zusammen mit Analyse der Dreischritt von Qualitätsmedien.

Was beschäftigt den Mainstream zurzeit? Drei grosse Wellenberge türmen sich auf. Zunächst und zuvorderst natürlich: die Queen. Sie ist die Königin der Schlagzeilen, der Sondersendungen, der schwarz gekleideten Moderatoren.

Jeder, der Buckingham-Palast ohne zu stottern sagen kann, wird als «britischer Monarchiekenner», als «englischer Adelsspezialst», als Biograph der Corgys der Queen, als ehemaliger Türöffner von König Charles III., als Nachttopfleerer des verblichenen Prinz Philip interviewt. Oder darf gleich selbst einen Auszug aus seinem demnächst erscheinenden Buch präsentieren: «Als die Queen «oh, really?» zu mir sagte».

Dann haben sich die Qualitätsmedien immer noch nicht ganz vom Rücktritt von «Maestro» Roger Federer erholt. Denn noch hat nicht der letzte Journalist seine Begegnung mit dem Tennis-Gott «Als Roger «alles Roger» zu mir sagte» verarbeitet und veröffentlicht. Auch die Rolle seiner Frau, seiner Familie, die Bedeutung der überteuerten Sportschuh-Marke, die exorbitanten Gehälter des Managements, der kurvige Verlauf der Aktie, der persönliche Kleiderstil, sein Leben in Bildern, all das ergiesst sich weiterhin ungebremst über den Leser.

Schliesslich die Ukraine. Der «News-Ticker»! Die Offensive! Nimm das, Putin. Kann sich die Ukraine vom russischen Joch befreien? Wird die Krim zurückerobert? Wankt der Kreml-Herrscher? Rollen deutsche Panzer wieder durch die Ukraine? Kann die Schweiz länger abseits stehen? Auch hier stürmen unablässig Fragen ohne Antworten auf die Leser ein.

Bleibt da noch Platz für Wichtiges? Ach ja, Stromsparen. «Kantone planen Solarzwang für alle Hausbesitzer». «Grünen-Nationalrätin fordert Klima-Steuer für Reiche». Stromverschwendung, wann lesen wir endlich von «Strom-Frevlern» und «Energie-Sündern»? Wann wird die Nachbarschaftskontrolle institutionalisiert? Wann gibt es Wettbewerbe im Energie-Sparen (mit tollen Preisen)?

Gäbe es wirklich Wichtiges? Nun ja, da gibt es zum Beispiel die eher kleine Meldung, dass die Schweizerische Nationalbank eine erneute Anhebung des Leitzinses ins Auge fasst. Dass der Weich-Euro weiter das Loch runtergeht. Kein Wunder, bei der Inflation im Euro-Raum und den deutlich höheren Zinsen im Dollar-Bereich in den USA.

Das könnte den Leser durchaus an einem empfindlichen Körperteil treffen, seinem Portemonnaie. Da bräuchte er Orientierung und Hilfe. Aber das setzte voraus, dass in den Redaktionen gewichtet, eingeordnet und analysiert würde. Nur: von wem, und womit?

Zinserhöhung! Auf minus 0,25 %!

Die Schweizerische Nationalbank (SNB) verkündete eine Veränderung beim Leitzins.

Der steigt um ein halbes Prozent. Auf minus 0,25. Versteht das einer?

«Wir haben uns für eine Zinserhöhung von einem halben Prozentpunkt entschieden, weil es inzwischen Anzeichen dafür gibt, dass die Inflation auch auf Waren und Dienstleistungen übergreift, die nicht direkt vom Krieg in der Ukraine und den Pandemiefolgen betroffen sind», erklärte SNB-Präsident Thomas Jordan auf einer Pressekonferenz.

Was heisst das? Zum ersten Mal seit vielen Jahren zieht die SNB die Zinsschraube etwas an. 2015 senkte sie den Leitzins auf – 0,75 Prozent, gleichzeitig mit der Aufhebung des Mindestkurses für den Schweizer Franken gegenüber dem Euro.

Der sogenannte Leitzins wird von der Notenbank in ihrem Währungsraum festgelegt. Er bestimmt, zu welchem Zinssatz sich Geschäftsbanken bei der Nationalbank Geld leihen können. Damit ist er die Stellschraube, die das allgemeine Zinsniveau reguliert.

Die Qualitätsmedien wurden davon auch auf dem falschen Fuss erwischt und trauen sich erst mit ganz, ganz vorsichtigen Kommentaren aus der Deckung: «Damit ist die Zeit der rekordtiefen Zinsen in der Schweiz Geschichte», meint der «Blick». «Expertinnen und Experten ordnen ein», so zieht sich Tamedia aus der Bredouille. CH Media verkneift sich zunächst jeden Kommentar, man könnte ja mangelndes Wissen offenbaren. Die NZZ schlüpft hingegen in ihre Lieblingsrolle: Zensuren verteilen. Diesmal ist sie gnädig; «Zinserhöhung der SNB: richtig und wichtig». «watson» hingegen belässt es, wie viele andere Medien auch, bei einem Zusammenschrieb der Tickermeldungen von SDA und awp. Ziemlich blumig reagiert cash.ch: «Damoklesschwert von SNB-Verkäufen sendet Schockwellen durch den europäischen Anleihemarkt». Ein Schwert sendet Schockwellen? «Finanz und Wirtschaft» lässt es ebenfalls bei einer Meinungsumfrage bewenden: «Stimmen zum SNB-Entscheid». Die «Handelszeitung» schliesslich lässt den Mantel der Geschichte flattern: «Ein Zinsschritt für die Geschichtsbücher».

Aber all diese Qualitätsmedien sind nicht in der Lage, die offenkundigen Hintergründe und Zusammenhänge den Lesern zu erklären.

Eine Veränderung des Leitzinses hat meistens vielfältige Auswirkungen. Normalerweise tauchen die Börsen und festverzinsliche Wertpapiere steigen. Sind die Zinsen in einem Währungsraum höher als in anderen, steigt dessen Attraktivität, konkret werden Franken gekauft, der Kurs steigt.

Eine Erhöhung des Leitzinses bedeutet aber nicht unbedingt, dass nun der Sparer, der Gläubiger mehr Geld verdient an seinen gewährten Krediten. Das hängt nicht nur vom Zinsertrag ab, sondern von dem Ertrag, der nach Abzug der Inflation übrig bleibt. Kassiert der Geldverleiher zum Beispiel 5 Prozent Zinsen, während die Inflation 10 Prozent beträgt, gewinnt er nichts, sondern verliert 5 Prozent.

Zinsen als Steuermechanismus für die Inflation

Noch brutaler ist das im Fall von Negativzinsen. Hier muss der Gläubiger dafür bezahlen, dass er sein Geld verleihen darf, der Schuldner bekommt Geld dafür, dass er einen Kredit aufnimmt. Das ist Zinsen pervers, die Aufhebung der Schwerkraft in der Geldpolitik.

Zinsen haben zudem eine zentrale Bedeutung bei der Steuerung der Inflation. Steigt die Inflation, also die Geldentwertung, deutlich an, dann wird das normalerweise mit einer deutlichen Zinserhöhung bekämpft. Beträgt die Inflation zum Beispiel 5 Prozent, der Zinsertrag 10 Prozent, dann lässt der Gläubiger sein Geld liegen und freut sich über den Ertrag. Ist es umgekehrt, dann ist der Gläubiger versucht, sein Geld so schnell wie möglich beispielsweise mit Konsum auszugeben. Denn wenn er einen Kauf auf morgen verschiebt, kann das Produkt bereits teurer sein, bzw. sein Geld ist weniger wert.

Dadurch wird natürlich die Preisspirale in Bewegung gesetzt, denn das einzige unangefochten gültige Prinzip in der Wirtschaftswelt lautet: bei steigender Nachfrage steigen die Preise.

Man darf sich da auch von zweistelligen Zahlen nicht beunruhigen lassen. In den 80er-Jahren gab es Zeiten, als die Inflation in den USA zweistellig war – und der Leitzins ebenfalls. Damit wurde sie dann wieder auf ein normales Mass von rund 2 Prozent zurückgeführt.

Nun beträgt aber die gefühlte und wohl reale Inflation in der Schweiz bereits über 6 Prozent. Das liegt auch daran, dass im offiziellen Warenkorb, der zur Messung der Inflation benützt wird, bedeutende Kostenfaktoren wie Immobilien oder Versicherungen (Krankenkasse) gar nicht inbegriffen sind.

Damit steht die Schweiz auch nicht alleine da; in der Euro-Zone wie auch in der Dollar-Welt steigt die Inflationsrate. In den USA über 8 Prozent, in einigen EU-Ländern ist sie bereits zweistellig.

Ist also die Anhebung des Leitzinses von – 0,75 auf – 0,25 eine wirksame Massnahme oder ein Tropfen auf den heissen Stein? Die Frage kann sich angesichts der aktuellen Inflation in der Schweiz jeder Laie selbst beantworten.

Wieso kein kräftiger Zinsschritt nach oben?

Was zur interessanten Frage führt, wieso denn die jeweiligen Nationalbanken, also die EZB im Euroraum und das FED im Dollar die Zinsen nicht viel kräftiger heraufsetzt, von der SNB ganz zu schweigen. Ging doch früher auch.

Ging früher, weil damals die Staaten noch nicht bis über beide Ohren oder bis zur Höhe des BIP, also von aller Wertschöpfung eines Jahres, verschuldet waren. Wenn ein Staat für die Neuaufnahme von 100 Milliarden keine oder Pipifax-Zinsen zahlen muss, dann macht er das natürlich mit lockerer Hand; ein Grund findet sich immer. Nach den Finanz- und Eurokrisen, der Griechenland-Krise, der Corona-Krise ist es aktuell die Ukraine-Krise.

Die Schuldendienste insgeamt machen aber bereits heute einen der wichtigsten Posten im Staatshaushalt aus – dabei haben wir faktisch Nullzinsen. Nun stelle man sich vor, was mit einem heute schon am Rande des Bankrotts wankenden Staat passiert, wenn der zur Refinanzierung seiner Schulden neu 2 oder 5 Prozent Zinsen zahlen müsste. Denn dorthin müssten die Leitzinsen mindestens, um die Inflation wirksam zu bekämpfen.

Das geht aber nicht, weil dann Industriestaaten reihenweise Default erklären müssten, weniger vornehm gesagt: Staatsbankrott. Das wäre nicht einmal ein Weltuntergang, denn danach ist der Staat seine Schulden los. Allerdings sind alle Gläubiger, Sparer und Empfänger von Sozialleistungen wie Renten gekniffen.

Und was geht das alles den Leser an? Endlich die ersten warmen Tage, die Sommerferien sind in Reichweite, die Ferien gebucht, und wenn es Skyguide will, hebt der Flieger auch ab. Soll man sich da die Laune verderben lassen?

Börsencrash, galoppierende Inflation, Rezession, sind die Renten noch sicher? Bleibt vom Ersparten noch was übrig? Leider ist die einzig verantwortungsvolle Antwort: unklar. Und lassen Sie sich von Ihrem Bankberater nicht das Gegenteil erzählen.